Dieses sein Land brauche eine neue Elite – Schachspielen allein – zumal er gerade am verlieren ist – genüge ihm von heute an nicht mehr, sagts, steht auf und verläßt – hörbar und mit sich nun im Einklang – den Raum.
Von von Lotsch ist wohl der letzte seiner Art, Bildungsbürger alter Schule und dennoch gefangen im Strudel des Belanglosen, vergessen im seichten Alltag aus Berieselung und Stumpfsinn. Von von Lotsch ist auf dem besten Weg vom Bildungs- zum Einbildungsbürger zu werden, ein Weg, den schon so viele vor ihm beschreiten mussten.
„Wer denkt, fliegt raus“, murmelt er resigniert. „Ich gehöre schon zur Halluzinenzija“, sagt er dann laut zu sich selbst und weiß doch, dass ihn längst niemand mehr versteht. Dennoch lässt er seine Weisheit noch einmal aufblitzen und spielt ironisch auf die russische Bildungsschicht des 19. Jahrhunderts an.
Angesengte Seiten wirbeln umher. Asche, die einst Goethes „Faust“ gewesen ist, rieselt herab. Es herrscht heller Aufruhr. Wie durch ein Wunder wird niemand verletzt, das Büchereimobil war komplett leer. Schon bald wird klar: Es war ein Anschlag. Experten sehen gleich einen Zusammenhang mit dem neu aufgekommenen Phänomen des Bildungsterrors und – was Wunder – vermute man Kai von Lotsch als Drahtzieher dahinter.
Olaf Breitling ist in der Stadt
Mehrfach nämlich hatte er der Stadt gedroht, gegen das verhasste Büchereimobil vorzugehen. Es sei jämmerlich und eine Beleidigung für gebildete Menschen. Von von Lotsch jedoch ist mittlerweile untergetaucht, und so findet das SEK beim Sturm auf sein Arbeitszimmer nur einen auf Büttenpapier geschriebenen Brief, der in wohl überlegten Worten grausame Vergeltung ankündigt.
Die breite Masse bekommt von dem ganzen Geschehen derweil kaum etwas mit – trotz seitenlanger Berichterstattung in der Provimzzeitung und einer Sondersendung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Was Wunder, Olaf Breitling ist in der Stadt, und niemand will das Konzert des Teenieschwarms verpassen. Das nun aber genau ist jetzt die Gelegenheit, auf die Kai von Lotsch lange schon gewartet hat.
Am Abend steigt Olaf Breitling vor der Stadthalle aus seiner übergroßen Playmobil-Limo und wirft einen gelangweilten Blick auf die wartenden Fanmeut*innen. Und kaum hat der Kopf wieder gewendet, steckt dieser schon in einem großen weinroten Brokatsack und wird mit einer goldenen Kordel verschnürt. „Hab ich dich, Volksverdummer!“, freut sich von Lotsch, der sich als Breitling´s Chauffeur ausgegeben hatte und mit einem kleinen Häufchen Bildungsterroristen, die Breitling´s Bodyguard spielten, angerückt war.
Schon eine Dreiviertelstunde später findet sich Olaf Breitling angebunden an eine Schulbank im verlassenen KFG wieder. Um ihn herum zwei Dutzend andere gekidnappte Teeniestars, geknebelt, aber fein säuberlich in Schuluniformen gesteckt. An der Tafel steht von von Lotsch persönlich und zwirbelt siegessicher seinen Bart, neben ihm eine alte Karte von Mitteleuropa.
Geheime Mitglieder seiner Bildungsterrorzelle
„Herrschaften!“, brüllt Oberlehrer von Breitling von Lotsch und die andern an. „Heute zwei Stunden Geographie, dann Mathe, Deutsch und Staatsbürgerkunde; morgen Schulliteratur-Leistungskurs und Sport; Mittwoch Musik (da werden dann unser Schulchor „the Incognitos“ – mal zu Gehör bringen, was unser Musikleistungskurs zu leisten in der Lage ist: (https://www.youtube.com/watch?v=Rnf7NChyhJM&list=RDRnf7NChyhJM&start_radio=1) Kunst und Philosophie; Donnerstag Naturwissenschaften; Freitag Astronomie, Werken und Hauswirtschaft. Am Wochenende machen wir einen Ausflug nach Buchenwald.“ Weit aufgerissene Augen starren ihn an, einige der unfreiwilligen Schüler zerren an ihren Fesseln, andere stöhnen laut.
Der Plan würde aufgehen, da war sich Kai von Lotsch sicher. Sie würden zu Schläfern werden, geheimen Mitgliedern seiner Bildungsterrorzelle. Sie würden sich ins Herz der belanglosen Idiotengesellschaft zurückschleichen und dann blitzschnell zuschlagen, mit all ihrem erworbenen Wissen, und die Welt von der Herrschaft der Oberflächlichkeiten befreien. Von von Lotsch lacht laut und kehlig auf, dann wandelt sich das Lachen in Husten. Mit einem Scheppern purzelt die Cognac-Flasche von Tisch und von von Lotsch schreckt hoch.
„Scheibenkleister, vermaledeit!“, brüllt er. Es war alles nur ein Traum. Der Cognac ist leer, so leer wie sein Arbeitszimmer. Die Illusion ist zerronnen. Aber wer weiß, vielleicht würde irgendwann sein Traum vielleicht doch noch wahr?
Jetzt aber musste sich von von Lotsch um die wichtigen Dinge kümmern, heute Abend sollte es Entenstopfleber mit Safranreis geben, und er hatte kein einziges Gramm Foie gras zu Hause.