Diesen „Ruck“ hat das Jahr 2023 in aller Drastik gezeigt. Und die Lage wird sich voraussichtlich 2024 dramatisch zuspitzen, wenn gewichtige Wahlen anstehen. Die äusserste politische Rechte in Deutschland arbeitet an der Unterminierung der Demokratie auf pseudodemokratischem Weg – und es gibt leider Anlass zur Befürchtung, dass sie dabei weitere Geländegewinne verzeichnen wird, wenn nicht die demokratischen Kräfte entschlossener dagegenhalten als bisher.
Seit diesem Jahr stellt die rechtsextreme AfD erstmals einen Bürgermeister und einen Landrat. Im Thüringer Landtag setzte die oppositionelle CDU erstmals bei einer wichtigen Abstimmung auf die Stimmen der Rechtsextremen, um ein Gesetz gegen die linke Landesregierung durchzusetzen. In Umfragen steht die AfD derzeit bundesweit bei etwa 20 Prozent: Das ist doppelt so viel, als bei den letzten Bundestagswahlen 2021. Schon dies macht deutlich: Das alte Selbstberuhigungsnarrativ, dass …
die AfD nur im Osten (und bei einer älteren Klientel) auf solche Werte kommen könne, ist passé.
Ohnehin ist seit diesem Herbst bereits amtlich, wie weit sich die Verhältnisse auch in den alten Bundesländern nach rechts verschoben haben. Die Landtagswahlen in Bayern und Hessen haben gezeigt, dass die AfD auch bei jungen Menschen in Westdeutschland erheblich punkten kann. In Hessen kamen die Rechtsextremen auf 18 Prozent, in Bayern auf 15 Prozent. Dort konkurrierte die AfD im rechten Lager mit der CSU (37 Prozent) und den Freien Wählern von Hubert Aiwanger (16 Prozent). Und 80 Prozent der AfD-Wähler in Deutschland sagen über ihre Partei, es sei ihnen «egal, dass sie in Teilen als rechtsextrem gilt, solange sie die richtigen Themen anspricht». Nicht zuletzt durch soziale Medienplattformen wie Tiktok mobilisiert die rechte Agitation auch die Jungen und damit Menschen aller Altersgruppen.
Nach den Wahlerfolgen von 2023 hofft Rechtsaussen
bereits auf eine Fortsetzung 2024.
Im Juni finden die Wahlen des Europäischen Parlaments statt. In allen ostdeutschen Bundesländern sowie in Baden-Württemberg, Hamburg, Rheinland-Pfalz und im Saarland werden kommunale Parlamente gewählt. In den ostdeutschen Bundesländern Brandenburg, Sachsen und Thüringen sind im September 2024 Landtagswahlen: Ausgerechnet dort, wo der besonders extremistische, völkisch-sozial-nationalistische Flügel um Hardliner wie Björn Höcke, Birgit Bessin und Jörg Urban dominiert, jagt die Partei in Umfragen Rekorden hinterher und ist derzeit in den Prognosen mit über 30 Prozent stärkste Kraft.
Wenn der gegenwärtige Trend anhält, wird die äusserste Rechte stärker denn je in den Bundestagswahlkampf 2025 eintreten. Um die Demokratie zu schützen, rückt mittlerweile bereits ein AfD-Verbots-Verfahren in den Bereich des Möglichen.
Denn die AfD ist nur das sichtbarste Zeichen für einen Rechtsruck in Deutschland. Getrieben von den Umfragewerten der Rechtsextremen, sind weite Teile der Politik insgesamt nach rechts gerückt. Was also genau hat sich 2023 verschoben? Was steht auf dem Spiel? Und wie liesse sich gegensteuern?
Eine Bestandesaufnahme in sechs Schritten
Und sechs konkrete Gegenmassnahmen
Weil das Wahljahr 2024 Ostdeutschland speziell in den Fokus bringt und weil die Radikalisierung im Osten vielerorts besonders weit fortgeschritten ist, muss die Analyse zunächst dort beginnen.
Das politische Geschehen in den östlichen Bundesländern hatte zuletzt immer auch beträchtlichen Einfluss auf die personelle und programmatische Aufstellung der Bundesparteien. Das Zusammenwirken von AfD, FDP und CDU bei den Wahlen des Thüringer Kurzzeitministerpräsidenten Thomas Kemmerich (FDP) 2020 stürzte die damalige CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer.
Ob CDU-Chef Friedrich Merz, einst Hoffnungsträger der rechten Mitte für die Einhegung der AfD, die kommenden Ostwahlen politisch überleben kann, ist fraglich. Unter ihm, der mit rechten Äusserungen polarisiert und die CDU als «Alternative mit Substanz» darstellt, erodiert in der CDU die Abgrenzung nach rechts aussen. Davon profitiert Rechtsaussen in der Normalisierung ihres Neofaschismus (der rechtsextreme Vordenker Götz Kubitschek spricht auf rechten Plattformen von «Normalisierungspatriotismus»).
Die Wahlen des ersten von der AfD gestellten hauptamtlichen Landrats in Sonneberg (Thüringen) und des ersten hauptamtlichen Bürgermeisters in Raguhn-Jessnitz (Sachsen-Anhalt) in diesem Jahr waren für die Rechten symbolisch wichtige Zwischenschritte auf dem Weg zur lokal verankerten völkischen Volkspartei. Beide Amtsträger werden als Kronzeugen für die angebliche Regierungsfähigkeit der Partei im kommenden Jahr in den Wahlkämpfen viel zu tun haben.
Wobei AfD-Bürgermeister Hannes Loth in Raguhn-Jessnitz nun die Kita-Gebühren um 60 Prozent erhöht, anstatt seine Wahlversprechen nach kostenlosen Krippen und Kindergärten einzulösen, und Sonnebergs AfD-Landrat Robert Sesselmann mit seinem Vorhaben vorerst gescheitert ist, einem wichtigen Demokratieprojekt die Finanzierung zu entziehen.
Doch die Ohnmacht und eine gewisse Resignation vor dem Druck von rechts aussen ist in der demokratischen (Noch-)Mehrheit in Ostdeutschland überall zu spüren. Es scheint, als litten in der gegenwärtigen Vielfachkrise und unter rechtsextremem Dauerbeschuss grosse Teile der Zivilgesellschaft unter einem kollektiven Burn-out.
Gleichzeitig zeigten in diesem Jahr mehrere knappe kommunale Stichwahlen, bei denen die AfD jeweils unterlag, dass eine kommunalpolitische Siegesserie der äussersten Rechten keineswegs ausgemacht ist – wenn es der Zivilgesellschaft vor Ort gelingt, übergreifend Gegenkräfte zu aktivieren.
Dennoch bleibt ein Grundproblem, das im Osten der Republik bereits am deutlichsten sichtbar ist. Egal ob konservative Kräfte die Abgrenzung zu den Rechtsextremen weiter erodieren lassen oder ob Koalitionen aus zahlreichen demokratischen Parteien herhalten müssen, um der AfD den Zugang zu Regierungsmacht zu verstellen: Beide Szenarien spielen den Rechtsextremen langfristig in die Hände und gefährden notwendige Transformationen.
Wo die AfD Macht erhält, kann sie die Demokratie von oben demontieren und sozial-ökologische Projekte stoppen. Aber auch in Konstellationen, wo sie sich als einzige Oppositionspartei mit dem Nimbus einer Fundamentalopposition umgeben kann, könnte ihr Einfluss weiter wachsen.
Würde die AfD auf Landesebene mehr als ein Drittel der Stimmen erreichen, hätte sie damit eine Sperrgrösse für zentrale Entscheidungen: Änderungen der Landesverfassungen oder die Wahlen in wichtige Positionen wären dann nur noch mit der äussersten Rechten möglich. Die stärkste Partei erhebt traditionell auch Anspruch auf den Posten der Ministerpräsidentin – auch dies ein aktuell realistisches Szenario in ostdeutschen Landtagen.
Was heisst das alles für die konservative CDU?
An der Basis gibt es Unionsmitglieder, für die «Brandmauer» nur ein Medienbegriff aus dem fernen Berlin ist – und die ungeachtet der Parteibeschlüsse ihr eigenes Ding durchziehen. Die CDU steckt gleich mehrfach in einem Dilemma: Ohne eine zukunftsweisende eigene Programmatik verlocken die Töne des rechtspopulistischen Kulturkampfes, wie er sich im Sommer äusserte, als führende CDU-Politiker mit Begriffen wie «Heizungs-Stasi» Stimmung gegen das Gebäudeenergiegesetz der Ampelregierung machten.
Die Union will sich insbesondere von den Grünen abgrenzen und fischt dabei mitunter in braunen Gewässern. Denn die Grünen wurden von AfD und der «Neuen Rechten» insgesamt bereits als Hauptfeind markiert, als Markus Söder (CSU) noch Bäume umarmte. Und während der mediale Aufschrei gross ist, wenn AfD und CDU im thüringischen Landtag gemeinsam abstimmen, ist das in manchen Kommunalparlamenten längst Normalität.
In solchen Dilemmasituationen haben sich bürgerlich-konservative Parteien in anderen Ländern längst nach rechts radikalisiert oder bedeutungslos gemacht. Die Optionen der CDU sind beschränkt, denn auch Koalitionen mit der Linkspartei sind durch die Bundespartei untersagt. Es ist also nicht vollkommen undenkbar, dass es auf die eine oder andere Art früher oder später zu Kooperationen zwischen AfD und CDU kommen könnte: indem die AfD eine Minderheitsregierung toleriert; oder gar – was die Union bislang auch unter Merz kategorisch ausschliesst – durch eine gemeinsame Koalition.
Jedoch stünden für die CDU nicht nur ihre Glaubwürdigkeit und ihr Profil als Rechtsstaatspartei auf dem Spiel, wenn sie mit der AfD zusammenarbeitete, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Die AfD will nicht weniger, als die CDU zu zerstören – daran lässt ihr Spitzenkandidat für die Europawahl, Maximilian Krah, keinen Zweifel.
Auch wenn der Verfassungsschutz mit seiner jüngsten Entscheidung zu Sachsen nun schon den dritten Landesverband der AfD als gesichert rechtsextremistisch eingestuft hat: Angst vor dem Inlandgeheimdienst hat die AfD nicht mehr. Ihre Kooperationen mit Neonazis, staatsfeindlichen Reichsbürgerinnen und Überschneidungen zum rechtsterroristischen Untergrund sind gut dokumentiert, empören aber immer weniger. Währenddessen versuchen die Rechten, ganz nach dem Vorbild Donald Trumps, die Polarisierung weiter voranzutreiben. Die Botschaft lautet: Wir werden von denen angegriffen, weil wir für euch einstehen. Auf Telegram heisst es auf dem Kanal von Björn Höcke: «Vergesst nicht: Sie sind gegen Höcke, weil er für euch ist! 2024 wird unser Jahr.»
2. Der Rechtsruck der «Mitte»
«Polykrise» lautet eines der Schlagwörter, wenn es um das Lebensgefühl der letzten Jahre geht. Die Vielzahl der Grosskrisen, die sich abwechseln oder parallel laufen, bestimmen für viele Bürger das Alltagsgefühl von dauerhaftem Krisenzustand.
In dieser Atmosphäre wächst bei vielen das Bedürfnis nach Sicherheit, Orientierung und Halt in der nationalen Gemeinschaft. Die Ampelregierung hat es in einer schwierigen Zeit und gegen massiven Widerstand zwar geschafft, die Energiekrise einzuhegen und Modernisierungsprozesse anzustossen. Gleichzeitig aber hat sie, im ständigen Streit miteinander, Verunsicherungen vergrössert. Und Kanzler Olaf Scholz (SPD) kann oder will die Erwartungen nach Führungsstärke bisher nicht offensiv einlösen – schon gar nicht für progressive Anliegen. Ausgerechnet im rechten Kernthema der Forderung nach mehr Abschiebungen preschte er nun nach vorn.
Mit anderen Worten: In der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik haben die demokratischen Parteien in Deutschland zuletzt ihre Segel dem rechten Wind angepasst.
Der deutsche Kurs steht auf stärkerer Abschottung, Law and Order, mehr Abschiebungen; darauf, das individuelle Recht auf Asyl infrage zu stellen, Leistungen zu kürzen und mit Diktaturen zu kooperieren. Damit einher geht eine zunehmende Entsolidarisierung und Entmenschlichung des Diskurses.
Refugees welcome? Fluchtursachen wie Krieg, Klimawandel und Armut bekämpfen? Solidarische Stimmen sind leise geworden.
Kanzlerin Angela Merkel hatte ihre Regierung noch klar inhaltlich abgegrenzt und die AfD so vergleichsweise klein gehalten. Die Ampelregierung von Olaf Scholz hat sich dagegen offenbar entschieden, möglichst wenig über die AfD zu sprechen, in der Hoffnung, sie nicht aufzuwerten. Doch lässt sich ein polternder AfD-Elefant, der in Parlamenten, Medien und im Alltag einen grossen Teil des öffentlichen Raumes einnimmt, nicht übersehen.
Die in der Selbstwahrnehmung ohnehin progressiven Ampelparteien gehen davon aus, dass es besser sei, die Polarisierung nicht noch zu verstärken, ihre Ablehnung nicht zu sehr zu betonen und die Schmutzarbeit dem Verfassungsschutz zu überlassen. Die AfD sei vor allem ein Problem für die CDU, auf die man sowieso kaum Einfluss habe.
Noch im Juli 2023 stellte Kanzler Scholz in Aussicht, die AfD werde «bei der nächsten Bundestagswahl nicht anders abschneiden als bei der letzten». Da lag die Partei bei 10 Prozent – derzeit steht sie in Prognosen bei 20 Prozent und mehr.
Nach den Erfolgen der AfD bei den wichtigen Landtagswahlen in Bayern und Hessen äusserte sich Scholz besorgt. Er sprach von der «Verteidigung der Demokratie» – und im selben Atemzug davon, dass die Zahl der Geflüchteten zu hoch sei. Die AfD allerdings dürfte sich nicht schwächen lassen, wenn die Zustimmung zur rechtsextremen AfD als «Protestwahlen» verharmlost wird – und die Regierung gleichzeitig rechte Narrative übernimmt. Es steht jedenfalls zu befürchten, dass sich der Rechtsschwenk in der Migrationspolitik stärker auf die politische Kultur des Landes auswirkt, als tatsächlich Kommunen, Institutionen und die Zivilgesellschaft zu entlasten.
3. Klima (und andere Krisen)
Bei allen strukturellen und kulturellen Unterschieden zeigt der steigende Druck von rechts aussen weltweit: Die Folgen der Polykrise im globalisierten Neoliberalismus öffnen materiell, kulturell, ideell und geopolitisch ein Gelegenheitsfenster der Faschisierung. Konfliktfelder wie Migration, Gender, Krieg, Rüstung und Haushaltskrisen halten den Diskurs in einem Zustand der Dauererregung, während sich viele Menschen zunehmend als ohnmächtig wahrnehmen.
Die sozialen Ungerechtigkeiten und der Transformationsdruck der Klimakrise bergen erhebliches Potenzial, zu polarisieren, und machen Ungleichheiten sichtbar. Während das Bewusstsein für die Klimakrise in der Bevölkerung ungebrochen gross ist, haben die jüngsten Krisen – insbesondere die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine – die öffentliche Schwerpunktsetzung beeinflusst und die Art und Weise, wie die Finanzierbarkeit der Transformation eingeschätzt wird. Auch haben sie die extreme Rechte gestärkt.
Längst sind die Rechten nicht mehr allein auf das Migrationsthema beschränkt. Sie haben den Kampf gegen die ökologische Transformation und die Dämonisierung der Grünen als Arena erkannt, in der sie jenseits klassischer Rechts-links-Zuschreibungen auftreten und Ressentiments für sich nutzbar machen können.
Je weniger entschlossen die Politik die Gerechtigkeitsfragen adressiert, die mit der Klimakrise zusammenhängen, desto stärker lassen sich Klimathemen populistisch von rechts instrumentalisieren. So haben die Kontroversen um das sogenannte Heizungsgesetz der Ampelregierung eine Verunsicherung in der Bevölkerung ausgelöst, von der auch die AfD profitiert. Die Losung «Heimatschutz statt Klimaschutz» verbindet AfD, CDU und FDP, wie sich jüngst im Thüringer Landtag zeigte: Mit den Stimmen der Rechtsextremen haben FDP und CDU am 8. Dezember gemeinsam ein Gesetz gegen den Willen der rot-rot-grünen Landesregierung verabschiedet. Damit wird der Bau von Windrädern im Wald praktisch verhindert. Die Empörung über dieses Vorgehen blieb überschaubar – die Normalisierung ist fortgeschritten. In Thüringen ist die Brandmauer gegen eine Zusammenarbeit mit den Neofaschisten um Björn Höcke offenbar gefallen.
Wissenschaftlerinnen haben empirisch nachgewiesen, dass insbesondere in Ostdeutschland und unter weniger wohlhabenden Menschen klimaregressive Ansichten verfangen. Sozialpopulistische und antiökologische Narrative der äussersten Rechten können insbesondere dann auf Zustimmung stossen, wenn zugleich das Verantwortungs- und Verursacherprinzip nicht richtig greift: wenn also diejenigen, die für besonders grosse Emissionen verantwortlich sind, nicht in einem angemessenen Mass zur Kasse gebeten und zu Veränderungen bewegt werden.
Die Hauptverantwortung für den Klimawandel liegt ja nicht diffus gleich verteilt bei «den Menschen», die sich gefälligst verändern sollen, sondern insbesondere bei der Fossilindustrie und tendenziell bei den Vermögendsten. Die 10 reichsten Prozent der Deutschen verursachen mehr Emissionen als die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Doch bei vielen verfängt die Agitation gegen eine vermeintliche Gängelung durch angebliche «grüne Eliten»: Während wir Gas sparen sollen, müssen wir zuschauen, wie die Superreichen in Privatjets um die Welt fliegen, um das nächste Geschäft mit dem Klimadesaster vorzubereiten.
Diese Dissonanzen und das Fehlen einer stärker gerechtigkeitszentrierten Klimapolitik kann die äusserste Rechte mit allerlei kulturkämpferischen, populistischen und verschwörungsideologischen Narrativen der Ablenkung und der Sündenbockkonstruktion füllen.
Das wichtigste Instrument sozialer Gerechtigkeit bleibt die Steuerpolitik. Doch von der Politik der AfD profitieren nicht die Mittel- und Unterschichten, deren Sorgen die Rechten radikalisieren, sondern die Reichsten. Die Klassenposition der Vermögenden wird von Kulturkampf und Verschwörungserzählungen verschleiert und geschützt. Denn das ist die tragische Ironie: Antigrüne und antiökologische Narrative sind weit über das Milieu der ökonomisch Vulnerablen zustimmungsfähig, weil sie letztlich Ungleichheiten, Gewohnheiten und Privilegien als «Normalität» gegen «übergriffige grüne Ideologie» verteidigen.
Obwohl die AfD als einzige Partei den menschengemachten Klimawandel programmatisch anzweifelt, führen ihr transformationsskeptische und antiökologische Positionen Stimmen aus allen politischen Lagern zu. Eine gerechte Finanzierung der ökologischen Transformation, die der extrem ungleichen Vermögensverteilung Rechnung trägt, bleibt damit gerade aus.
4. Agitation
Seit jeher speist sich der Rechtsextremismus auch aus den Widersprüchen und unbearbeiteten Konflikten in der Demokratie. Tatsächlich liesse sich heute in bestimmter Hinsicht von einer Dissonanzgesellschaft sprechen. Das bedeutet, dass im grossen Massstab Vorstellungen, Überzeugungen und Hoffnungen vieler Menschen durch die Krisenrealität und das zunehmende Wissen über die Welt erschüttert werden. Von den Herausforderungen der Komplexität überfordert, gewinnen Falschinformationen, Verschwörungsideologien und autoritäre Stabilitätsversprechen an Zuspruch.
Erwartungen der Bürger werden durch rasante Umbrüche enttäuscht und verletzt, der Widerspruch zwischen demokratischen Gleichheitsansprüchen und den realen Ungleichheiten im Spätkapitalismus wird immer sichtbarer. Das Erbe der Vergangenheit – Antisemitismus, Kolonialismus, Nationalismus, Patriarchat und Fossilwirtschaft – lebt fort, während die Vorstellung einer positiven Zukunft immer schwerer fällt.
Weil die Gesellschaft sich immer weiter ausdifferenziert, während die Bindungskraft gemeinsamer Wertvorstellungen abnimmt, ist eine politische Legitimationskrise entstanden. Und diese wird in den sozialen Netzwerken verstärkt. Viele Menschen reagieren, indem sie eigene, mitunter von Fakten und guten Argumenten losgelöste Weltdeutungen oder gar Verschwörungstheorien entwickeln. So werden auch gesellschaftliche Institutionen infrage gestellt, was von rechts aussen planvoll befeuert wird. Aus den Trümmern der liberalen Demokratie soll eine neue autoritäre Ordnung entstehen, für die die antidemokratischen Entwicklungen in Viktor Orbáns Ungarn die Blaupause bilden.
Politisch und finanziell motivierte Radikalisierungsunternehmer erfüllen die Funktion des Agitators, wie ihn der Soziologe Leo Löwenthal bereits vor etlichen Jahrzehnten beschrieben hat. Der Agitator, so Löwenthal, habe kein Interesse daran, das gesellschaftliche Unbehagen zu lindern – sondern es zu verstärken:
Soziale Malaise kann mit einer Hautkrankheit verglichen werden. Der daran leidende Patient hat das instinktive Bedürfnis, sich zu kratzen. Folgt er dem Rat eines erfahrenen Arztes, wird er diesem Bedürfnis nicht nachgeben und statt dessen versuchen, die Ursache des Juckreizes durch ein Heilmittel zu beseitigen. Gibt er jedoch seinem instinktiven Kratzbedürfnis nach, wird der Juckreiz sich nur steigern. Dieser irrationale Akt der Selbstverstümmelung wird ihm zwar eine gewisse Erleichterung verschaffen, verstärkt aber gleichzeitig sein Bedürfnis zu kratzen und verhindert eine erfolgreiche Heilung seiner Krankheit. Der Agitator rät zum Kratzen.
Kaum irgendwo lässt sich der masochistische Akt dieses Kratzens so gut beobachten wie bei der aggressiv-höhnischen und selbstgefälligen Stimmung auf Versammlungen der AfD.
Am Kratzen beteiligt sich allerdings seit geraumer Zeit auch die Linkspopulistin Sahra Wagenknecht, die derzeit Spenden für die Gründung ihrer neuen Partei sammelt. Gerade in Ostdeutschland könnte die charismatische und beliebte Politikerin erfolgreich werden – mit noch nicht absehbaren Folgen. Feststehen dürfte aber bereits: Die Situation wird für die bisherigen Parteien nicht unbedingt einfacher.
5. Neue Querfront
Seit das Phantom der neuen Partei «Bündnis Sahra Wagenknecht» (BSW) umhergeistert, lautet eine der positiveren Prognosen, das Wagenknecht-Bündnis werde zumindest einen Teil der rechtsextremen Stimmen in linkspopulistische verwandeln können.
Das kann allerdings nicht wirklich beruhigen. Fraglich ist generell, ob der Partei eine flächendeckende Aufstellung gelingt – auch Wagenknecht polarisiert. Doch selbst wenn: Im Falle ihres Erfolges schwächt sie das progressive Lager und erschwert sie es, Koalitionen zu finden. Und nicht zuletzt besteht die Gefahr, dass sich AfD und BSW eher ähneln als unterscheiden. Vor allem aussenpolitisch trennt die beiden in zentralen Punkten wenig.
Wagenknecht äusserte sich immer wieder Putin-freundlich. Das Schicksal der Ukraine und damit der regelbasierten, westlich dominierten Weltordnung könnte 2024 mit den Wahlen in den USA, Europa und (Ost-)Deutschland entschieden werden. Setzen sich die Nationalistinnen durch, droht die westliche Unterstützung gegen die russische Invasion weiter zu erodieren.
Die Prognosen zu den Chancen einer künftigen Wagenknecht-Partei unterscheiden sich jedenfalls beträchtlich. Im Mittel könnte sie laut Umfragen bundesweit aus dem Stand womöglich zwischen 10 und 15 Prozent der Stimmen erreichen und der AfD dabei etwa 5 Prozentpunkte abknöpfen. Methodisch sind Umfragen mit fiktiven Szenarien mit Vorsicht zu betrachten, aber undenkbar sind die Werte nicht, wenn es Wagenknecht gelingen sollte, hinreichend zuverlässige Mitstreiter für die anstrengende Arbeit an der Parteibasis zu finden.
Nach dem Anti-Globalisierungs-Backlash der Rechten droht nun jedenfalls mit der Wagenknecht-Partei ein Anti-Globalisierungs-Backlash der Linken. Ihr Bündnis könnte aufsammeln, was in manchen linken Milieus in den vergangenen Jahrzehnten kultiviert und oft aus guten Gründen über Bord geworfen wurde. Die im Entstehen begriffene Wagenknecht-Partei gruppiert sich um eine charismatische Persönlichkeit, ist national und gesellschaftspolitisch konservativ orientiert, steht klimapolitisch eher der FDP und jenem Denken nahe, das auf Ingenieurswunder hofft («Zukunftstechnologien made in Germany»), anstatt das jetzt Mögliche zu unternehmen. Wirtschaftspolitisch ist das BSW eher sozialdemokratisch als sozialistisch.
Wagenknechts Machtbasis sind die Talkshows und die ausverkauften Hallen in Ostdeutschland, wo sie ihr Befremden gegenüber der sogenannten «woken» Linken vorträgt. Wohl nicht nur aus wahltaktischem Kalkül erklärte Wagenknecht die Grünen für gefährlicher als die AfD. Ob das «Wokeness»- und Grünen-Bashing langfristig ausreicht, ist fraglich.
Es sollte jedoch ein zentraler Aspekt nicht aus dem Blick geraten: Nach dem aktuellen Wissensstand vertritt das Bündnis Sahra Wagenknecht anders als die AfD keine gänzlich antidemokratische Agenda. Ihre Partei erhebt keinen antipluralistischen Alleinvertretungsanspruch, vertritt nicht das Konzept einer ethnisch homogenen Volksgemeinschaft und folgt nicht den faschistischen Vorstellungen der «Neuen Rechten».
Falls sich dies in der konkreten Sach- und Programmarbeit bestätigt, wäre das BSW im Gegensatz zur rechtsextremen AfD für die Parteien links und in der Mitte ein politischer Gegner im Verfassungsrahmen – populistisch, aber noch kein Feind der Demokratie. Das kann sich allerdings schnell ändern, wenn es nach Unterstützern wie Diether Dehm geht, der mit einer Querfront mit der extremen Rechten flirtet. Und: Auch die AfD hat einst im demokratischen Spektrum begonnen und sich dann in kurzer Zeit erheblich radikalisiert.
Trotz spürbarerer Verunsicherung bei der AfD sollte man jedenfalls keine allzu grossen Hoffnungen darauf bauen, dass Sahra Wagenknecht im Alleingang die Rechtsextremen verzwergt und ein Desaster bei den anstehenden Wahlen im Osten verhindert. Denn für ein solches spricht eine ganze Reihe von Gründen:
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Sahra Wagenknecht verfolgt eine regressive Politik, die keinen Anlass für politischen Zukunftsoptimismus gibt. Eine Alternative zur politischen Instrumentalisierung von Frust und Ressentiment dürfte ihr Bündnis damit kaum bieten.
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Anders als Wagenknecht kann sich die AfD auf die grosse Loyalität vieler Unterstützerinnen und einer sich mehr und mehr verfestigenden lokalpolitischen Basis verlassen. Über die Hälfte der potenziellen AfD-Wähler haben Umfragen folgend ein ausgeprägt rechtes Weltbild und Studien zeigen, dass sie antisemitischen, autoritären, rassistischen und verschwörungsideologischen Aussagen besonders häufig zustimmen. Realistisch betrachtet sind im Bundesdurchschnitt Wahlergebnisse der AfD unter 15 Prozent unwahrscheinlich.
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Die Wahlerfolge der AfD gehen mit erheblichen finanziellen Möglichkeiten und der Etablierung von Strukturen einher, von denen Sahra Wagenknecht nur träumen kann.
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Die Kommunalwahlen 2024 finden gemeinsam mit den Europawahlen bereits im Juni, drei Monate vor den Landtagswahlen, statt. Für die Gruppe Wagenknecht ist es kaum möglich, bereits im Juni flächendeckend mit seriösen Kommunallisten anzutreten – alle Aufmerksamkeit der Linkskonservativen wird bei den Europawahlen liegen. Gut möglich also, dass viele Wählerinnen auf der europäischen Ebene Wagenknecht und auf der kommunalen Ebene die AfD wählen.
Ob mit oder ohne BSW: Klar scheint derzeit vor allem, dass Politik 2024 in Deutschland nicht einfacher werden wird.
Es wäre allerdings das Falscheste, sich nun lediglich düstere Zukunftsszenarien auszumalen – anstatt über Strategien nachzudenken, wie den demokratiefeindlichen Tendenzen der Gegenwart begegnet werden kann. Denn klar ist auch: Es liegt in der Verantwortung der demokratischen Kräfte von links bis konservativ, den Autoritären und Faschisten wirksam entgegenzutreten.
6. Dem Rechtsruck entgegenwirken
Strategien zum Umgang mit der AfD sollten Analyse und Argumentation schärfen. Der Rechtsextremismus wird nicht verschwinden, sondern an Zuspruch gewinnen, je erfolgloser demokratische Kräfte darin sind, Krisen zu bearbeiten, ungerechte Missstände zu kritisieren und Rechtsextremismus zu problematisieren. Phrasenhafte Forderungen nach Abgrenzung reichen nicht, sondern müssen inhaltlich stärker begründet werden.
Widersprüche innerhalb des rechten Lagers sollten im Vordergrund der Auseinandersetzung mit der AfD stehen: vor allem zu Themen, die nicht im Bereich der Migrationsfrage zu suchen sind. Sozial- und wirtschaftspolitisch ist das gültige Wahlprogramm der Bundespartei unvereinbar mit dem «solidarischen Patriotismus» der völkisch-nationalistischen Richtung, die in der Ost-AfD dominiert. Dieses Konzept ist national-sozial-populistisch geprägt, richtet sich gegen Migrantinnen und widerspricht den Klasseninteressen vieler privilegierter AfD-Wähler. Auch darum stellen in der rechten Sphäre einflussreiche Personen wie Markus Krall und Hans-Georg Maassen derzeit die Gründung einer neuen rechtslibertären Partei in den Raum.
All jene, denen an der Demokratie gelegen ist, sollten allerdings nicht darauf hoffen, dass sich die Rechte selbst durch Spaltung schwächt. Sondern wirksam den Faktoren ihrer Mobilisierung entgegenwirken.
Die folgenden Strategien dürften dafür unabdingbar sein:
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Die Debatten vom Kopf auf die Füsse stellen. Die öffentliche Diskussion muss sich dringend von der dominanten Migrationsfrage zur Frage nach sozialer Gerechtigkeit verschieben. Damit wäre einiges gewonnen, nicht nur in der Schwächung der Aufmerksamkeit für die AfD. Die grosse soziale Spaltung und ihre Folgen unter anderem auf dem Wohnungsmarkt sind ein Treiber von antidemokratischen Reflexen. Gerade junge Menschen könnten über die soziale Frage mobilisiert werden, sich für ihre Interessen einzusetzen: Immerhin versuchen Teile der SPD mit neuem Anlauf, ein Grunderbe für 18-Jährige sowie Erbschaftssteuern sowie eine höhere Besteuerung grosser Vermögen in die Debatte zu bringen.
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Schluss machen mit dem Grünen-Bashing. Klimapolitisch sind die Wählerinnen der AfD gespalten. Auch hier müsste dem antigrünen Kulturkampf eine Gerechtigkeitsdiskussion um das Verursacherprinzip entgegengestellt werden. Statt den Kulturkampf selbst zu befeuern, müssten auch die Liberalen und Konservativen dessen Instrumentalisierung von rechts durchschauen – und ihr entgegentreten.
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Scheinlösungen entlarven. Um nur ein Beispiel zu geben: Der akute Fachkräftemangel lässt sich nicht mit völkischen Konzepten und Abschottungspolitik lösen. Auch der Mittelstand, den die AfD umgarnt, ist auf funktionierende Handelsbeziehungen angewiesen, die der «Dexit»-Nationalismus gefährdet. Die Widersinnigkeit rechter Forderungen und die Tatsache, dass ihre Propaganda auf Scheinlösungen basiert, muss von allen demokratischen Kräften klar benannt werden – statt die Scheindebatten zu imitieren.
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Normalisierung stoppen. Von unten kann eine aktive und selbstbewusste Zivilgesellschaft die Normalisierung rechter Ideologie stoppen und in lokalen Prozessen und Wahlkämpfen intervenieren. Das setzt voraus, dass der Rechtsruck auch auf der politischen Bühne wieder als Demokratieproblem ernst genommen wird und dass sich die Zivilgesellschaft über die Ablehnung der Rechtsextremen hinaus politisiert – mit Blick auf die gerechtigkeitspolitischen Fragen der Zeit. All das wird keine überzeugten Rechtsextremen umstimmen, kann aber die öffentliche Diskursmacht der AfD entkräften und begründen, warum die Politik der Abgrenzung weiterhin nötig ist.
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AfD-Verbot prüfen. Begriffe wie «Brandmauer» oder «Dammbruch» sind angesichts der Normalisierung von unten teils längst sinnentleert. In der Alltagswelt vieler Menschen gibt es dazu keine Entsprechung, weil sie Unterstützerinnen, Mitglieder und Politikerinnen der AfD häufig als ganz normale Nachbarn, Kolleginnen oder Familienangehörige erfahren. In vielen Kommunalparlamenten ist die AfD weitgehend normalisiert. Ein (Teil-)Verbot der AfD oder zumindest der Stopp der staatlichen Finanzierung für die Rechtsextremen würde die Spannungen der Dissonanzgesellschaft zwar nicht auflösen, aber die Verstärkung der Demokratie- und Menschenfeindlichkeit durch die rechtsextremen Agitationen bremsen. Auch die akuten Gefahren für das Funktionieren der Institutionen könnten so gestoppt, die Einflüsse der faschistischen «Neuen Rechten» geschwächt werden.
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Den Ernst der Lage erkennen. Grosse Teile der Politik scheinen die Gefahr der rechtsextremen Machtübernahme zu unterschätzen, für die Agitatoren wie Björn Höcke längst planen. Mit einem «Deutschland-Pakt» will die Regierung gemeinsam mit der CDU die «Herausforderungen durch Klimaschutz, Transformation und die Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine bewältigen». Das allein wird nicht reichen. Es ist höchste Zeit und sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Bekämpfung von Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus sowie die Stärkung der angeschlagenen Zivilgesellschaft (wieder) Teil eines gemeinsamen Vorgehens aller demokratischen Parteien werden.
Diese Liste, so viel ist klar, ist unvollständig. Doch es spricht vieles dafür, dass der Rechtsextremismus derzeit ein neues Mass an Normalisierung und dadurch neue Machtchancen erreicht. Dies erfordert eine neue Ernsthaftigkeit dabei, der Bedrohung zu begegnen und ihr frische politische Konzepte entgegenzustellen: für eine demokratische, gerechte und zuversichtliche Zukunft.