1960 veröffentlichte der Heidegger-Schüler Hans-Georg Gadamer
(* 11. 2. 1900, Marburg † 13. 3. 2002, Heidelberg) sein Hauptwerk Wahrheit und Methode, den großangelegten Versuch einer „philosophischen Hermeneutik“.
Darin geht es ihm um „Wahrheit“ statt „Methode“ (verstanden als Verfahrensweise, die sachliche oder symbolische Zusammenhänge nach intersubjektiv kontrollierten Regeln, also nach dem Vorbild der mathematisch-naturwissenschaftlichen „Methode“ zu analysieren sucht. Dieses Werk löste in der Folgezeit auch eine verstärkte hermeneutische Reflexion in der deutschen Literaturwissenschaft aus. Wir erinnern uns vieler intensiver Stunden mit ihm in Heidelberg in der Grabengasse und gedenken seiner, indem wir sein Hauptwerk (es jedenfalls versuchen) in Erinnernung bringen.
Hans-Georg Gadamer, der sich selbst als unpolitischen Denker sah, hat die Philosophie stets vor politischer Anmaßung gewarnt. Er unterlies kaum eine Gelegenheit, aus der Berufung der Philosophie jederzeit die entschiedensten Konsequenzen aus allem zu ziehen, die Rolle des Propheten hingegen, des Predigers oder auch nur des Besserwissers stehe ihr schlecht. Gefragt, was ihm Rechtfertigung von Philosopie heute bedeutet, war seine Antwort, sie stärke die Urteilskraft. Etwas, um das es in unserer von gemachten Meinungen umdröhnten Welt nicht zum Besten steht.
Urteilen, für ihn war dies die Fähigkeit, ein gegebenes Besonderes so auf ein Allgemeines hin zu reflektieren, dass sich vertiefte Einsicht in beides einstellt. Dafür gibt es keine Regel. Urteilskraft als Frucht freien Denkens kann nicht gelehrt, sondern nur geweckt werden, indem man sie von Fall zu Fall übt. Am besten im Gespräch, in der Spontaneität unvorbedachten Fragens und Antwortens.
Hermeneutik ist für Gadamer mehr Geschehen als Verstehen
Sie ist die besondere Art und Weise, in der ein kulturell gewachsener Überlieferungs-, Traditions- und Normzusammenhang aufrechterhalten bzw. weiterentwickelt wird. Dabei akzentuiert Gadamer die Sprachlichkeit des hermeneutischen Geschehens, das heißt, er betont die Vorgegebenheit eines Sprachsystems und die Teilhabe der Individuen daran. Durch das Lesen, Auslegen und Weitervermitteln von überlieferten Texten, vor allem auch durch ihre Neuinterpretation, schließen wir unsere Gegenwart immer aufs Neue an die soziokulturelle Tradition an.
Wahrheit und Methode
Eine entscheidende Frage für die Hermeneutik ist ihr Umgang mit der sogenannten hermeneutischen Distanz, also etwa der historischen Differenz zwischen Text und Leser. Hans-Georg Gadamer diskutiert diese Frage unter dem Begriff des Zeitabstands.
Die hermeneutische Bedeutung des Zeitabstandes
Die Hermeneutik müsse davon ausgehen, dass, wer verstehen will, mit der Sache, die mit der Überlieferung zur Sprache komme, verbunden sei und an die Tradition Anschluss hat oder Anschluss gewinnt, aus der die Überlieferung spreche. Auf der anderen Seite wisse das hermeneutische Bewusstsein, dass es mit dieser Sache nicht in der Weise einer fraglos selbstverständlichen Einigkeit verbunden sein kann, wie sie für das ungbrochene Fortleben einer Tradition gelte. Es bestehe wirklich eine Polarität von Vertrautheit und Fremdheit, auf die sich die Aufgabe der Hermeneutik gründe, nur dass diese nicht mit Schleiermacher psychologisch als die Spannweite, die das Geheimnis der Individualität birgt, zu verstehen sei, sondern wahrhaft hermeneutisch, das heißt im Hinblick auf ein Gesagtes: die Sprache, mit der die Überlieferung uns anredet, die Sage, die sie uns sagt. Auch hier ist eine Spannung gegeben. Die Stellung zwischen Fremdheit und Vertrautheit, die die Überlieferung für uns hat, ist das Zwischen zwischen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Traditon. In diesem Zwischen sei der wahre Ort der Hermeneutik.
Nun ist die Zeit nicht mehr primär ein Abgrund, der überbrückt werden muss, weil er trennt und fernhält, sie ist in Wahrheit der tragende Grund des Geschehens, in dem das Gegenwärtige wurzelt.
Der Zeitabstand ist daher nicht etwas, was überwunden werden muss. Das war vielmehr die naive Voraussetzung des Historismus, dass man sich nämlich in den Geist der Zeit versetzen, dass man in deren Begriffen und Vorstellungen denken solle und nicht in seinen eigenen und auf diese Weise zur historischen Objektivität vordringen könne. In Wahrheit komme es darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens zu erkennen. Er ist nicht ein gähnender Abgrund, sondern ist ausgefüllt durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt. Hier ist es nicht zuviel, von einer echten Produktivität des Geschehens zu sprechen. Jedermann kennt die eigentümliche Ohnmacht unseres Urteils dort, wo uns nicht der Abstand der Zeiten sichere Maßstäbe anvertraut hat. So ist das Urteil über gegenwärtige Kunst für das wissenschaftliche Bewußtsein von verzweifelter Unsicherheit. Offenbar sind es unkontrollierbare Vorurteile, unter denen wir an solche Schöpfungen herangehen, Voraussetzungen, die uns viel zu sehr einnehmen, als daß wir sie wissen könnten und die der zeitgenössischen Schöpfung eine Überresonanz zu verleihen vermögen, die ihrem wahren Gehalt, ihrer wahren Bedeutung nicht entspricht. Erst das Absterben aller aktuellen Bezüge lasse ihre eigene Gestalt sichtbar werden und ermögliche damit ein Verständnis des in ihnen Gesagten, das verbindliche Allgemeinheit beanspruchen könne.
„Diese Erfahrung ist es, die in der historischen Forschung zu der Vorstellung geführt hat, dass erst aus einem gewissen geschichtlichen Abstand heraus objektive Erkenntnis erreichbar werde. Es ist wahr, dass, was an einer Sache ist, der ihr selbst innewohnende Gehalt, sich erst im Abstand von der aus flüchtigen Umständen entstandenen Aktualität scheidet“. Gewisse Fehlerquellen seien da zwar von selbst ausgeschaltet, Es frage sich aber, ob das hermeneutische Problem sich damit erschöpfe. Der zeitliche Abstand habe offenbar noch einen anderen Sinn als den der Abtötung des eigenen Interesses am Gegenstand. Er lasse den wahren Sinn, der in einer Sache liegt, erst voll herauskommen. Die Ausschöpfung des wahren Sinnes aber, der in einem Text, in einer künstlerischen Schöpfung oder etwa in vielen Gesprächen im „Rundschau-Hof in der GraGa“ gelegen ist, kommt nicht irgendwo zum Abschluss, sondern ist in Wahrheit ein – in diesem Sinn – unendlicher Prozeß:
„Das ist der Moment, wo die eigene, originäre Stimme des Textes spricht. Und auf diese Stimme,“ so schärft Gadamer immer wieder ein, „müssen wir uns einlassen“. Wir korrigieren unsere Erwartungen, um sogleich ein neues Verstehen zu entwerfen, das seinerseits wieder korrigiert werde. „Endlos kreist der hermeneutische Zirkel“, so beschreibt Gadamer die Struktur des Verstehens in einer seiner berühmt gewordenen Formulierung. Wobei etwas höchst Bemerkenswertes geschieht: Der Verstehenshorizont bewegt sich. Der Gegenwarts- und der Vergangenheitshorizont bewegen sich aufeinander zu, ja eigentlich sind sie immer in Bewegung. Mit jedem echten Verstehen fließen Gegenwart und Vergangenheit, Eigenes und Fremdes aufeinander zu, berühren sich, befruchten sich, bereichern uns. Der Leser dichtet mit: nun aber an einem überpersönlichen Text.
Eine ideale Konstruktion, so könnte man (wir haben es versucht) gegen Gadamer einwenden, die an den Realitäten vorbeigeht. Gadamer stimmt uns in einem Punkt zu: „Tatsächlich, allzu schnell verwechseln wir unsere Vormeinungen mit der zu verstehenden Sache selbst“. Und er überrascht uns mit einem weiteren Zugeständnis: „Eigentlich kommt es notwendigerweise zu einer solchen Verwechslung. Wir können nämlich aus dem wirkungsgeschichtlichen Strom nicht herausspringen und einen archimedischen Punkt besetzen, von wo aus die originäre Stimme gleichsam rein und unverstellt zu uns spricht“. Konkret verstanden: Wir können die Frage, was Platon, Kant oder auch – um ins literarische Feld zu wechseln und Lieblinge Gadamers selbst anzuführen – Friedrich Hölderlin, Stefan George oder Paul Celan „wirklich gesagt und gemeint haben, immer nur mittelbar erschließen.“ Anders gesagt: Das, was „wirklich“ war, könne für uns nie ein objektives Faktum sein, „nein, das, was wirklich war, schwimmt in einem Interpretationsprozess. Nur dort ist es zugänglich.“ Das heiße nun aber wiederum nicht, der zu verstehende Text sei uns „nur subjektiv zugänglich in dem Sinne, dass wir sagen müssen, jegliche Objektivität zerrinne uns in den Fingern. Schließlich haben wir die Stimme des Textes doch bei uns ankommen lassen.“
Nirgend sonst findet man so zur verborgenen Wahrheit sich vorarbeitende Sätze
über gesprochene Sprache und Gespräch als bei Gadamer
Oft haben wir von ihm gleichsam als Stoßseufzer gehört über das Mit-sich-allein-Sein dessen, der zum Schreiben verdammt ist. „Es ist wahr, dass es etwa für mich eine fürchterliche Qual ist, schreiben zu sollen. Wo ist das Gegenüber, diese schweigende und dennoch beständig antwortende Anwesenheit des Anderen, mit dem man das Gespräch sucht, um das Gespräch mit sich selbst fortzusetzen, das man Denken nennt?“ Gespräch, für Gadamer war dies immer eine Art Gegenüberglück. Das Glück eines auf Verstehen bedachten, wechselseitig mitreißenden, denkend in die Tiefe der Sache vordringenden Miteinanders von Menschen, die nicht darauf aus sind, Recht zu haben, sondern Wahrheit und Gemeinsamkeit suchen. Gibt es denn einen Gesprächsunfähigeren als den, der beweisen will, dass, was er sagt, das Wahre sein müsse? Unfähigkeit zum Gespräch ist Angst vor dem Gegenwort. Ihre modernste Form ist die Flucht ins Selberreden, weil niemand mehr zuhören will oder kann. Jener teils argumentative, teils affektive Rigorismus, der nur darauf zielt, das vom andern Gesagte mit Gegengründen stillzustellen, statt voranzubringen. Miteinander sprechen ist ein Nehmen und Geben und führt zur „Verwandlung ins Gemeinsame hin, in der man nicht bleibt, was man war“
Dass wir sie nicht in ein bleibend Objektives würden umgießen können …
… das sei ein Einwand nur für den, der am klassischen naturwissenschaftlichen Objektivitätsideal orientiert sei. „Das aber ist“ – läßt uns Gadamer am Ende dieses Gespräches wissen – „seit den Tagen der Quantenphysik selbst in den hermeneutischen Sog geraten.“
Ein Gespräch setzevoraus, dass auch der andere Recht haben könnte – was er so ja auch häufig geschrieben hat …
Antoine Mechler & Jürgen Gottschling