Dieweil nun aber der Bundeskanzler rhetorisch leider ausfällt, vom Bundespräsidenten seit längerem nichts Wegweisendes mehr zu hören ist und der Bundestrainer auch nicht mit Geistesblitzen glänzt, müssen andere ran. Eine tolle Chance für den Oppositionsführer! Friedrich Merz wäre nicht Friedrich Merz, ließe er diese Gelegenheit zur Profilierung links liegen, nee, auf den Mann ist Verlass. Pünktlich zum Fest hat der CDU-Chef den Kauf eines Weihnachtsbaums mit höchsten Weihen geadelt: „Wenn wir von Leitkultur sprechen, von unserer Art zu leben, dann gehört für mich dazu, vor Weihnachten einen Weihnachtsbaum zu kaufen“, stellte er in einem Interview klar. Einem Kollegen sind fast die Kugeln von der Tanne gefallen, als er das gehört hat.
Dabei ist dieser Satz ein genialer Schachzug –
und zugleich eine Einladung an die gesamte Bevölkerung:
Weil die CDU-Spitzen zwar die Forderung nach einer „Leitkultur“ in ihr neues Grundsatzprogramm hineingeschrieben haben, aber selbst Tage später immer noch nicht erklären können, was sie damit eigentlich meinen, denkt sich der Chef nun höchstpersönlich etwas aus und setzt damit kreative Maßstäbe. Ob dabei ganze Bevölkerungsgruppen von Deutschen ausgeschlossen werden – Atheisten, Muslime, Juden, Weihnachtsmuffel zum Beispiel – spielt keine Rolle. In schwierigen Zeiten ist klare Kante gefragt, sonst wird das nix mit der nationalen Selbstbesinnung.
Zugleich aber lässt die Merz’sche Kulturdefinition so viel Spielraum,
dass jeder Berufene sie durch eigene Einfälle ergänzen kann
Wie aus der CDU-Zentrale zu hören sein soll, plant man dort, auch den Rauschgoldengel, den Kartoffelsalat mit Wienerlen und das Lied „Stille Nacht“ (aber langsam intoniert!) in den Stand der Leitkultur zu erheben.
Wer derlei nicht mag, ist künftig raus. Angeblich arbeiten findige Geister bereits an Leitanträgen, wie Kulturverächter wahlweise mit höheren Steuern, einer Zwangsmitgliedschaft in der CDU oder der Dauerbeschallung mit Friedrich-Merz-Reden bestraft werden können. Der Kreativität sind auch hier keine Grenzen gesetzt.
Kulturfragen sind Schicksalsfragen, da darf man keine kleinen Brötchen backen
Der emsige CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann wird deshalb sicherlich zum neuen Jahr eine weitere Grundsatzkommission einberufen, die Vorschläge für gesetzlich zu verankernde Leitkulturregeln erarbeitet. Die kann die Union dann bundesweit einführen, sobald sie wieder an die Macht kommt. Ganz vorn in diesem Regelwerk – so viel ist klar – werden die unantastbare Würde des Menschen, der Rechtsstaat, die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Gleichheit von Männern und Frauen stehen. Die Glaubens-, Meinungs-, Kunst-, Wissenschafts- und Demonstrationsfreiheit kommen hinzu.
Über all diese wichtigen Prinzipien
wird man in der CDU lang und breit diskutieren
Man wird Für und Wider abwägen und am Ende zu dem Schluss kommen, dass es all das unbedingt braucht, um den Wesenskern des deutschen Staates zu erhalten. Vielleicht wird dann irgendein Referent von Herrn Merz auf den Gedanken kommen, mal das Grundgesetz aufzuschlagen, wo all das und noch viel mehr seit 74 Jahren exakt so drinsteht. Und dann wird man den Kokolores mit der Leitkultur hoffentlich ad acta legen.
Weihnachten ist die einzige Pause
Dazu möchte ich gerne folgendes sagen: Lieber, guter Weihnachtsmerz, ich will auch immer artig sein! Aber bitte verfritz uns nicht auch noch das Fest der Familie! Gib uns diese kurze Zeit ein bisschen Frieden vom Kulturkampf! Weihnachten ist nur einmal im Jahr. Wir haben nur diese paar Tage Pause von Krieg und Tod und Teufel, von rinks und von lechts und von hin und her und „die“ und „wir“. Halt unseren schönen Weihnachtsbaum da raus!
Da hänge ich die abgewetzten Strohsterne dran, die schon meine Mama früher rausgeholt hat. Da stehen dann Kinder davor und schaffen es kaum, ein Gedicht aufzusagen, weil sie ran an die Geschenke wollen. Und um den Baum herum wird falsch und laut gesungen und zu viel gegessen. Und ganz spät, wenn die Kleinen schlafen, die Küche aufgeräumt ist und sich die Weihnachtsgans langsam setzt, dann mache ich es mir Freunden auf der Couch gemütlich und gucke diesen Baum an. Er ist Teil meiner Kultur, meiner Identität. Mein Baum gehört mir!
Und bei aller Heimatliebe: Du schmückst mir den nicht um! Wenn ich meine Christbaumkugeln schwarz-rot-golden anmalen möchte, dann mach ich das selber. Eigenverantwortung, du weißt schon! Denn mein Baum hat absolut nichts damit zu tun, wer „wir“ sind (wer ist eigentlich „wir“?) und wonach sich „die“ (wer sind eigentlich „die“?) gefälligst zu richten haben. Wir und ich lieben diesen Baum. Wie er ist. Solange mir keiner verbietet ihn aufzustellen, muss sich von mir aus umgekehrt auch keiner zum Weihnachtsbaum bekennen oder einen kaufen. Meinen Baum (oder auch der, den andere nicht brauchen) macht Ihr nicht zum Teil Eurer Identitätsdebatte, lieber Fritzolaus.
So finden wir in Deutschland nicht zusammen
Im Ernst: Was wollen wir denn noch alles ideologisch aufblasen? Rauhaardackel? Draußen nur Kännchen? Oder, nicht böse gemeint, Kartoffelsalat? (Wissen Sie eigentlich, was „typisch deutsch“ sein soll? Dann gerne hier entlang). So wie wir diese Diskussion darum führen, was uns in Deutschland ausmacht, finden wir nicht zusammen. Müssten wir aber. Wer künftig zu uns kommt und uns willkommen sein will, der muss Dinge achten, die „uns“ wichtig sind. Keine Frage.
Ich habe für mich – Stand jetzt, zu Weihnachten 2023 – dazu kein festes Konzept. Freiheit, irgendwie. Anpacken, wahrscheinlich. Sich an Regeln halten, auf jeden Fall. Mitmachen, bitte. In diese Richtung müsste es gehen. Daraus könnte ein Konzept werden. Ob man das „deutsche Leitkultur“ nennen muss: Ich weiß es nicht. Aber darüber nachdenken müssen wir. Damit die wissen, die zu uns kommen, was wir von ihnen erwarten.
Wenn wir diesen Gedanken vergartenzwergen, indem wir abgesägtes Nadelgehölz zum Maßstab unserer Identitätsbindung machen, dann kommen wir nicht weiter. Im Gegenteil. Jetzt zoffen sie sich in den sozialen Medien ernsthaft, ob der Baum zu Deutschland gehört. Und sie beschimpfen sich. Absurd.
Geht es Merz nur um Aufmerksamkeit?
Oder ging’s am Ende gar nicht darum, den Weihnachtsbaum zu verteidigen? Sondern nur um eine schmissige Zeile? Um einen Moment vorweihnachtlicher Aufmerksamkeit? Musste in einer Zeit, in der die „Stille Nacht“ leise dämmert, jemand impulsiv ganz laut „Das wird man ja wohl auch noch gesagt haben dürfen“. Oder schreien? Und jetzt alle schreien zurück? Ich auch, mit diesem Text, ich weiß.
Hätte ich noch einen richtigen Wunschzettel und nicht nur diese Liste mit Dingen, die ich mir wirklich nicht mehr wünsche, ich würde eine große Rede zu Weihnachten ganz oben hin schreiben. Von einem unserer Politiker. Meinetwegen Friedrich Merz. Mit einer Idee, einem Impuls, wer wir Menschen in Deutschland sein wollen. Was uns verbindet. Was wir verteidigen wollen. Was uns zusammenrücken lässt. Das wäre fast eine Ruck-Rede! Bekommen werde ich offenbar nur diese morsche Baumdebatte. Alle Jahre wieder. Eine Weihnachtspredigt wie ein bei Wish bestellter Nasentrimmer.