In Zukunft könnte es umgekehrt sein: Die Städte werden ihre Böden entsiegeln und den Rädern die Vorfahrt einräumen.
1921 schnibbelte ein junger Architekt, der sich gerade erst das Pseudonym Le Corbusier zugelegt hatte, Fotos von Autos aus einer Zeitschrift.
Er montierte sie auf einer Doppelseite zusammen mit Aufnahmen antiker griechischer Tempel. Die Illustrationen des Artikels Augen, die nicht sehen: Die Autos, erschienen 1921 in der Zeitschrift L’Esprit nouveau, sollten eine gewaltige Wirkung entfalten. In der Konfrontation von Autos und Tempeln kollidierten nicht nur zwei Epochen, sondern auch zwei Bewegungszustände: Dynamik und Tektonik, also das selbstbewegte Gefährt mit architektonischem Ruhen. So wie die Autos, forderte Le Corbusier im Text, müsse auch die Architektur vorankommen.
Er war bei Weitem nicht der einzige, der sich diesem Kult der Geschwindigkeit verschrieben hatte. Inspiriert hatte ihn sein Freund, der Maler und Amateurrennfahrer Amédée Ozenfant. Und schon 1909 diente dem Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti eine rasende Autofahrt als Hinleitung zum Manifest des Futurismus, das die Schönheit eines Rennwagens pries. Der Konflikt zwischen dem dynamischen Gefährt und der scheinbar stehengebliebenen Architektur sollte sich als ein äußerst kreativer erweisen. Der Architekt Erich Mendelsohn beispielsweise ging davon aus, dass sich in Verkehrsmitteln eine „Eisenenergie“ manifestiere, die über das neue Baumaterial Eisenbeton auch in seine Bauten einfließe, die er zudem noch mit horizontalen, rallyestreifenartigen Gesimsen versah.
Blind zwischen Fassaden?
Um die Mitte des 20. Jahrhunderts fanden sich dann allenthalben elegant schwingende, scheinbar die Gesetze der Statik überspielende Betonrampen, von den die Städte überflügelnden Freeways bis hin zu demonstrativ vor die Fassaden gehängten Autoauffahrten, etwa bei der Haniel-Garage [1] in Düsseldorf von 1953. Diese Architekturen waren auch dann noch gebaute Propaganda für automobile Dynamik, als diese begann, durch den „ruhenden Verkehr” und die Massenautomobilisierung in Bedrängnis zu geraten.
Die Tendenz sollte sich noch zuspitzen. Mit der Ölkrise begannen die Architekturdebatten sich von ihrem liebsten Gegenspieler Auto zu distanzieren. Die Postmoderne feierte kaum zufällig einen Formenschatz aus der Zeit vor dem Auto; Säulen und Gebälk demonstrierten nun wieder augenfällige Schwere. 1980 fanden der „verkehrsberuhigte Bereich“ und damit die Schrittgeschwindigkeit ihren Weg in die deutsche Straßenverkehrsordnung, im Alltag manifest in Kopfsteinpflaster und Pollern. Fortschrittlich war nun plötzlich, was aussah wie von gestern.
Doch was blieb und bleibt, ist das Auto. Heute ist Europa stärker und höher motorisiert als je zuvor. Wie passt das zusammen? Leiden die Architekturdebatten schon wieder an der Blindheit, die ihnen einst Le Corbusier attestierte?
Es liegt wohl eher daran, dass Architekturdebatten normativ sind
Und das soll weniger besagen, was ist, als vielmehr das, was werden soll. Zentrale Tätigkeit von Architekten ist das Entwerfen, ein per se auf eine – bessere, schönere – Zukunft ausgerichtetes Denken. Der kreative Konflikt zwischen Auto und Architektur hat sich längst in eine Sackgasse manövriert. Doch den Ausweg weist ein 2009 neu eingeführtes Verkehrszeichen: die für Fußgänger und Radfahrer durchlässige Sackgasse. Diese Bewegungsformen sind erstaunlich low-tech, das Elektroauto kommt hier nicht weiter, und es bedarf da auch keineswegs der vermeintlich so zukunftsträchtigen Ladeinfrastruktur – die allzu leicht darüber hinwegsehen lässt, dass Elektroautomobilität immer noch der archaischen Infrastrukturen aus Asphalt und Beton bedarf, die auch Benziner brauchen. Das Instrument des zukünftigen Straßenbaus – also der Architektur in ihrem größten Maßstab – ist der Presslufthammer.
Entsiegelung wird zukünftige Städte kennzeichnen, auch wenn man bislang noch vergeblich nach Kommunen sucht, die sich wirklich an die Wiederentdeckung ihres Bodens machen. Doch wenn man die Architekturdebatten des 20. Jahrhunderts in die Zukunft extrapoliert, ist die Richtung eindeutig: Es geht hin zur Entschleunigung, zu einer neuen Kultur der Langsamkeit, nicht nur als Freizeitphänomen. Allein die selbst in Mitteleuropa ins Unerträgliche steigenden urbanen Temperaturen werden dazu zwingen, den Boden zu öffnen, und Fußgängern und Radfahrern die Vorfahrt einzuräumen, die ihnen gebührt und die dem darwinistischen Vorfahrtsrecht des stärkeren Autos ein Ende bereitet. Wer das allzu idealistisch findet, dem sei versichert, dass man derlei eher angehen sollte, solang man es überhaupt noch gestalten kann – und nicht hinnehmen muss. Angst muss einem das keine machen, vielmehr lassen sich durchaus reizvolle Stadtlandschaften erwarten. Schließlich weiß man schon seit den 1960ern:
Sous les pavés, la plage ! Unter den Pflastersteinen der Strand.