In Kiew: Das tun Menschen Menschen an

Russland greift mit einer neuen Strategie an, und die Ukrainer schlagen zurück. In den nächsten Monaten könnte es auch in der Luft zu einem Abnützungskrieg kommen – Kiew ist verwundbarer. Selbst nach 21 Monaten wartet Moskaus Angriffskrieg gegen die Ukraine mit unerfreulichen Premieren auf. Am frühen Samstagmorgen schossen die Russen die bisher höchste Zahl von Kamikaze-Drohnen gegen Kiew ab: 75 unbemannte Flugobjekte des ursprünglich aus Iran stammenden Typs Shahed, darauf folgten neun in der folgenden Nacht. Nur zwei der Drohnen sollen ihre Ziele erreicht haben.

 

Die Ukrainer reagierten am frühen Sonntagmorgen mit einer eigenen Attacke

Sie schossen 24 Drohnen auf Städte in vier westrussischen Regionen. Laut der russischen Luftverteidigung wurden alle zerstört. Die Glaubwürdigkeit der Angaben beider Seiten ist schwer zu überprüfen: Auf Videos sind Schäden sowohl in der russischen Stadt Tula als auch in Kiew zu sehen. In der ukrainischen Kapitale gab es fünf Verletzte.

Die ukrainische Luftverteidigung funktioniert

Es dürfte kein Zufall sein, dass Russland den Angriff am Gedenktag für den Holodomor lancierte, dem Massenmord an vier Millionen Ukrainern, welche der sowjetische Gewaltherrscher Josef Stalin in den dreissiger Jahren bewusst verhungern liess. Präsident Selenski sprach an einer Veranstaltung von bewusstem Terror. «Die russische Führung ist stolz auf ihre Fähigkeit zu töten.»

Dass die Luftverteidigung relativ erfolgreich war, stellt für Kiew eine Erleichterung dar. Komfortabel ist die Lage dennoch nicht. Die Details zum Angriff lassen ambivalente Schlüsse zu: So kamen die Drohnen laut der Luftwaffe aus der westrussischen Region Kursk und aus der Stadt Primorsko-Achtarsk im Süden. Die beiden Schwärme überflogen jeweils mehrere hundert Kilometer ukrainischen Luftraums, bevor sie sich in der Nähe der Hauptstadt zur Attacke vereinigten.

Von hier flogen die Drohnen in Richtung Kiew

Offenkundig hatte die Luftverteidigung wenig Mittel, um die Drohnen unterwegs abzufangen: 66 wurden erst in der Region Kiew zerstört, viele davon wohl direkt über der Hauptstadt. Die gute Nachricht ist, dass mobile Anti-Drohnen-Einheiten für 40 Prozent der Abschüsse verantwortlich sein sollen: Dabei handelt es sich um Soldaten in Pick-ups, die mit auf den Ladeflächen installierten Maschinengewehren und kleinkalibrigen Kanonen die Drohnen mit Leuchtmunition beschiessen.

Die wachsenden Fähigkeiten dieser relativ simpel und nur teilweise mit elektronischen Mitteln gegen Drohnen ausgerüsteten Truppen sind deshalb bedeutsam, weil jeder Abschuss durch sie eine teure Hightech-Rakete der Flugabwehr einspart. Dies ist speziell bei den billigen Shahed-Drohnen wichtig, wo sich das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag für die Verteidiger ungünstig präsentiert.

Die Attacke vom Sonntagmorgen zeigt aber, dass auch Kiew günstige unbemannte Flugobjekte entwickelt, um die Luftverteidigung des Gegners auszumanövrieren. Eine anonyme Quelle aus dem Militärgeheimdienst sagte einer Zeitung, man wolle so deren «Löchrigkeit» demonstrieren. In russischen Medien heisst es, einige der am Wochenende eingesetzten Drohnen ähnelten den Shaheds. Die Kriegsgegner kopieren regelmässig jene Technologien voneinander, die sich als effektiv erwiesen haben.

Russland hat viele Raketen und Drohnen im Arsenal

Dennoch ist klar, dass die Ukraine wegen der industriellen Übermacht und Grösse des Gegners russischen Raketen- und Drohnenangriffen gegenüber deutlich verwundbarer ist. Die Luftverteidigung über den grossen Städten des Landes ist heute zwar dank modernen Systemen wie den amerikanischen Patriots oder den Nasams und Iris-T aus verschiedenen westlichen Ländern deutlich robuster. Doch der Nachschub der nur in begrenzten Mengen verfügbaren und weltweit begehrten Raketen bleibt volatil.

Die Russen testen offenkundig die Verteidigungssysteme und dürften ihre Taktik im Verlauf des Winters weiter anpassen. An Material mangelt es ihnen nicht: Die Luftwaffe in Kiew spricht von 700 bis 1000 Drohnen in den Arsenalen des Gegners. Dazu kommen laut Geheimdiensten etwa 900 Marschflugkörper und Raketen unterschiedlichen Typs, die Moskau in den letzten Monaten gehortet haben soll. Allerdings glauben Experten, dass die Russen Probleme haben, diese auch zu verwenden.

Die erfolgreichen ukrainischen Angriffe gegen die Schwarzmeerflotte auf der besetzten Krim haben Moskau dazu gezwungen, die zum Abschuss der Raketen genutzten Schiffe in den südrussischen Hafen von Noworossisk zu verlegen. Dort fehlt aber laut britischen Angaben die Logistik für einen regelmässigen Einsatz. Dass die Angriffe in den letzten Monaten sehr spärlich blieben, könnte deshalb auch damit zusammenhängen.

Klar ist hingegen, dass die zivile Infrastruktur, vor allem im Energiebereich, das zentrale Ziel des Raketenterrors darstellt. Russland hofft, dass diese nach dem letzten Winter nur notdürftig repariert wurde und anfällig bleibt.

Wie verletzlich die Infrastruktur ist, lässt sich nach dem Angriff vom Samstag nicht definitiv sagen: Zwar kam es «nur» zu Stromausfällen in einigen hundert Haushalten und Institutionen, die Schäden wurden rasch behoben.

Doch am Sonntag musste die nationale Betreibergesellschaft Ukrenerho einräumen, Treffer an wichtigen Versorgungslinien hätten fast zu einer Notabschaltung des Stroms in der Hauptstadt geführt.

Russland (bez. die Ganoven am Schreibtisch) werden zweifellos versuchen, Schwächen im Verlauf des Winters systematisch auszunutzen – Geld stinkt nicht. …

Nov. 2023 | Allgemein, Politik, Sapere aude, Die Hoffnung stirbt zuletzt | Kommentieren