Um die Einführung der Kindergrundsicherung wird eine Scheindebatte geführt: Die FDP fürchtet „mangelnde Arbeitsanreize“ für Erziehungsberechtigte. Ein Wutausbruch

10 nach 8 Kindergrundsicherung
Bis Eltern die Unterstützung von Amts wegen erreicht, vergehen oft Monate. Blöd nur, wenn das Kind in der Zwischenzeit essen möchte

Erinnern Sie sich noch an die Diskussion über die Kindergrundsicherung? Was frage ich! Nach den wochenlangen, ermüdenden Diskussionen hat inzwischen wohl jeder die Debatte erfolgreich verdrängt. Zur Erinnerung: Die Grünen-Familienministerin Lisa Paus wollte mit zwölf Milliarden Euro die Kinderarmut in Deutschland bekämpfen, Finanzminister Christian Lindner stampfte das Unternehmen auf 2,4 Milliarden Euro ein. Damit waren aber immer noch nicht alle Fragen innerhalb der Regierungskoalition geklärt.

Am vergangenen Freitag verkündete der erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Johannes Vogel, es gäbe für seine Partei noch immer Klärungsbedarf. Dieser betreffe die Frage des Bürokratieabbaus und „die Stärkung von Arbeitsanreizen“. Und täglich grüßt das Murmeltier! Die ganze Debatte über die Kindergrundsicherung hatte doch begonnen mit der ausdrücklichen Absicht, Bürokratie abzubauen. Wie kann es nach Monaten des Diskutierens und einer Einigung immer noch Klärungsbedarf geben? Wenn sich, was den bürokratischen Aufwand anbelangt, nichts gebessert haben sollte, wäre die Kindergrundsicherung gescheitert, bevor sie überhaupt in Kraft tritt.

Natürlich passt die Forderung nach Bürokratieabbau in das Programm der FDP. Allerdings trägt just der bürokratische Wahnsinn, eine Art gesetzlich implementierte Abschreckungsstrategie für potenzielle Antragssteller, dazu bei, dass die Kosten für die soziale Sicherung in diesem Land gedrückt werden können. Ob das beabsichtigt ist oder eher ein „Unfall“ im System, darf jeder für sich deuten.

Im derzeitigen System müssen Menschen, deren Einkommen nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt der eigenen Kinder zu decken, eine Vielzahl von Anträgen bei unterschiedlichen Behörden stellen. Ein Beispiel: Eine alleinerziehende Studentin kann für sich Bafög, für ihr Kind Kindergeld und ergänzendes Wohngeld beantragen. Für letzteres muss sie der Wohngeldstelle ihren Bafög-Bewilligungsbescheid vorlegen, die den Kindergeldanspruch und sonstige Einkommen der Studentin mit ihren monatlichen Kosten verrechnet und so einen Bedarf ermittelt. Da sowohl die Studentenwerke als auch die Wohngeldstellen eine sehr dünne Personaldecke besitzen, kann so etwas schon einmal Monate in Anspruch nehmen. Blöd nur, wenn das Kind in der Zwischenzeit essen möchte.

Ein anderes Beispiel: Eine Alleinerziehende arbeitet Teilzeit und erhält Kindesunterhalt vom Ex-Partner. Sie kann nun beispielsweise mit Bürgergeld „aufstocken“ oder Wohngeld beantragen. Ein Horror, falls ihre monatlichen Einnahmen schwanken, weil sie mal mehr, mal weniger Stunden arbeitet. Dann muss sie vierteljährlich ihre Einkünfte nachweisen, damit diese rückwirkend verrechnet werden können – und eine mögliche Überzahlung von Amts wegen zurückgefordert werden kann.

Ein letztes Beispiel: Nehmen wir ein Ehepaar mit geringem Einkommen, das einen Kinderzuschlag beantragen kann, um den finanziellen Bedarf des Kindes zu decken. Der Kinderzuschlag wird jedoch nur dann ausbezahlt, wenn Einkommen, Kinderzuschlag und eine mögliche Wohngeldzahlung genügen, um den Bedarf der Familie zu decken. Ist dies nicht der Fall, muss die Familie Bürgergeld beantragen. Total logisch, oder?

Es geht ja nicht nur um den prinzipiellen Irrsinn solcher Multi-Behörden-Verfahren. Jeder einzelne Antrag umfasst mindestens ein halbes Dutzend Seiten, das halbjährlich ausgefüllt werden muss. Ob es wirklich sinnvoll ist, Menschen, die ohnehin schon ein Päckchen zu tragen haben, auch noch solche bürokratische Lasten aufzubürden? Ganz zu schweigen von den Bürokratiekosten, die dadurch entstehen, dass Behörden die Bescheide anderer Behörden prüfen und verrechnen.

Der nun vorgelegte Kompromiss zur Kindergrundsicherung stellt eine kleine Vereinfachung dar: Es soll einen Familienservice bei der Agentur für Arbeit geben, der für alle Familien zuständig ist und über Ansprüche aufklären soll. Von einer echten Grundsicherung, gar einem bedingungslosen Grundeinkommen für Kinder, sind wir weit entfernt.

Warum nun so hohe Mehrkosten auf den Staat zukommen sollen, erschließt sich aus den Plänen nicht. Die Erklärung erscheint zynisch: Viele Menschen, die Anspruch auf Sozialleistungen wie Wohngeld oder Kinderzuschlag haben, beantragen ihn nicht. Weil sie nichts von dem Anspruch wissen oder vor der Bürokratie zurückschrecken. Oder weil sie zu stolz sind, zum Amt zu gehen, um „Almosen“ einzusammeln. Beinahe die Hälfte der Wohngeldberechtigten stellt keinen Antrag. Den Kinderzuschlag beantragen nach Angaben des Familienministeriums, das auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag geantwortet hat, nur 35 Prozent der Anspruchsberechtigten.

Mit anderen Worten: Die Finanzplanung des Bundes in Fragen der Familienleistungen basiert seit Jahren darauf, dass Anspruchsberechtigte ihren Anspruch nicht wahrnehmen. Wenn Sie das verstehen, haben Sie das Zeug zum Finanzminister!

Lindners Hängematten-Theorie

Dass diese Eigentümlichkeit nicht auffiel, hatte mit einem äußerst erfolgreichen Debatten-Derailing durch Finanzminister Christian Lindner zu tun – womit wir bei der zweiten FDP-Forderung in Fragen der Kindergrundsicherung angekommen wären. Derailing bedeutet übersetzt Entgleisen und meint das Ablenken vom Kernthema einer Debatte. Es ist eine typische Trolling-Strategie in Internetdiskussionen, aber offensichtlich auch unter Politikern verbreitet. Christian Lindner wurde jedenfalls nicht müde zu betonen: „Wir wollen nicht zusätzliche Anreize geben, sich nicht um Arbeit zu bemühen.“ Damit war das Kernanliegen, die materielle Absicherung von Familien, zu einer Frage von Leistungsbereitschaft geworden. Die Bemerkung insinuiert, dass Familien, die Sozialleistungen in Anspruch nehmen, kein Erwerbseinkommen haben. Doch allein beim Bürgergeld liegt der Anteil der Aufstocker bei 20 Prozent. Hinzu kommen noch einmal jene, die Wohngeld beziehen und die ja ebenfalls über ein Einkommen verfügen.

Trotzdem blieb hängen, dass es sich bei der Kindergrundsicherung um eine Art soziale Hängematte handele, womit Lindner im Grunde auf das im angelsächsischen Raum verbreitete Bild der welfare queen anspielt. Aus einem unerfindlichen Grund wurde so eine allgemeine Diskussion über Sinn und Notwendigkeit einer Kindergrundsicherung zu einer Diskussion vor allem über Arbeitsanreize für Alleinerziehende umgemünzt. Ich möchte Lindner hier nicht einmal Absicht unterstellen, aber er folgte damit einer bei Männerrechtlern extrem beliebten Gedankenfigur, wonach alleinerziehende Mütter sich aushalten ließen – von ihren Ex-Partnern und vom Staat.

Immerhin gab es Autorinnen wie Mareice Kaiser, die auf Linders Hängematten-Theorie entgegneten, dass Care-Arbeit ebenfalls Arbeit sei. Das ist zwar richtig, folgt aber dem Derailing. Stattdessen müsste man Lindner die aktuellen Zahlen über erwerbstätige Alleinerziehende entgegenhalten: Gut die Hälfte der Alleinerziehenden mit Kindern unter elf Jahren ist erwerbstätig, davon 43 Prozent in Vollzeitbeschäftigung. Je älter die Kinder von Alleinerziehenden, desto höher der Anteil der Vollzeitbeschäftigten.

Je kleiner die Kinder, desto schwieriger ist es offensichtlich, eine Beschäftigung aufzunehmen. Es macht zudem einen Unterschied, ob man vollständig allein erziehen muss, weil der Ex-Partner beispielsweise den Kontakt verweigert, oder ob man die Betreuung der Kinder gerecht teilt. Ich kenne Alleinerziehende, die in der Woche, in der die Kinder beim Ex-Partner sind, Überstunden machen, um in der Betreuungswoche das Büro rechtzeitig für die Abholung der Kinder verlassen zu können. Das funktioniert allerdings längst nicht in allen Jobs.

Alleinerziehende dürfen auch nicht auf eine Sonderbehandlung in der Arbeitswelt hoffen. Das zeigt ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern. Eine Alleinerziehende hatte ihren Arbeitgeber gebeten, keine Wochenendschichten übernehmen zu müssen. Der Arbeitgeber lehnte dies ab; die Frau, eine Bäckereiangestellte, reichte daraufhin Klage ein, scheiterte jedoch vor Gericht. Interessant ist die Begründung des Gerichts: Die Alleinerziehende von den Wochenendschichten auszunehmen, stelle eine „Besserstellung“ derselben im Vergleich zu den anderen Angestellten dar. Man könnte die Sache natürlich als Nachteilsausgleich begreifen. Tut das Gericht allerdings nicht. Stattdessen heißt es im Urteil: „Dass es den anderen Mitarbeiterinnen gelinge, ihre arbeitsvertraglichen und ihre familiären Pflichten miteinander zu vereinbaren, ist demnach kein Grund, diese durch die vermehrte Zuweisung ungünstiger Schichten zusätzlich zu belasten – und gegenüber der Klägerin zu benachteiligen.“ Mit anderen Worten: Die anderen kriegen es doch auch gebacken!

Es ist ziemlich offensichtlich, warum die Alleinerziehende lieber nicht am Wochenende arbeiten möchte: Vermutlich entspricht der Stundenlohn des Babysitters ihrem eigenen, sie ginge also für nichts – oder allenfalls fürs Finanzamt – arbeiten. Womit wir wieder bei den Anreizen fürs Arbeiten wären. Selbst Christian Lindner würde vermutlich nicht umsonst arbeiten wollen. Und dass die Alleinerziehende mit ihren Kindern wenigstens am Wochenende mehr Zeit verbringen möchte, ist ebenfalls verständlich.

Tatsächlich lässt sich das Problem wohl nicht betriebsintern lösen, sondern nur mit einer schlichten Einsicht: Solange wir so tun, als sei die Vereinbarkeit von Familie und Beruf lediglich eine Frage der individuellen Organisation, solange wird es Alleinerziehende geben, die an dieser Organisation scheitern. Nicht, weil sie weniger fähig sind, sondern weil man ihnen eine übermäßige Last aufbürdet. Nicht das Zuviel an Sozialleistungen hält Alleinerziehende in sozialen Sicherungssystemen, sondern der Mangel an gesellschaftlicher Unterstützung.

Okt. 2023 | In Arbeit | Kommentieren

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