Ist die dann bereits auf Nimmerwiedersehen als Altpapier in die Recyclingtonne gewandert und ihr Inhalt verspeist? Bei manchem, was man so liest, wünscht man sich das. Mir jedenfalls ging es so, als ich über das Interview mit Friedrich Merz (Bild) in der „Neuen Zürcher Zeitung“ stolperte. Ob Deutschland Flüchtlinge aus dem Gazastreifen aufnehmen solle, wurde der CDU-Parteichef gefragt. Nein, hätte er sagen können – und es bei seiner Standardantwort belassen, derzufolge man nicht noch mehr Menschen aufnehmen könne. Doch Merz schob noch einen Satz hinterher. Einen, der es in sich hat: „Wir haben genug antisemitische junge Männer im Land.“
Womit der Oppositionschef da weiter macht, wo er aufgehört hat, als er behauptete, die Geflüchteten nähmen den Deutschen die Zahnarzttermine weg. Doch diesmal geht er sogar noch einen Schritt weiter: Denn er schürt nicht nur Hass auf Migranten – er tut auch so, als seien allein sie schuld am Antisemitismus in Deutschland. Und das in einer Zeit, in der die AfD bei 20 Prozent steht und 84 Prozent der antisemitischen Taten „der politisch rechts motivierten Kriminalität zuzurechnen“ sind, wie das Bundesinnenministerium im Mai dieses Jahres mitteilte. Das ist verantwortungslos und komplett daneben.
Wahrlich, es stimmt natürlich, dass sich auf einigen Pro-Palästina-Demos antisemitische Wut Bahn bricht. Und natürlich gibt es auch innerhalb migrantischer Milieus Antisemitismus. Das soll nicht verschwiegen werden. Doch was Merz hier tut, das ist kein konstruktiver Debattenbeitrag. Vielmehr gibt er erneut den „Polarisierungsunternehmer“, wie es der Soziologe Steffen Mau ausdrücken würde, der seit 2021 dem Sachverständigenrat für Integration und Migration angehört.
Draufhauen statt Argumentieren
„Man bringt ein Thema, von dem man weiß, dass es viele Leute relativ schnell aufregt, und zieht es in die Öffentlichkeit“, erklärt Mau in einem Beitrag des ARD-Magazins „Titel, Thesen, Temperamente“. „Dann entspinnen sich Auseinandersetzungen darüber und es gibt eine Teilung in Dafür und Dagegen.“ Das sei der Versuch, Menschen, die politisch eigentlich anderswo beheimatet sind, auf seine Seite zu ziehen: mit Draufhauen statt Argumentieren.
Dieser Politikstil scheint bei Merz inzwischen Methode zu haben
Und ist für sich genommen schon traurig genug. Doch insbesondere bei diesem Thema verbietet er sich – allen voran in Deutschland. Warum, fasst die Journalistin Yasmine M’Barek im Nachrichtenpodcast „Apokalypse & Filterkaffee“ zusammen: Für einen Politiker, dessen Land den Holocaust zu verantworten hat, sei es beschämend, „es so hinzustellen, als würde das Land jetzt, wenn die Flüchtlinge kommen, auf einmal antisemitisch werden. Als wäre es das vorher nicht gewesen.“
Ja, die Zuwanderung mag den Antisemitismus in Deutschland verstärkt haben
Existent war er aber schon immer. Das auszuklammern und die Not der jüdischen Bevölkerung auszunutzen, um weiter am muslimischen Feindbild zu arbeiten, ist eines Mannes unwürdig, der sich anschickt, Bundeskanzler zu werden. Das alles wirft die Frage auf: Hat es die CDU wirklich so nötig, diese Art von Rassismus zu schüren?
Probleme löst man so jedenfalls nicht
Vielmehr schafft man sich neue oder bläst bestehende Schwierigkeiten künstlich auf. Man könnte beinahe den Eindruck bekommen, Merz sei gar nicht daran interessiert, eine Lösung zu finden. Denn je länger der Hass auf Migranten schwelt, desto länger kann er daraus mit markigen Worten Kapital schlagen. Das hat bei der Berliner CDU, die mit den Silvesterkrawallen in Neukölln Wahlkampf machte, schließlich auch prima funktioniert.
Steffen Mau bei „Anne Will“: Der Soziologe erkennt allerdings auch bei anderen etablierten Parteien die Tendenz, aus Reizthemen politisches Kapital schlagen zu wollen.
Eigentlich jedoch gibt es Grund zur Hoffnung, dass diese Rhetorik bei der Mehrheit der Deutschen nicht verfängt: Denn so gespalten, wie die Gesellschaft häufig dargestellt wird, ist sie gar nicht. Das fanden der Soziologe Mau und zwei seiner Kollegen in einer Langzeitstudie über die deutsche Gesellschaft heraus und erläutern die Erkenntnisse in ihrem Buch „Triggerpunkte“. Die vermeintlich große Spaltung erscheine nur als solche, weil die Ränder überproportional laut sind.
Die Botschaft von Steffen Mau ist auch:
Wer diese Erzählung weiter füttert – wie Merz das tut, der macht aus der gefühlten Spaltung am Ende eine echte. Da kann man noch so oft behaupten, alte Zeitungen seien lediglich Papier von gestern und genügten höchstens zum Einwickeln von Fisch.