boeser_bube 2Sapere aude: Anschwellende Arbeitslosenheere, wachsende Armut, leere öffentliche Kassen, steigende Verschuldung: Hängt das Modell Deutschland in der Sackgasse? Offenkundig ist, dass die Karre einmal mehr zumindest ein wenig mehr als gar nicht im Dreck steckt. Derweil streiten sich die Insassen in zunehmend schrillen Tonlagen. Ein Schlagwort klingt immer lauter durch das Gezeter und Gewirr: “Elite”. Elite – nun ja … ein (ehemaliger) KFG-Hebräischehrer (genau, ebender) tönte vorzeiten davon, seine Schüler hörten hingegen eher amüsiert bis irritiert zu (desgleichen, wenn von anderer Seite “Klassengesellschaft” sowie “Establishment” ins Spiel gebracht wurde). Aber, im sozialrevolutionären Pathos der älter gewordenen Achtundsechziger – und das war an allen Schulen vernehmbar, und das wussten auch die Jüngeren – steckte ein nur allzu wahrer Kern.

Manche müssen im Duden oder  (na ja)  bei Wikipedia nachschauen

Und wir? Die da das Wort “elitär” in den Mund nehmen, die müssen schon der Elite angehören. Elite, das kommt vom lateinischen eligere, auslesen. Wer aber dies Wort von einer anderen Warte aus gebraucht, der freilich meint es jenen gegenüber häufig als Schimpfwort; ein richtiger Demokrat verachte Eliten. “Die Demokratie”, meint Heinrich Heine, “führt das Ende der Literatur herbei: Freiheit und Gleichheit des Stils. Jedem sei es erlaubt, nach Willkür, aber so schlecht er wolle zu schreiben (siehe: Rechtschreibrevorm), und doch soll kein anderer ihn stilistisch überragen und besser schreiben dürfen”. 
Solche Ansichten müssen jeden braven Schreiber, der zwar gern ein richtiger Demokrat wäre, aber auch dieser oder jener Elite gern angehörte, doch schon recht traurig stimmen. Aber, gesetzt, man hat seine Reife nicht an einem etwa „Humanistischen Gymnasium“ abgelegt – und gehörte so nach Meinung dortiger Absolventen per se zur Elite  – bitte was kann denn anderswo planmäßig angesetzte Unbegabtenförderung schon anderes produzieren, denn etablierte Halbbildung?
 Und, diese angewandte, moderne Didaktik trägt dorten dann das Ihre dazu bei, dass motivationspsychologisch überarbeitete Inhalte so zurecht beschnitten werden, dass sie auch der Dümmste schluckt. Die institutionalisierte Produktion von Halbbildung, von Besserwissern, Bescheidwissern und Halbverstehern reicht von der Schulbank bis zu den massenmedialen Konsumenten vor (und auf) den Bildschirmen.
Wenn Schüler anderer Bildungsanstalten einen Altsprachler schon als “elitär” brandmarken, dann darf von jenem über die Frage nachgedacht werden:  Nun sprich, wie hältst du´s mit der Demokratie? Der Arme wird nicht schlecht erschrecken, wenn er – wie beispielsweise in aller Bescheidenheit ich – bei dieser Selbstprüfung einen Abgrund von elitären Gelüsten entdeckt.

Es sei auch der Weg – nicht nur das Ziel

So war ich schon früh vom Wunsch nachgerade beseelt, das Skatspiel zu erlernen. Über Jahre hinweg in (damals) recht trostlosem NDR-Redaktionsalltag  haben viele freundliche Kollegen versucht, mir das Eindringen in zumindest diese Elite zu ermöglichen: Es ist jedoch schon am (sic) Reizen gescheitert, an dieser mir unbegreiflichen Einführungslitanei in den Gebrauch des 32blättrigen Gebetbuchs. In den langen Mußestunden zwischen Nachrichteneingang und deren Verwertung war ich im Casino stets auf Mauscheln, Siebzehnundvier und Pokern angewiesen, auf diese plebejischen Mischungen von Glück und Bluff, und schließlich hatte ich mich damit abzufinden, dass ich für den elitär-intellektuellen Skat einfach zu tumb bin.

Wittgenstein und Wein …

Hätte ich nicht spätestens zu diesem Zeitpunkt wissen müssen sollen, dass mir auch der “Tractatus logico-philosophicus” – aus dem ich gleichwohl gerne und erst recht auch in den in vino veritates zitiere – auf ewig würde verschlossen bleiben? Nun habe ich – wie wohl beinahe jeder andere auch – den letzten Satz aus dem Paragraphen sieben des Traktates gerade noch verstanden: “Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen”; hingegen habe ich noch lange und noch immer nicht den Paragraphen sechs verstanden, der da lautet: “Die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion ist: ¥, ∂, N ¥ ¤”. Über diese Formel kann ich nicht nur nicht sprechen. 
Und so brennend mich gerade und zumal bei Wittgenstein die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion interessierte – der von mir ehrfürchtig bewunderte Philosoph gebietet mir, darüber in der Tat zu schweigen. Zur Elite der Wittgenstein-Leser werde ich nie gehören …

Wittgenstein oder Adorno

Nun läßt sich freilich einwenden: Muss es gerade Wittgenstein sein? Müssen muss das freilich Niemand. Bei Adorno aber ergeht es mir oft nicht besser. Bei einem so einfachen seiner Sätze wie “Die Fülle des Gegenständlichen, die bei Hegel vom Gedanken gedeutet wird und ihrerseits ihn nährt, fällt demnach nicht sowohl seiner realistischen Sinnesart zu, als seiner Weise von Amnesie, der Versenkung des Geistes in sich selber”, oder, in Hegels Worten, dem “in sich Hineingehen, sich Zusammenziehen des Seins”, schon bei dieser Simplizität zieht sich bei mir irgendetwas zusammen, vielleicht sogar das Sein. Und schon blicke ich hoffnungslos auf zu jener Elite, die da am Neckarstaden lehrt und lernt, die der Ergötzung an Adorno (und und und) mächtig ist …

Der Trost, dass nicht nur mehr als neunzig Prozent der deutschsprachigen Erdpopulation, sondern auch – was Wunder dann natürlich – die meisten Absolventen des ehemaligen  Heidelberger “Elite”-Gymnasiums (das ist aber schon lange nicht mehr das KFG) von der gesamten “edition suhrkamp”  kaum ein Wort verstehen, mag wohl demokratisch sein. Gleichwohl ist´s ein schwacher Trost.
Abiball, Abiverabschiedung, Abi- und Schulkonzert und was der altsprachlichen Schulen Höhe- und Punkte allein in diesem Jahr mehr waren und sind, bleibt, als elitär zu verteufeln, allenfalls snobialrümpfenden Kritikastern gestattet.

Dame, Mühle & Aficionados

Allgemeiner Verständnislosigkeit und besonderer Uninformiertheit wegen fühle ich mich ausgeschlossen von den geistvollen Analysen der Gruppierungen in diesen Institutionen. Damit, wie auch, dass ich ausgeschlossen bin von lustvollen Imperativen wie “Weiß: Kh8, Bc6. – Schwarz: Ka6, Bh5. – Weiß zieht und hält remis” – (jeder Schachspieler weiß, daß dies die berühmteste aller Endspielstudien ist) – aber ich gehöre auch nicht zur Aristokratie der Brettspieler. Ich muss mich mit Dame und Mühle begnügen. Ausgeschlossen auch von den haarspalterischen Diskussionen der Aficionados über klassische Eröffnung einer “faena” durch einen “pase de muerte” – obgleich auf Einladung Paolos durchaus nicht nur theoretisch im spanischen Feriendorf blutenden Hemdes und Herzens einen abbekommen …

Ausgeschlossen auch zu guter Letzt von den primitiveren, aber auch erregenderen Abseits-Debatten der gerade von “Deut-Schlaaand” nach einem gerade verlorenen Spiel gegen wen auch immer? erst mal wieder mal irgendwann endlich wieder mal zu gewinnenden Weltmeisterschaft, und, obgleich professioneller Kritiker und durchaus nicht ohne Blick für Kurven, ausgeschlossen von auch den beneidenswert eindeutigen Kurvendiskussionen der analytischen Geometrie.

“Draußen vor der Tür”

Sie ist voller Eliten, unsere Welt, überall werden die “happy few” verlangt, von den wenigen, denen die Regeln geläufig sind; und ich stehe draußen vor der Tür, unfähig, in die Auslese der Besten vorzudringen.
Wer mir in dieser frustrierenden Situation “elitäre Bedürfnisse nach subtilem, freiem Kunstgenuss” vorwirft, der macht mich natürlich stolz und glücklich: Endlich mal jemand, der mich in überhaupt einer Elite vermutet! Denn wie die Skat-, Schach- und Fußballspieler, die Musik-, Mathematik- und Philosophie-Fans selbstverständlich Auslesen sind mit elitären Bedürfnissen, Kenntnissen und Ansprüchen.
Alles, so sieht der elitäre Volksmund ein, ist schließlich nicht für alle.

“Uns ist gegeben, auf keiner Stufe zu ruhn” – Veritanische Akademie gegründet

Ohne elitäre Ästhetik wäre auch Schule matt und verlogen; Wahrheit hat – in den wenigen köstlichen Augenblicken, da Kairos vorbeischreitet, auch und gerade in der Schule eine Funktion der Schönheit: Wenn im Unterricht etwa ein ästhetisch unzulänglicher Schüler das Einmaleins aufsagt, glaubt ihm der Rest der Klasse nicht, dass ein mal eins immer nur eins wäre. Wie überhaupt zum Beispiel Mathematik nach Meinung großer mathematischer Denker nicht nur Zahlengesetzmäßigkeit oder Hypoelliptizität offenbart, sondern allemal Begriffe von Totalität und Kausalität erfasst, wie schließlich dialektische zum Begreifen körperloser Formen und scheinhaften Seins. “Uns ist gegeben, auf keiner Stufe zu ruhn?“ Auf denn, lassen wir uns (von Hölderlin) auf steilem Pfad aus der Höhle des Gemeinwesens hinaufführen zur vita contemplativa, zu einem Leben des beständigen Nachdenkens, diesem antiken Bildungsideal mit seinem kategorischen Imperativ zur Kontemplation. Derweil Bildung und Führung als Instrument des Abrückens vom Volk gesehen wurde, unterstrich der Gebrauch des Lateinischen und die Voraussetzung seiner Kenntnis für Gebildete diese Trennung noch erheblich. Das ist ja heute nicht mehr so. Selbst in naturwissenschaftlich ausgerichteten Gymnasien wird Latein mittlerweile vermittelt. Womit die Kluft – haben wir das wirklich wollen können – zwischen den Bildungseliten und den im soziologischen Sinn definierbaren Massen überbrückt wäre? Wie dem auch immer sei: für Jürgen Gottschling kommt („to old, to die joung“) das zu spät. Immerhin aber wurde so den entscheidenden Spannungsvoraussetzungen – die auf dem Bismarckplatz oder im Bus oder der Straßenbahn noch immer ausgetragen werden – ein Teil ihrer offenbar erheblichen Sprengkraft genommen. Klammheimlich: Welch abscheuliche Gleichmacherei – kann denn Schule Sünde sein?
In Heidelberg haben wir gerade eine, die Veritanische Akademie gegründet!

Elite als Ernstfall

Im Deutschland von 2017 – in dem Unternehmen steigende Gewinne melden und trotzdem immer mehr Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben – bedarf es noch einer anderen Art von Elite als etwa jener Standes- und Privilegien-Elite, die sich spätesten 1919 selbst diskreditierte, jener oft um ihrer selbst willen bewunderten Parteichefs, Wirtschaftsführern und Generalen – von jenen nach 1933 hier ganz zu schweigen – also “der Elite, den Inhabern der jeweils höchsten Führungspositionen”. Aber, schlimmer noch, hat die Bundesrepublik einen beträchtlichen Teil jener professionellen Klasse, die im “Dritten Reich” gedient und gedienert hatte, in des beste Deutschland aller Zeiten herübergerettet. Hans Globke, Theodor Maunz oder Georg Kiesinger stehen noch heute für die Korrumpierbarkeit von Eliten mit Sitzfleisch: Hätte vielleicht stattdessen ein wenig mehr Rückgrat sein müssen?

Heute bedürfen wir einer Elite, für die der Anspruch auf Rechte einhergeht mit dem Bewusstsein sozialer Verpflichtung, jener, für die Führung ohne Solidarität nicht denkbar ist; für die die Suche nach Spitzenleistungen das Streben nach Chancengerechtigkeit einschließt; die das eigene Interesse im Lichte des Gemeinwohls definiert; und die ihren gesellschaftlichen Repräsentationsanspruch immer wieder von neuem legitimiert, indem sie sich vergewissert, ob sie die Bedürfnisse der Repräsentierten auch wirklich gehört und verstanden hat.
Das nennen wir nun Verantwortungselite.

Okt 2023 | Heidelberg, Allgemein, Feuilleton, In vino veritas, Junge Rundschau, Senioren | 1 Kommentar