Der Konflikt um die Schreiterfenster war komplex. Er hatte verschiedene Ebenen, die sich miteinander mischten. So wurde trefflich gestritten, ob moderne Buntglas- Fenster in eine gotische Kirche passten. Im zwischenmenschlichen Bereich standen der damalige Heiliggeist- Pfarrer Eschel Alpermann und der Kirchengemeinderat Jürgen Gottschling im Zentrum des Konfliktes.
Ursprünglich sollten zehn Langhausfenster zum Thema „Wissenschaft“ und Chorfenster zum Thema „Kirche“ von Schreiter in der Heiliggeistkirche gestaltet werden, umgesetzt wurde nur das Physikfenster – und mit Verlaub – Jürgen Tenno Gottschling, der bei einem Vortrag in Sachen Schreiter Fenster vor dem Gesamtkirchenrat Heidelberg in seiner Eigenschaft als „Ältester“ der Heiliggeistgemeinde per gerufener Polizei aus dem Saal hätte raus- geworfen werden sollen.
Gottschling blieb und – zu guter Letzt – das inkriminierte schreitersche Fenster auch.

 

Die politische Aussage der Fenster fanden viele anstößig und meinten,
Kirche solle sich politisch zurück halten oder aber:
„Kirchenfenster sollten meditativ sein“

Den Streit löste der Universitätsrektor zu Putlitz aus, der die „stark provokativen Entwürfe“ in der Gründungskirche der Universität im Vorfeld der 600-Jahr-Feier ablehnte und die Fenster wissenschaftsfeindlich fand. Die (wir) Befürworter hoben hervor, dass sich die Heiliggeistkirche in diesen Fenstern nicht als Rückzugskirche und als Ort der Verdrängung präsentiere, sondern zeitgeschichtliche Themen kritisch aufnehmen und mit der Bibel reflektieren solle. Die Fensterentwürfe teilten die Stadt Heidelberg in zwei Lager, in glühende Verfechter und in erbitterte Gegner. Der Streit ging nach fünf Jahren so aus, dass das Physikfenster nicht aus der Kirche entfernt wurde, die anderen Schreiterentwürfe indessen in der Heiliggeistkirche nicht realisiert werden durften.

Welches aktuelle Thema verarbeitet das Physikfenster künstlerisch-theologisch –
und womit provozierte es?

Als das Fenster 1984 enthüllt wurde, befand sich die Welt auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Die Sowjetunion hatte atomare SS-20 Raketen stationiert, die Nato wollte darauf mit der Aufstellung neuer, mit Atomsprengköpfen bestückter Pershing II-Raketen reagieren, um das Gleichgewicht des Schreckens wiederherzustellen. Gegen diese neue atomare Hochrüstung entstand in Westeuropa und den USA in kurzer Zeit eine breite Friedensbewegung. Man fürchtete einen auf Europa begrenzten Atomkrieg und sprach deshalb von „Euroshima“. Die Friedensbewegung organisierte die bis dahin größten Massendemonstrationen in ihren Ländern. Hinzu kamen Sitzblockaden am Raketenstandort Mutlangen und Menschenketten wie etwa von Stuttgart nach Neu-Ulm. Die Mehrheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik sowie in mehreren anderen NATO-Staaten lehnte die Pershing-Stationierung ab. Der Deutsche Bundestag stimmte ihr hingegen im November 1983 zu, und im Monat darauf begann die Aufstellung der neuen Atomraketen, die bis 1986 dauerte. Alle 108 Pershing II-Raketen wurden im Umkreis von 200 km zur Heiliggeistkirche aufgestellt. Die Nato-Nachrüstung spaltete damals die Bundesrepublik. In diese explosive politische Atmosphäre hinein präsentierte Johannes Schreiter im Jahr 1984 ein Kirchenfenster, das die Atomwaffengefahr durch den Verweis auf Hiroshima explizit thematisierte. Der aktuelle Bezug auf „Euroshima“ lag nahe. Das Physikfenster ist ein leuchtendrotes Menetekel, das vor dem Untergang der Menschheit durch Atomwaffen warnt. Dieses Fenster wurde in der angespannten Lage als politische Provokation aufgefasst.

Das Physikfenster jedoch ist nicht simple tagespolitische Parteinahme,
sondern ein vielschichtiger Trialog

zwischen Kunst, Glaube und Politik

Das Fenster ist in Rot gehalten, der Farbe des Heiligen Geistes, dem die Kirche ehemals geweiht worden war. In der Fensterspitze ist der Geist als rotweißer Pfeil abgebildet, der vom Himmel senkrecht herab in ein vom Maßwerk geformtes Herz fällt. Das drückt aus: Gottes Geist kommt vom Himmel in die Herzen der Menschen herab. Im Blick ist das Pfingstwunder der Apostelgeschichte, das erzählt, wie die göttliche Geistkraft vom Himmel herabkommend Menschen erfasst (Apostelgeschichte 2) und sie zu „einem Herz und einer Seele“ werden lässt (Apostelgeschichte 4,32).

Im weiteren Verlauf des Fensters entfaltet sich bildlich die Aussage:

Der göttliche Geist ermöglicht den menschlichen Geist. Das Schreiterfenster enthält dabei zwei zentrale Aussagen, mehr über den menschlichen Geist als über den göttlichen. Die erste Aussage ist wissenschaftsfreundlich: Gott hat den Menschen mit einem lebendigen Geist begabt. Bezug nimmt der Künstler dabei auch darauf, dass in der Heiliggeistkirche jahrhundertelang das gesammelte, schriftliche Wissen der damaligen Welt aufbewahrt wurde. Die Heiliggeistkirche war die Universitätskirche und -bibliothek. „Dem lebendigen Geist“, so lautet noch heute die Inschrift über dem Portal der Neuen Universität, dem zentralen Vorlesungsgebäude in der Heidelberger Altstadt. Erstaunlicherweise findet sich in einem Kirchenfenster eine physikalische Formel. Sie erinnert daran, dass das Programm der Heiliggeistkirche die Verbindung von Geist und Wissenschaft ist. Die Formel stammt von Albert Einstein und lautet E=mc2. Es ist die berühmte Grundformel seiner Relativitätstheorie. Schreiter drückt mit ihr die Größe des menschlichen Geistes aus. Er ist fähig, alles zu prüfen und zu erforschen, um das Gute zu behalten, wie der Apostel Paulus im 1. Thessalonicherbrief 5,21 schreibt.

Die zweite Aussage des Fensters ist wissenschaftskritisch:

Der Physiker Albert Einstein markiert auch die Nichtigkeit des menschlichen Geistes. Er gilt als einer der Väter der Atombombe, obgleich er an der Konstruktion nicht unmittelbar beteiligt war. Seine Formel E=mc2 bildet die wissenschaftliche Grundlage für die Funktionsweise der Atombombe. Zudem hatte er sich im Sommer 1939 in einen Brief an den amerikanischen Präsidenten Roosevelt für die Entwicklung von Atomwaffen ausgesprochen, was er später bitter bereute. An diesen Zusammenhang zwischen der Einsteinschen Formel und der Atombombe erinnert ein Datum im rechten unteren Teil des Kirchenfensters: „6.8.1945“. Formel und Datum sind auch farblich miteinander verbunden: durch einen Blauton, der nur hier im Fenster vorkommt. Am 06. August 1945 wurde über Hiroshima die erste Atombombe abgeworfen. Seit diesem Tag steht der Menschheit vor Augen, dass sie den menschlichen Geist und alles Leben auf dem Planeten vollständig auslöschen kann.
Mit dem Hinweis auf Hiroshima und den Zweiten Weltkrieg spannt Schreiter auch nochmals den Bogen zur Heiliggeistkirche, kennt diese doch selbst das Grauen und den Wahnsinn vieler Kriege. Im 30jährigen Krieg wurde ihr die Palatina geraubt, im pfälzischen Erbfolgekrieg verwandelte sie sich in ein Flammeninferno.

1985, ein Jahr nach dem Einbau des Fensters, bot die Sowjetunion
unter Michail Gorbatschow weitreichende atomare Abrüstung an

Diese fand dann ab den Jahren 1987 statt. Freilich, die Bedrohung durch Atomwaffen, die das Fenster eindrücklich ins Bild setzt, ist auch heute trotz zahlreicher Abkommen und Bemühungen – insbesondere des Atomwaffenverbotsvertrags aus dem Jahr 2021 – nicht gebannt. Es gibt immer noch rund 13.000 Atomwaffen weltweit. Das ist genug, um die Welt mehr als einmal zu zerstören. Die Zahl der Atommächte hat sich von fünf im Jahr 1984 auf neun erhöht. Eine atomwaffenfreie Welt ist auch 35 Jahre später nicht in Sicht. Dem zeitgenössischen Betrachter kommen auch andere apokalyptische Szenarien in den Sinn. Beispielsweise bedrohen die Zerstörung der Umwelt und der Klimawandel die Welt und lassen eine Selbstzerstörung der Menschheit möglich erscheinen. Das mahnendrote Menetekel im Südschiff hat nichts von seiner Aktualität verloren.

Ungewöhnlich ist, dass Schreiter in den Fensterentwürfen der Heiliggeistkirche von seiner sonst abstrakten Konzeption abweicht und Bibelworte in seine Fenster einbezieht. Die transzendentale Ausrichtung verstärkt er dadurch verbal. Das Physikfenster zitiert einen Satz aus dem Neuen Testament, 2. Petrusbrief 3,10. In gotischer Schrift ist zu lesen: Es wird aber des herrn tag kommen wie ein dieb in der nacht, an welchem die himmel zergehen werden mit großem krachen; die elemente aber werden vor hitze schmelzen, und die werke, die darauf sind, werden verbrennen. Der Bibelvers handelt vom Gericht Christi am Letzten Tag und deutet die Gefahr der Atomwaffe als Schrecken der Endzeit. Entsprechend explodiert auf dem unteren Teil des Fensters die Erdkugel und blutrote Lava fließt heraus.

Schreiter aber will nicht im apokalyptischen Schrecken stehen bleiben,
sondern Mut machen.

Aus diesem Grund verändert er das Zitat aus dem 2. Petrusbrief und kombiniert es mit einem weiteren Bibelzitat. Heißt es im 2. Petrusbrief „die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen, die Erde und die Werke, die darauf sind, werden verbrennen“, so streicht der Künstler die Worte „die Erde“. Ihm ist dabei entgangen, dass dann das Wort „darauf“ keinen Sinn mehr ergibt. Schreiter streicht bewusst, um die Möglichkeit der Rettung der Erde offen zu halten. Es wird im Fenster das Ende der menschlichen Werke, wie etwa der Einsatz von Atomwaffen, angekündigt, nicht aber die totale Vernichtung der Erde selbst. An ihre Stelle setzt Schreiter eine Friedensverheißung und kombiniert das verkürzte Zitat des 2. Petrusbriefes mit einem Zitat aus dem Buch des Propheten Jesaja 54,10, wiederum in gotischer Schrift: Meine gnade aber soll nicht von dir weichen und der bund meines friedens soll nicht hinfallen, spricht der herr, dein erbarmer.

Die Lutherübersetzung aus dem Jahr 1912 verändernd,
die er in diesem Mischzitat verwendet,
stellt Schreiter den Ausdruck „meine Gnade“ bewusst voran.

Die Gnade wird durch diese Wortumstellung betont und korrespondiert mit dem Schlusswort „Erbarmer“. Gnade und Erbarmen sind der Rahmen dieses Bibelzitates. Das bewusst gestaltete Mischzitat ist die Verheißung einer Zukunft, trotz der Möglichkeit des Verderbens: Gott ist ein Gott des Friedens, der Gnade und des Erbarmens. Er will Frieden und Lebensmöglichkeit, nicht Verderben und Untergang. Das letzte Wort ist nicht Vernichtung, sondern Erbarmen, gesprochen vom göttlichen Erbarmer. Dem Zerstörungspotential des menschlichen Geistes setzt der Künstler die göttliche Geistkraft entgegen, als deren Frucht der Apostel Paulus im Galaterbrief 5,22 den Frieden bezeichnet.

Mithin bringt das Physikfenster mit künstlerischen Mitteln Politik und Bibel, menschlichen und göttlichen Geist ins Gespräch. Es ist Ausdruck eines Glaubens, der die Realität der Zerstörung ernst nimmt, aber dennoch angesichts der drohenden Katastrophe nicht verzweifelt, sondern Hoffnung schöpft. Wir bedienen uns – jetzt und immerdar – mit dem Wort des Theologen Dietrich Bonhoeffers, dem wir uns mit Freude anschließen:

„Ein Glaube, der nicht hofft, ist krank“.

Dez. 2023 | Heidelberg, Allgemein, In vino veritas, Die Hoffnung stirbt zuletzt, Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch | Kommentieren