Muss doch endlich mal gesagt werden dürfen …

Ich erinnere mich einer Talkshow aus Anlass eines Jahrestages des Atomkraftwerks Tschernobyl. Darin erregte sich die Vertreterin einer Bürgerinitiative, die horrende Verantwortungslosigkeit der Politiker und Atomlobby zeige sich ja bereits daran, dass es für den Fall eines Super-GAU keinerlei Vorsorge oder Evakuierungspläne gäbe. Als nun einer der Angesprochenen protestierte und darauf hinwies, dass man natürlich auch für einen solchen Fall Katastrophenpläne bereithalte, fuhr sie ihm erneut in die Parade und wertete dies als Eingeständnis der Unglaubwürdigkeit aller Versicherungen, eine Katastrophe wie die von Tschernobyl sei in Deutschland ausgeschlossen. Sowohl die Existenz als auch die Nichtexistenz von Katastrophenplänen – beides waren für sie klare Belege der Verantwortungslosigkeit.“ Frechheit, sie gedeiht nun mal gleichsam im Windschatten einer allenthalben grassierenden ideologischen, unverfrorenen Dummheit. Einem Vermieter gewidmet:

Die Formulierung mag zugespitzt und brüskierend und polemisch sein – wie ich zuweilen zu schreiben beliebe. Natürlich hat das auch einiges Jaulen ausgelöst. Der Begriff ist aber keineswegs nur als polemisches Etikett gemeint, sondern umschreibt in meinem Verständnis einen verbreiteten mentalen Tatbestand, nachgerade eine Seinsweise. Dies soll hier näher ausgeführt werden:

Das Strickmuster unverfrorener Dummheit ist ein Syndrom

Es kennzeichnet einen bestimmten Typus von Menschen sowie Zustände, die durch solche Menschen bestimmt werden. Unverfrorene Dummheit hat durchdringende Kraft. Wo sie an der Macht ist oder die Ordnungsdeutungen großer Beölkerungsgruppen dominiert, kann sie ganze Gesellschaften verwüsten. Woraus ist sie zusammengesetzt?

Ein Grundelement ist das Double-Bind, Beziehungsfallen also, in denen jede mögliche Reaktion negativ sanktioniert wird und der Betroffene die Zwickmühle weder durch Metakommunikation noch durch Verlassen des Handlungsfeldes auflösen kann. Ein Beispiel ist die Schwiegermutter, die der Frau ihres Sohnes zum Geburtstag zwei Pullover schenkt. Als sie sich einige Wochen später erneut zu Besuch ankündigt, zieht die Schwiegertochter einen davon an. Noch vor der Begrüßung herrscht die Schwiegermutter sie an: „Der andere gefällt dir wohl nicht!“
Unverfrorene Dummheit ist eine Methode, die Dinge von vornherein so einzurichten, dass man, was auch immer geschieht, niemals irren kann. Trifft das Unheil ein, ist man bestätigt; bleibt es aus, hat man erfolgreich gewarnt. Kurz zurück nun also zur eingangs erwähnten Talkshow aus Anlass eines Jahrestages von Tschernobyl.

Verwandlung einer heiligen Johanna in ein dummes Huhn

„Heilige Johanna“ Basilika-St-Jeanne-d-Arc

Sie nahm dann doch einen ungewöhnlichen Verlauf. Während nämlich der Widerspruch der Behauptungen normalerweise in der moralischen Auf wallung untergeht und der Doppelbinder mit seiner Aktion durchkommt, wurde er diesmal von einem aus der Runde bemerkt und unnachsichtig freigelegt: „Also Moment mal, eben haben Sie uns noch vorgeworfen, wir hätten keine Katastrophenpläne, und jetzt haben wir welche, und es ist auch wieder nicht recht. Wofür sind Sie denn: Katastrophenpläne – ja oder nein?“ Nun saß sie selbst in der von ihr – fraglos anderen gestellte – Falle, und als auch ein letztes Ablenkungsmanöver (alle AKWs weg, dann brauchen wir keine Katastrophenpläne) misslang, musste sie etwas befürworten, was sie kurz zuvor noch als Inbegriff der Verantwortungslosigkeit gebrandmarkt hatte. Das war schon eine dramatische Wende der Situation: die Verwandlung einer heiligen Johanna in ein dummes Huhn.

Das Beispiel demonstriert einen weiteren Grundzug der unverfrorene Dummheit, ihre kognitive Monostruktur und die simple Hermetik des Weltbildes. Der unverfrorene Dummkopf hat nur ein Thema. Er fokussiert die Verhältnisse auf einen einzigen Punkt und spezifiziert die Problemwahrnehmung in konzentrischen Kreisen. Da alles mit allem zusammenhängt, wird man auch bei der entlegensten Sache stets eine Querverbindung oder einen Aspekt finden, der es einem erlaubt, seine Suppe erneut anzurühren. Der Einzelfall dient immer nur der Illustration des Allgemeinen und bestätigt das gesetzte Prinzip. Es gibt nur Antworten, keine Fragen. Am Ende landet die Argumentation stets wieder beim Anfang. So ist man gegen Neues und Überraschungen gewappnet und fühlt sich zugleich als jemand, der alles durchschaut.

Die Realitätskonstruktion der unverfrorene Dummheit
ist durch eine eigentümliche Verweisungsstruktur gekennzeichnet

Um sich nämlich als kompakte Ideologie etablieren zu können, braucht sie einen relativ kleinen, überschaubaren Satz allgemeiner Aussagen, die sich wechselseitig bedingen und definieren und deren universale Gültigkeit niemals bezweifelt werden darf. Etwa: Frauen werden diskriminiert. – Die Unterdrückung von Frauen ist eine Folge patriarchalischer Strukturen. – Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig. – Sexualität zwischen Männern und Frauen ist potentiell gewalttätig. – Bei der Vergewaltigung von Frauen geht es nicht um Sexualität, sondern um Macht. Das Ergebnis solcher Basissätze sind leicht kombinierbare Begriffskonglomerate (Diskriminierung gleich Unterdrückung gleich Sexismus gleich Gewalt), die dann – Ideologie hat immer recht! – auf jeden beliebigen Einzelfall oder skandalisierbaren Sachverhalt angewendet werden können.

Ideologie hat immer recht!

Mühelos lassen sich auf diese Weise ganze Bibliotheken und Archive füllen. Ein Grundmerkmal der unverfrorene Dummheit ist ihre offensive Schwatzhaftigkeit, verbunden mit einem ausgeprägten Hang zur Selbstdokumentation. Sie begnügt sich keineswegs damit, persönliche Eigenheit oder Marotte zu sein, sondern versteht sich grundsätzlich normsetzend für andere. Bescheidenheit ist ihre Sache nicht, das Ziel ist nicht weniger als das Heil. Deshalb strebt sie von vornherein in die Öffentlichkeit und versucht, die Agenda zu besetzen. Die Verblendeten müssen aufgeklärt und die verrotteten Zustände durch befreite Verhältnisse abgelöst werden, für die die unverfrorene Dummheit das Rezept hat. Dabei sind Agitation und Propaganda keineswegs Selbstzweck, sondern stets Mittel der Durchsetzung.
Manchmal sucht sie auch, ohne den Umweg der Öffentlichkeit, den kurzen Weg zur Macht. So kommt heute lesbisch-feministische Kaderpolitik als EU-Recht (Antidiskriminierungsgesetz, Gender-Mainstreaming) zurück und funktioniert fortan als Schule der Verlogenheit.

Der kognitiven Schmalspur entspricht das Prinzip der Affektbündelung

Der (Einmal muß das erlaubt sein – die) unverfrorene Dummko(ö) pf(in) hasst und verachtet die Normalen, aber er (sie, es) braucht vor allem handliche Schuldige, die er (sie, es) an den Pranger stellen und für alles verantwortlich machen kann – jetzt hören wir mit solcherlei tumber Genderei wieder auf).
Es ist wie eine Sucht nach moralischer Selbsterhöhung. Wo immer sich ein Anlass bietet, rastet die Empörung ein. Allerdings lässt sich die Erregung nur schwer auf Dauer stellen und ist mit der Zeit immer weniger abrufbar. Zudem sind die Demonstrationsgelegenheiten irgendwann ausgeschöpft, die Themen und Kampagnen wiederholen sich, Aufmerksamkeit und Resonanz von Medien und Publikum lassen spürbar nach. Die unverfrorene Dummheit beginnt, sich mit sich selber zu langweilen. Sie glaubt die Ideologie, der sie sich verschrieben hat, nur noch halb, glaubt aber gleichzeitig, nichts anderes glauben zu können. Den Zweifel nicht zuzulassen und ihn, etwa durch rastlosen Aktivismus, beständig wegzudrücken, wird nun oberstes Gebot.

Wie aber lassen sich Halbgläubige bei der Stange halten?

Dies ist die Stunde und Bewährungsprobe des ideologischen Virtuosen. Gruppierungen vom Typus der „ethischen Prophetie“ (Max Weber), die die herrschenden Zustände als verderbt anprangern und eine Veränderung nicht durch das leuchtende Beispiel, sondern vor allem durch Massenmobilisierung erreichen wollen, stehen stets vor dem Problem, wie sie die Reinheit ihres elitären Glaubens bewahren und den Avantgardestatus behaupten können. Um sicherzustellen, dass sich die Alltagsagitation, die ja an die unmittelbaren Erfahrungen der Massen anschließen muss, nicht allzu sehr an deren profanen Einstellungen und Weltbildern orientiert und so die Essenz des Glaubens verwässert wird, müssen Dogmen eingerammt werden, die dann – und dies ist die Funktion des ideologischen Virtuosen – flexibel auf die jeweils aktuellen Probleme und Situationsdeutungen übertragen werden.
Kurzum: Der ideologische Virtuose muss gewissermaßen ein antidogmatischer Dogmatiker sein, er muss die Gläubigkeit seiner Anhänger stets erneut anfachen und ihren unterdrückten Zweifel, die vorbewusste Gewissheit, dass ihre Ideologie letztlich nicht trägt, zerstreuen.

Dennoch unterliegt auch der übergläubige Virtuose
dem Zwang chamäleonhafter Selbstdementierung

Auch er nämlich muss sich immer schon so verhalten, dass er möglichst nicht festgenagelt werden kann. Besonders wenn er Werte der „Mündigkeit“, „Emanzipation“, „Selbstverwirklichung“ propagiert, hat er Anhänger bei Laune und in Erregung zu halten, die glauben, gegen jede Manipulation gefeit zu sein. Er muss Menschen führen, deren Selbstbild darauf gerichtet ist, keine Führung nötig zu haben und die sich doch insgeheim danach sehnen. Ein instruktives Beispiel war ein Spiegel-Gespräch  mit Alice Schwarzer über vierzig Jahre Frauenbewegung. Dort sagte sie, nach Jahrzehnten Daueragitation doch etwas überraschend, den schlichten Satz: „Niemand ist emanzipiert, weder Sie noch ich.“ Das klingt – zunächst mal – nach Relativierung und Selbstkritik, doch der Eindruck täuscht. Tatsächlich ist das Wertmonopol irreversibel etabliert, denn wer so redet, verfügt offenbar über den Maßstab. Alle dürfen weiter dem Unerreichbaren hinterherhecheln. Kurz darauf nälich heißt es: „Es geht nicht darum, Noten in Emanzipation zu verteilen.“ So funktioniert unverfrorene Dummheit: Die Hohepriesterin weist die Oberlehrerattitüde von sich. Sie ist Normsetzer*In, das Geschäft der Normdurchsetzung übernehmen untere Chargen. Niemand ist emanzipiert, aber über den Begriff und die Weihen der Emanzipation entscheide ich! Jede soll nach ihrer Fasson glücklich werden, solange sie sich nur zum Emanzentum bekennt.

Phänomenologische Verstiegenheit

Wie nun lässt sich also unverfrorene Dummheit phänomenologisch näher bestimmen? Ein probates Verfahren ist der Vergleich mit Benachbartem. Ebenso wie zum Beispiel die Bedeutung des Bullshit im Kontrast zum Humbug präzisiert werden kann, scheint es aussichtsreich, die unverfrorene Dummheit von ähnlichen Formen und Ausdrücken wie etwa der Verblendung, der Verbohrtheit oder der Verbiesterung abzugrenzen und zu unterscheiden.

Verblendung ist ausschließlich kognitiv

Der Verblendete ist, wie der unverfrorene Dummkopf auch, in seinem engen Weltbild gefangen, aber anders als jener vermag er die Wirklichkeit gar nicht mehr differenziert wahrzunehmen. Er lebt nur in der Nacht seiner Einbildungen. Der unverfrorene Dummkopf hingegen ist in bestimmter Hinsicht außerordentlich wach und lauert auf Anlässe für Wortschwall und Entrüstung. Gewiss hat auch er rigide ideologische Scheuklappen, die Gegenerfahrungen gar nicht erst zulassen, aber in der vorgegebenen Handlungsrichtung ist er durchaus flexibel und sieht sehr scharf. Und das gilt auch für die anderen Sinne: Machtriecher und Witterung sind keineswegs unterentwickelt. Zudem hat er nach wie vor ein Gespür für die Relevanzen der Normalität und ist so von der Wahnhaftigkeit des Verblendeten noch ein Stück entfernt.
Vom Verbohrten unterscheidet sich der unverfrorene Dummkopf durch seine Außenorientierung. Verbohrt ist man nur für sich allein; die Versuche anderer, jemanden von seiner Verbohrtheit abzubringen, scheitern kläglich.
Der unverfrorene Dummkopf jedoch will anderen – und zwar letztlich allen anderen – seine Ordnungsvorstellungen oktroyieren, seine Bornierungen verallgemeinern. Auch die zugrundeliegenden Metaphern setzen unterschiedliche Akzente: Ebenso wie der Bohrer das Loch, das er bohrt, nur vertiefen, aber nie verlassen kann, hat die Verbohrtheit den Charakter einer Idiosynkrasie, einer psychischen Fixierung, die den Verbohrten immer weiter in die Sackgasse treibt. Hingegen gleicht die unverfrorene Dummheit eher einer Art selbstauferlegter Gehirnwäsche, ausgeführt mit grobem Tuch oder Bürste, um alle Verschmutzung und Unebenheiten von Ich und Welt rigoros zu beseitigen.

Bei der Verbiesterung schließlich stehen das Leiden und
seine Hässlichkeit im Vordergrund

Verbiesterung ist zuerst ein mimischer Ausdruck: So sehr er sie auch zu verbergen sucht, man sieht dem Verbiesterten seine Verbiestertheit an. In der Verbiesterung ist die Halbgläubigkeit in Krampf und Wut umgeschlagen, wobei die Aggression sowohl nach außen als auch nach innen gerichtet wird. Der Verbiesterte signalisiert Abscheu und Aversion gegen alles und alle, denen er für sein Elend die Schuld gibt, und ahnt doch insgeheim längst, dass niemand als er selber seine Situation verursacht hat. Verbiesterung ist zusammengebrochenes Charisma: Der Überhöhung des Selbst ist der psychische Absturz gefolgt.

Das ist beim unverfroren korrupten Dummkopf, der alle Affekte nach außen lenkt, gänzlich anders. Er, er leidet nicht. Sein Selbstbewusstsein ist nicht nur ungebrochen, sondern sogar gesteigert. Schließlich kämpft er heldenhaft für die neue Ordnung. Er hält seine unverfrorene Dummheit für Stärke und sieht sich selbst als überlegen und auserwählt.

Soweit also die Annäherungen durch Vergleich

Den eigentlichen Schlüssel zur Analyse der unverfrorenen Dummheit sehe ich jedoch in einer kleinen Schrift von Ludwig Binswanger, die dieser Mitte des letzten Jahrhunderts über Drei Formen mißglückten Daseins: Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit (1956) verfasst hat. Einschlägig ist hier die Verstiegenheit, die er schön am Beispiel eines Bergsteigers demonstriert, der sich in einer Wand „verstiegen“ hat.
Die Höhe der Entscheidung hat mit der Weite der Erfahrung nicht schrittgehalten, er hat sein Können und seine Kräfte überschätzt und kann nun, in der Wand, weder vor noch zurück, gleichzeitig aber auch nicht aufhören.
Keineswegs geht es hier einfach nur um ein Missverhältnis zwischen Streben und Fähigkeiten oder Charakterdefizite bestimmter Individuen und Gruppen. Kennzeichnend für die Seinsweise der Verstiegenheit als einer anthropologischen Möglichkeit ist vielmehr die Verabsolutierung einer einmal getroffenen Entscheidung gegen alle Folgeprobleme und voranschreitende Erfahrung. Es handelt sich um „ein Eingeklemmtsein oder Festgebanntsein auf einer bestimmten Höhenstufe oder Sprosse menschlicher Problematik . . . Sofern hier überhaupt noch „Erfahrungen“ gemacht werden, werden sie nicht mehr als solche gewertet und verwertet; denn „der Wert“ liegt hier ein für allemal fest. Der Verstiegene hat sich irreversibel seiner eigenen Entscheidung ausgeliefert und alle Beweglichkeit in der Wahrnehmung der Verhältnisse eingebüßt. Einzig durch fremde Hilfe kann er wieder Boden unter den Füßen gewinnen.

Unverfrorene Dummheit nun ist so etwas wie potenzierte Verstiegenheit,
gewissermaßen Verstiegenheit hoch zwei

Übersteigerte Ambitioniertheit und Selbstüberschätzung sind hier Hybris. Eine ideologische Grundpolung, eine wesensmäßig Verstiegenheiten, wird derart verabsolutiert, dass die darin geglaubte Wahrheit den unauslöschlichen Charakter einer apodiktischen Evidenz (nach Edmund Husserl: „schlecht hinnige Unausdenkbarkeit des Nichtseins derselben“) bekommt – er kann sich gar nicht vorstellen, dass mit seinem Glauben irgendetwas nicht stimmt, unverfrorene Dummheit ist nicht nur (s)eine Befindlichkeit, sondern zugleich eine soziale Mechanik. Sie kennzeichnet den Realitätsverlust in Gruppen ebenso wie die Perpetuierung von Zuständen, die wir gemeinhin als „kafkaesk“ bezeichnen. Hierzu bedarf sie freilicheiner kollektiven Struktur wechselseitiger Verpflichtung und Bestätigung. Bei alledem ist und bleibt wichtig: Unverfrorene Dummheit ist eine reine Beobachterkategorie, die allenfalls „von außen“ Geltung beanspruchen kann.

Nov. 2023 | Heidelberg, Allgemein, Essay, Gesundheit, In vino veritas, Junge Rundschau, Sapere aude | Kommentieren