Panik machte sich im Norden des Gazastreifens breit, nachdem Israel Zivilisten in der Gegend zur Evakuierung aufgefordert hatte. „Das ist Chaos, niemand versteht, was zu tun ist“, sagte Inas Hamdan vom UN-Hilfswerk für Palästinensische Flüchtlinge (UNRWA). Sorge bereitet der Weltgesundheitsorganisation die Evakuierung schwer kranker Patienten aus Krankenhäusern. Insgesamt 1,2 Millionen Menschen sollen innerhalb von 24 Stunden in Sicherheit gebracht werden, bevor die großangelegte Bodenoffensive der israelischen Armee gegen die Terrormiliz Hamas beginnt.
„In den Großstädten des Gazastreifens müssen wir mit einem brutalen Häuserkampf rechnen“, erklärt Militärexperte Franz-Stefan Gady im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Schon eine kleine Zahl gut ausgebildeter Hamaskämpfer könne sehr viele israelische Soldaten binden. Entscheidend werde sein, wie hoch der Widerstandswille der Terroristen ist. Er rechnet mit hohen Verlusten auf beiden Seiten. „Die Hamas hat als Verteidiger eine bessere Ausgangssituation und kann auf gut vorbereitete Verteidigungsstellungen im urbanen Gelände, die unterirdisch per Tunneln miteinander verbunden sind, zurückgreifen.“
Ein Militärsprecher erklärte am Abend, man habe mit Bodentruppen und Panzern „lokale Operationen“ im Gazastreifen durchgeführt. Ziel sei gewesen, das Gebiet von Terroristen zu befreien und vermisste Israelis ausfindig zu machen. Man sei aber nicht tief in den Gazastreifen vorgedrungen.
Ausgeklügeltes Tunnelsystem der Hamas im Gazastreifen
Das ausgeklügelte Tunnelnetz der Hamas verläuft kreuz und quer durch den Gazastreifen und dient den Terroristen als Versteck und unterirdisches Transportsystem. Insgesamt 1,2 Millionen Menschen sollen innerhalb von 24 Stunden in Sicherheit gebracht werden, bevor die großangelegte Bodenoffensive der israelischen Armee gegen die Terrormiliz Hamas beginnt. „Die Hamas hat sich sehr gut vorbereitet und die weit verzweigten Tunnelsysteme dürften eine weitere Herausforderung für die israelischen Streitkräfte darstellen.“ Ein Militärsprecher erklärte, die Hamas nutze Krankenhäuser und UN-Gebäude als Kommandozentren und habe sie mit Tunneln verbunden.
Israel hat 100.000 Soldaten sowie eine Reihe von Panzern an der Grenze zu Gaza stationiert
360.000 Reservisten wurden bereits mobilisiert. Verteidigungsminister Yoav Gallant kündigte an, dass Israel zu einer „vollständigen Offensive“ übergehe. Ein Angriff auf den gesamten Gazastreifen mit Bodentruppen wäre die umfangreichste israelische Bodenoperation seit dem Krieg zwischen Israel und der Hisbollah im Jahr 2006, erklärt Michael Eisenstadt, Direktor für Militär- und Sicherheitsstudien am Washington Institute for Near East Policy.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Außenministerin Annalena Baerbock besuchten am Freitag Israel, um ihre Solidarität mit den Opfern der Hamasangriffe zu bekunden. „In diesen Tagen sind wir alle Israelis“, sagte sie bei ihrem israelischen Amtskollegen Eli Cohen. Baerbock sprach bei ihrem Besuch unter anderem mit Angehörigen verschleppter deutscher Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und forderte die Hamas zur Freilassung der Geiseln auf.
USA sagen Israel weitere Unterstützung zu.
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach sich für eine Zwei-Staaten-Lösung aus. Dies sei die einzige stabile Lösung. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sicherte Israel bei seinem Besuch weitere militärische Unterstützung zu. Die USA hätten ihre Kampfflugzeugstaffeln im Nahen Osten bereits aufgestockt und können bei Bedarf zusätzliche Mittel einsetzen. „Wir werden weiterhin Sicherheitshilfe leisten“, sagte Austin und machte deutlich, hinter der israelischen Armee zu stehen.
Beobachter rechnen mit einer längeren Bodenoperation. „Die israelische Armee könnte mit ihrer immensen Feuerkraft ganze Häuserblocks dem Erdboden gleichmachen und Tunnel zerstören“, sagt Gady. Die Armee werde wohl mit größeren Einheiten versuchen, den gesamten Gazastreifen unter Kontrolle zu bringen. Dies wird seiner Einschätzung nach mehrere Wochen dauern. „Dann werden die israelischen Streitkräfte den Gazastreifen in Sektoren einteilen und systematisch durchkämmen, um alle Hamaskämpfer zu eliminieren.“
Nachdem die Hamas für diesen Freitag zu Protesten gegen eine Bodenoffensive und Gegenschläge Israels aufgerufen hatte, gingen in mehreren Ländern Tausende auf die Straße. In Jordanien, Pakistan und im Irak sprachen Palästinenser ihre Solidarität mit der Terrormiliz aus und skandierten Parolen gegen Israel und die USA. Die Hamas hatte vor einer Woche bei einem Großangriff auf Israel das schlimmste Blutbad seit der Staatsgründung Israels angerichtet.
Die Hamas und die verbündeten Kämpfer des Islamischen Dschihads verfügen über Panzerminen und Panzerabwehrraketen. Außerdem hat die Hamas einen großen Vorrat an Drohnen, die sie mit Sprengsätzen ausstattet und auf Fahrzeuge und Truppen abwerfen kann. Der militärische Arm der Terrormiliz besteht aus erfahrenen Anführern, die mit der israelischen Kampfweise bestens vertraut sind. „Alles deutet darauf hin, dass die israelischen Streitkräfte relativ genau nach ihrer Militärdoktrin vorgehen und das könnte sich möglicherweise als Fehler erweisen“, sagt Gady. Denn das Schlimmste an einer solchen Militäroperation sei, wenn die Schritte vorhersehbar sind.
Was kommt nach der Bodenoffensive?
Dass die israelischen Verteidigungskräfte den Gazastreifen dauerhaft besetzen können, hält Militärexperte Gady für ausgeschlossen. „Israel hat nicht die Ressourcen, um genügend Einheiten im Gazastreifen zu stationieren“, sagt er. Seinen Hochrechnungen nach gibt es etwa 37 Brigaden auf israelischer Seite, die Angriffsoperationen durchführen können. Israel könnte 30 bis 40 Prozent dieser Brigaden für mehrere Wochen einsetzen. „Die restlichen Kräfte werden zur Sicherung anderer Grenzgebiete, zur Abwehr von Hisbollahangriffen und als Reserve benötigt.“
Bisher scheinen die vereinzelten Angriffe der Hisbollah aber darauf abzuzielen, ihre Solidarität mit der Hamas zu demonstrieren und gleichzeitig einen ernsthaften Konflikt mit Israel zu vermeiden. Doch da die Zahl der palästinensischen Opfer weiter steigen wird, könnte die Gruppe zunehmend unter Zugzwang stehen. „Taktisch wäre es sinnvoll, dass die Hisbollah Ablenkungsangriffe im größeren Rahmen durchführt, um die israelischen Kräfte zu binden“, so Gady. Anzeichen dafür gebe es aber noch nicht.