Stand: 23. Oktober 2023. Die EU-Kommission hat den Gesetzentwurf mit der Chatkontrolle am 11. Mai 2022 vorgelegt und wurde für das geplante Überwachungsgesetz massiv kritisiert. Aktuell suchen sowohl das Europäische Parlament, als auch der Rat der EU, ihre Position zu dem Gesetzesvorhaben. Die Positionierung durch den zuständigen Innenausschuss (LIBE) im Europäische Parlament war für den 26. Oktober geplant, ist vor dem Hintergrund der Skandale um EU-Innenkommissarin Ylva Johansson aber auf den 13. November verschoben worden. Der Rat der EU, in dem die Minister.innen der Mitgliedsstaaten sitzen, hat seine Abstimmung über die Chatkontrolle schon zwei Mal verschoben, da es dort aktuell keine Mehrheit für das geplante Überwachungsgesetz gibt.
Lobbyskandal zur Chatkontrolle
Eine investigative Recherche, veröffentlicht bei Zeit Online und in vielen anderen europäischen Medien, hat das umfangreiche Lobbygeflecht zur geplanten Chatkontrolle offengelegt. Die Recherche zeigt enge Verbindungen von Lobbyvereinen und Unternehmen zur EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und vor allem zu Ylva Johansson, die für die Chatkontrolle zuständige EU-Kommissarin.
Die investigative Recherche wurde neben der Veröffentlichung auf Deutsch in der Zeit auch in anderen Sprachen veröffentlicht:
Spanisch
Englisch
Französisch
Italienisch
Griechisch
Niederländisch
Weitere Berichterstattung zu dem Thema:
Thorn: „Kinderschutzorganisation“ oder KI-Unternehmen?
- Recherche der Investigativplattform Follow the Money
- netzpolitik.org: Zu Thorn https://netzpolitik.org/2023/chatkontrolle-lobbyist-thorn-mehr-startup-als-wohltaetigkeitsorganisation/, zur Rolle von Ashton Kutcher und zu einer Werbeveranstaltung im Europäischen Parlament für die Chatkontrolle mit Ashton Kutcher und Eva Kaili.
- heise online
Ausweitung der Chatkontrolle auf andere Bereiche
Wir warnen schon lange, dass die Chatkontrolle einfach auf andere Zwecke ausgeweitet werden könnte, als für die Suche nach Darstellungen sexualisierter Gewalt an Kindern. Das Chatkontrolle-Gesetz soll ein EU-Zentrum einrichten, welches bei Europol angesiedelt ist. Netzpolitik.org hat ein Verhandlungsprotokoll zwischen Europol und der EU-Kommission dazu veröffentlicht.
„Wenige Wochen nachdem die Kommission ihren Vorschlag veröffentlichte, besuchte eine hochrangige Delegation der EU-Kommission die Polizeibehörde der EU, um das Gesetz zu besprechen. Monique Pariat, Generaldirektorin bei Innenkommissarin Ylva Johansson, traf dabei auf Catherine De Bolle, Direktorin von Europol, und drei weitere leitende Beamte der EU-Polizei.“ – Bericht netzpolitik.org
Demnach wolle Europol ungefilterten Zugang zu den Daten, welche beim EU-Zentrum landen und die Chatkontrolle ausweiten:
„Es gibt andere Kriminalitätsbereiche, die von der Aufdeckung profitieren würden.“ zitiert netzpolitik.org das Protokoll.
Das verdeutlicht die unkontrollierbare Gefahr, die droht sollte die Chatkontrolle jemals umgesetzt werden. Diese beispiellose Infrastruktur zur Massenüberwachung könnte jederzeit an neue Inhalte angepasst werden und würde dabei politischen Stimmungen unterworfen. Eine so mächtige und gefährliche Totalüberwachung der Bürger.innen darf die Politik nicht zulassen. Diskussionen im Europäischen Parlament und Recherchen von netzpolitik.org haben außerdem gezeigt, dass rechte Politiker.innen aus Frankreich und Italien bei der Diskussion um die Chatkontrolle bereits eine Ausweitung auf Pornografie, Drag-Queens, Migration und Drogen fordern.
Mikrotargeting- und Desinformations-Skandal
Der Jurist und Digitalexperte Danny Mekić hat anhand von Transparenzberichten von Twitter nachgewiesen, dass die EU-Kommission mit unlauteren Mitteln für die Chatkontrolle wirbt. Demnach hat sie irreführende Informationen verbreitet und für ihre manipulative Werbung gezielt Menschen mit bestimmten politischen und religiösen Überzeugungen ins Visier genommen. Diese Form der Werbung ist spätestens nach dem Cambridge-Analytica-Skanal und dem Brexit in der Kritik, die EU selbst hat mit dem Digitale-Dienste-Gesetz deswegen eigentlich gerade erst strenger reguliert.
Der Europäische Datenschutzbeauftragte untersucht den Vorfall.
Berichterstattung zu dem Thema:
Aufklärung durch das Europäische Parlament
Der zuständige LIBE-Ausschuss des Europäischen Parlaments fordert Aufklärung von der EU-Innenkommissarin. Diese muss sich wegen möglicher Interessentskonflikte in Bezug auf die Gesetzgebung zur Chatkontrolle und lobbyierende KI-Firmen verantworten, sowie für möglicherweise illegales Mikrotargeting mit irreführenden Informationen zur Chatkontrolle.
- Forderung nach Aufklärung
- In der Tagesordnung des LIBE-Ausschusses ist die Anhörung für Mittwoch, den 25. Oktober, um 14:30-15:30 als Punkt 8 vorgesehen: „Exchange of views regarding recent allegations indicating conflicts of interest with regard to the CSAM Regulation proposal“.
- Die Anhörung wird online auf der Website des Europäischen Parlaments gestreamt.
Was halt die Jugend von der Chatkontrolle?
Eine repräsentative Studie zeigt, dass junge Menschen die Chatkontrolle mit großer Mehrheit ablehnen. Eine Befragung unter mehr als 8000 jungen Menschen zwischen 13–17 Jahren in Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Belgien, der Tschechischen Republik, Spanien, Österreich, Schweden, Italien, Polen, Ungarn, der Slowakei und Griechenland hat ergeben:
- 66% der Befragten sind nicht damit einverstanden, dass Internetanbieter ihre digitale Kommunikation auf verdächtige Inhalte überwachen.
- 80 % der Jugendlichen würden sich nicht wohl dabei fühlen, politisch aktiv zu sein oder ihre Sexualität zu erkunden, wenn Unternehmen oder Behörden ihre digitale Kommunikation überwachen könnten, um nach sexuellem Kindesmissbrauch zu suchen.
Alternativen zur Chatkontrolle
Technologische Lösungen sind kein Allheilmittel für komplexe gesellschaftliche Probleme. Technokratische Massenüberwachung schützt Kinder nicht davor, Opfer zu werden und löst das Problem nicht. Mit der Chatkontrolle geraten aber wichtige Maßnahmen zur Prävention von Pädokriminalität und des Betroffenenschutzes aus dem Blick, die aber dringend gestärkt werden müssten. Außerdem greift die Chatkontrolle auch unverhältnismäßig in die Rechte von Kindern und Betroffenen ein, wie der Deutsche Kinderschutzbund und der Verein MOGiS e. V. – eine Stimme für Betroffene erklären. Kinder müssen durch privatsphärefreundliche Grundeinstellungen bei Internetdiensten geschützt werden. Für Betroffene braucht es sichere und kinderleichte Meldewege, um sich vertraulich Hilfe zu suchen. Außerdem müsste stärker auf eine Vermittlung von Medienkompetenz bei Kindern, Eltern und Vertrauenspersonen wie Lehrer.innen gesetzt werden, um Kinder und Jugendliche zu einem sicheren Umgang mit dem Internet zu befähigen.
Alterskontrollen
Mit dem Chatkontrolle-Gesetz drohen verpflichtende Alterskontrollen. Diese könnten zum Beispiel mit einer Ausweispflicht im Internet oder mit biometrischen Erkennungssystemen die anonyme Internetnutzung unmöglch machen. Gemeinsam mit dem EDRi-Netzwerk von europäischen Digitalrechtsorganisationen haben wir zum Thema Alterskontrollen ein Positionspapier erarbeitet und ordnen darin die möglichen Ansätze zur Alterskontrolle zu ihrer Wirksamkeit und möglichen Gefahren ein.