Am Abend des 16. Dezember 1773 stürmten einige Dutzend als Indianer geschminkt und verkleidete – um von der Polizei nicht erkannt zu werden – Bostoner Bürger den Hafen und warfen aus drei Schiffen der East India Company deren Teeladungen – 342 Kisten – ins Hafenbecken. „Eine Tea Party für die Fische“, erklärte einer der Akteure später. Die Boston Tea Party wird heute als Beginn der Amerikanischen Revolution gefeiert, die 1776 in die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten vom britischen Königreich mündete.

Der spätere Präsident der USA John Adams (1735 – 1826) notierte in sein Tagebuch: „Gestern Abend wurden drei Ladungen Bohea-Tee ins Meer geschüttet. Heute Morgen segelte ein Kriegsschiff los. Dies ist die bisher großartigste Maßnahme. Dieses letzte Unternehmen der Patrioten hat eine Würde, die ich bewundere. Das Volk sollte sich nie erheben, ohne etwas Erinnerungswürdiges zu tun – etwas Beachtenswertes und Aufsehen Erregendes. Die Vernichtung des Tees ist eine so kühne, entschlossene, furchtlose und kompromisslose Tat, und sie wird notwendigerweise so wichtige und dauerhafte Konsequenzen haben, dass ich sie als epochemachendes Ereignis betrachten muss.“

Die Boston Tea Party machte eine Epoche

Ob er das wirklich damals schon so notiert hatte? Vielleicht bearbeitete er sein Tagebuch ja später noch. Wie auch immer: Die Boston Tea Party machte eine Epoche. Einer der Organisatoren der Aktion war Samuel Adams (1722 – 1803), ein Cousin von John Adams. Noch ein paar Jahre zuvor hatte Samuel versucht, als Steuereintreiber für die britische Regierung Geld zu verdienen. Die Brauerei, die er geerbt hatte, lief nicht mehr so gut und musste geschlossen werden. Inzwischen war er ein reicher Mann geworden. Er schmuggelte holländischen Tee nach Massachusetts. Der war billiger als der britische und wurde ihm von den Kleinhändlern begeistert abgenommen. Die Boston Tea Party lässt sich auch weniger patriotisch interpretieren als ein Kampf um Marktanteile innerhalb des Systems „Großbritannien und seine dreizehn nordamerikanischen Kolonien“.

Wie immer bei derartigen Aktionen
verbinden sich auch hier 
Dichtung und Wahrheit

Alle Berichte der Zeitgenossen sind sich einig darin, dass es sich um etwa fünfzig Männer und Jugendliche handelte, die mit allem möglichen bewaffnet die Schiffe stürmten. Der Mann, der später von einer Tea Party für Fische sprach, war im Dezember 1773 sechzehn Jahre alt. Also nach damaligem Verständnis – jedenfalls innerhalb der arbeitenden Bevölkerung – ein erwachsener Mann. Es wird immer wieder davon gesprochen, die Akteure hätten sich als Indianer verkleidet. Das ist wahrscheinlich falsch. Manche hatten einfach nur ein Tomahawk in der Hand oder eine Feder auf dem Hut. Die Gesichtsbemalung diente wohl dazu, sie nicht identifizierbar zu machen.

Es heißt jmmer wieder, sie hätten sich als Indianer kostümiert,
um ihrem Freiheitswillen Ausdruck zu verleihen

Das kommt einem absurd vor, denn sie bekämpften, wenn sie nicht gerade gegen die East India Company und die britische Krone vorgingen, gerade den indianischen Freiheitswillen äußerst erfolgreich. Den Geschlagenen zu feiern, gehört freilich immer wieder auch zu den Freuden des Siegers. Silvia Bovenschen stupste uns vor fast fünfzig Jahren darauf: Die Unterdrückung der Frauen wurde begleitet von riesigen Podesten, auf die eine imaginierte Weiblichkeit gestellt wurde. Ähnliches ist den niedergemetzelten Ureinwohner widerfahren. Vielleicht auch in den Köpfen einiger der Akteure in der Nacht des 16. Dezember 1773.

Wie kam es zu dem Aufstand?

London hatte, so die Rebellen, den Kolonien keine Steuern aufzuzwingen. Es muss gelten: Keine Steuer ohne Zustimmung der Besteuerten. Diese Parole war in der Nacht vom 16. Dezember nicht zu hören. Ein von allen Beobachtern beschriebenes Phänomen war die Stille, in der die Aktion ablief. Der Reporter der „Massachusetts Gazette“ schrieb: „Die, die aus den umliegenden Dörfern oder Höfen gekommen waren, gingen glücklich nach Hause. Am nächsten Tag lag auf fast allen Gesichtern Freude, ob wegen der Zerstörung des Tees oder weil alles sich so ruhig abgespielt hatte.“
Der Nacht vom 16. Dezember war einiges Lautere vorangegangen. So zum Beispiel das sogenannte „Boston Massaker“, bei dem am 5. März 1770 britische Truppen fünf Bostoner erschossen. Auslöser war ein Streit um eine Perückenrechnung für einen britischen Offizier. London hatte 1767 die Besteuerung vieler Alltagsgegenstände eingeführt. die Antwort der empörten Bostoner war ein Boykottaufruf gegen britische Waren. Das führte zu Tumulten. Großbritannien schickte zweitausend Soldaten nach Boston. In den Augen vieler eine Besatzungsmacht. Kleinste Anlässe führten immer wieder zu gefährlichen Eskalationen.

In den folgenden Jahren flohen mehr als 100 000 weiße,
protestantische Siedler aus dem Land

Die Siedler flüchteten ais dem Land, in das sie oder ihre Vorfahren geflüchtet waren; sie fürchteten angesichts der Freiheit, welche die amerikanischen Patrioten anboten, um ihre Freiheit und flohen entweder zurück nach Großbritannien oder aber in den noch unerschlossenen Westen Nordamerikas. Die Boston Tea Party hatte also nicht nur dem Kaffee zur Übermacht über den Tee verholfen, sie verschob auch die Grenze der sich gerade erst gründenden USA nach Westen. In dieser Möglichkeit ständiger Expansion sahen einige europäische Soziologen die Ursache dafür, dass es in den USA keine starke sozialistische Bewegung gab.

Kleiner Auslöser, gewaltige Wirkung

Die Boston Tea Party ist ein wunderbares Beispiel für einen Schmetterlingseffekt, also für die gewaltigen Wirkungen, die kleinste Auslöser haben können. In nichtlinearen Systemen. Sie können sie haben, sie müssen sie aber nicht haben. Es ist unvorhersehbar, wie sich das System positioniert nach der kleinen Veränderung einer seiner Ausgangsbedingungen. Die Boston Tea Party stellte eine Winzigkeit des Systems „Großbritannien und seine dreizehn nordamerikanischen Kolonien“ in Frage. Die Antwort war die Zerstörung des Systems. Es entstand eine neue Welt: die größte Republik seit Menschengedenken.
Am 4. Juli 1776 unterzeichneten 56 weiße Männer – darunter die Cousins Samuel und John Adams -, die vom Sklavenhalter Thomas Jefferson (1743 – 1826) formulierte Erklärung: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit. Daß zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten; daß sobald eine Regierungsform diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des Volks ist, sie zu verändern oder abzuschaffen, und eine neue Regierung einzusetzen, die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und Gewalt solchergestalt gebildet wird, als ihnen zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit am schicklichsten zu seyn dünket.“

Die Kolonisierten feierten ihre Befreiung als die „aller“. Aber, sie kolonisierten weiter: Schwarze, Indianer und Frauen. So neu war das neue System mithin dann doch nicht

Dez. 2023 | Allgemein, Essay, Die Hoffnung stirbt zuletzt | Kommentieren