Nicht selten nämlich bringt Sprache das Gegenteil des Gesagten zum Ausdruck. Was aber lässt sich überhaupt in Worte fassen? Und was hätte Wittgenstein zur Debatte um „Cancel Culture“ gesagt?
„Wovon man nicht sprechen kann,
darüber muss man schweigen.“
Im letzten Satz seines Tractatus verbietet Ludwig Wittgenstein das Unmögliche. Warum aber sollte man etwas verbieten, das schon an sich unmöglich ist? Die Antwort ist recht einfach: Wenn wir das Verbot ignorieren, produzieren wir Aussagen, die – für Wittgenstein – bedeutungslos sind, wie etwa Spekulationen über den noumenalen Bereich in Kants Philosophie. Jacques Lacan schränkt auf ähnliche Weise das Inzestverbot ein, indem er behauptet, dass dessen Funktion darin besteht, das Unmögliche möglich zu machen: Wenn Inzest verboten werden muss, bedeutet das, dass er grundsätzlich möglich ist, sobald wir gegen das Verbot verstoßen.
Es gibt jedoch eine Ambiguität in Wittgensteins Satz, die in der Doppelbedeutung von „kann“ liegt: Es kann eine simple ontische Unmöglichkeit oder ein deontisches Verbot bedeuten („So darfst du nicht reden/ dich verhalten!“). Der Satz kann aber auch in einem radikalen ontologischen – von Wittgenstein intendierten – Sinn gelesen werden: Es gibt Dinge, über die man nicht sprechen kann (wie etwa metaphysische Spekulationen). Oder in einem konformistisch-deontischen Sinn: „Halt die Klappe über Dinge, über die du nicht sprechen darfst!“ Das Gegenstück dieser konformistischen Weisheit ist der ethische Imperativ: „Wovon man nicht schweigen kann, darüber muss man sprechen.“
Das Schweigen brechen
Schrecken wie der Holocaust, kommunistische „Säuberungen“ oder koloniale Katastrophen können nicht schweigend übergangen werden (wie es im heutigen China geschieht), wir müssen sie ans Licht bringen. Das Gegenteil dieser ethischen Aufforderung ist eine tautologische, zynische Weisheit: „Wovon man nicht schweigen kann, darüber muss man schweigen.“ Das bedeutet: Selbst wenn man weiß, dass man nicht schweigen kann, spricht man nicht darüber, denn Reden wäre eine zu große Gefahr. Was aber wäre mit der umgekehrten Tautologie: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man sprechen“?
Diese Tautologie definiert, was Dichtung ist: Dichtung ist der Versuch, in Worte zu fassen, was nicht gesagt werden kann. Und das gilt gerade für traumatische Ereignisse wie den Holocaust. Jede prosaische Beschreibung der Schrecken des Holocaust scheitert daran, das Traumatische wiederzugeben, und deshalb hatte Theodor W. Adorno unrecht mit seiner berühmten Behauptung, dass nach Ausschwitz keine Dichtung möglich sei: Es ist die Prosa, die nicht mehr möglich ist, da nur die Dichtung diese Aufgabe erfüllen kann. Dichtung ist die Übertragung von Unmöglichkeit in Sprache. Wenn wir etwas nicht direkt sagen können und dennoch darauf bestehen, es zu tun, geraten wir zwangsläufig in Wiederholungen, Aufschiebungen, mittelbare Rede, überraschende Brüche etc. Wir sollten uns immer vor Augen halten, dass die „Schönheit“ der klassischen Dichtkunst (symmetrische Reime etc.) erst an zweiter Stelle steht, dass sie ein Mittel ist, um das grundsätzliche Versagen oder die Unmöglichkeit zu kompensieren.
Worte als Fingerzeig
Doch das ist nicht Wittgensteins letztes Wort: Bereits im Tractatus führt er einen weiteren Begriff ein, der als Gegenstück zum Sprechen fungiert: nämlich das Zeigen. Wir können also auch sagen: „Wovon man nicht sprechen kann, das zeigt sich.“ Die Umkehrung dieser Aussage („Was man nicht zeigen kann, darüber muss man sprechen“) ist eine banale Alltagsvorstellung, da sie „zeigen“ auf die offensichtliche Bedeutung von „das, was augenscheinlich vor uns ist“ reduziert, was durch die Betrachtung des Äußeren einer Person veranschaulicht werden kann. Das Argument ist dann, dass die Konzentration auf das Aussehen einer Person die tiefere geistige Wahrheit der Person ignoriert, die Wahrheit, die nur durch Worte wiedergegeben werden kann, die diese Wahrheit beschreiben. Gegen diese Art der Argumentation sollte man sich auf die elementare Hegelsche Frage konzentrieren: Statt danach zu fragen, was das Geheimnis hinter der Erscheinung ist, gilt es zu ergründen, warum ein Ding überhaupt erscheint.
Kurzgesagt: Wittgensteins „Zeigen“ hat nichts mit dem „Erscheinen“ zu tun, sondern mit dem, was dahinter liegt. „Zeigen“ ist die Form der Erscheinung, die ignoriert wird, wenn wir uns auf das konzentrieren, was erscheint. Wittgenstein folgt hier Karl Marx und Sigmund Freud, die beide behaupten, dass das wahre Geheimnis nicht das Jenseits der Erscheinung ist, sondern die Form selbst (die Warenform, die Form der Träume). Der Unterschied zwischen Zeigen und Schweigen besteht indessen darin, dass Schweigen ein Akt ist: Ich entscheide mich, nicht zu sprechen, was impliziert, dass ich mich bereits im Bereich der Sprache befinde (ein Stein „schweigt“ nicht). Zeigen dagegen geschieht unwillkürlich, es ist ein Nebenprodukt dessen, was ich tue, wenn ich spreche: Ich entscheide nicht (und kann es auch nicht), was ich zeigen will.
Versagendes Sagen
Diese Einsicht, die Wittgenstein in vielen Versionen formuliert (wie z.B.: „Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden“) sollte aber nicht als Hinweis auf eine unaussprechliche, tiefere Wahrheit jenseits der Worte verstanden werden. Was nicht gesagt werden kann, ist dem Sprechen vielmehr immanent, es ist die Form, die das Sprechen zeigt, es ist das, was wir tun, wenn wir etwas sagen. Zu Wittgensteins Beispiel der „Ehrlichkeit“ könnten wir „Würde“ hinzufügen: Wenn man darüber spricht, ist man nicht würdevoll oder ehrlich. Ehrlichkeit und Würde kann man nur zeigen, indem man etwas tut, indem man als ehrliche oder würdevolle Person handelt.
Es gibt etwas, das ich – in Anlehnung an eine berühmte Szene aus dem Film Vier Hochzeiten und ein Todesfall – als das „Hugh-Grant-Paradoxon“ bezeichne: Der Held versucht, seine Liebe der Geliebten gegenüber zu artikulieren, aber verfängt sich dabei in stolpernde und verwirrte Wiederholungen, und gerade das Versagen, die Liebesbotschaft auf vollkommene Weise zu überbringen, bezeugt ihre Authentizität. In seinem Scheitern daran, über seine Liebe zu sprechen, zeigt er sie (obwohl sich ein solches Versagen natürlich auch vortäuschen lässt). Wir haben es hier mit Wittgensteins Version von „Es gibt keine Metasprache“ zu tun: Ein Sprechakt kann nicht in das, was er sagt, seine eigene Form, seinen eigenen Akt einschließen.
Jon Elster hat dieses Merkmal in seinen Überlegungen zu „Zuständen, die im Wesentlichen Nebenprodukte sind“ formuliert: „Einige psychologische und soziale Zustände haben die Eigenschaft, dass sie nur als Nebenprodukt von Handlungen entstehen können, die zu anderen Zwecken unternommen werden. Sie können also niemals intelligent und absichtlich herbeigeführt werden, weil der Versuch, dies zu tun, den Zustand, den man herbeiführen will, ausschließt. Ich nenne sie ‚Zustände, die im Wesentlichen Nebenprodukte sind‘. Es gibt viele Zustände, die als Nebenprodukte individuellen oder kollektiven Handelns entstehen können, aber dies ist die Teilmenge der Zustände, die nur auf diese Weise entstehen können. Einige dieser Zustände sind sehr nützlich oder wünschenswert, sodass es sehr verlockend ist zu versuchen, sie herbeizuführen. Wir können solche Versuche als ‚Willensüberschuss‘ bezeichnen, eine Form der Hybris, die unser Leben durchdringt, vielleicht sogar in zunehmendem Maße.“