Eine anonyme, scheinbar nicht enden wollende Masse an schwarzen, gesichtslosen Gestalten marschiert mit Plastiktaschen auf den Schultern zu einem Schiff. Die Schlange ist so lang, dass weder Anfang noch Ende erkennbar sind.
Dominiert wird das Bild von einem Gelb, das an Warnschilder, Endzeit-Filme und Feuerkatastrohen erinnert. Eine rote Schrift fragt: „Schaffen wir das noch mal?“, also so wie 2015, als Angela Merkel sagte: „Wir schaffen das!“ – nur in skeptisch …
Das schwarz-rot-gelbe „Spiegel“-Cover macht Angst: Was passiert denn mit dem „Wir“, wenn „Wir“ es nicht noch mal schaffen? Wenn diese Schlange nicht endet? (Was mit denen passiert, die das Cover zeigt, spielt aber bei alledem – irgendwie – keine Rolle.)
Es gab viel Kritik in den sozialen Medien an diesem Titelbild, unter anderem von der Kommunikationswissenschaftlerin Nadia Zaboura. Im NDR-Radio konkretisierte sie:
„Man sieht nicht die Personen und die Lebensgeschichten, die damit verbunden sind, sondern es baut eine Art Bedrohungs-Szenario auf: Werden wir überrollt?“
Die Schlagzeile verschärfe den Eindruck des Covers. Dazu muß gemutmaßt werden dürfen: „Bei der Entscheidung für die Aufmachung habe Vielfalt in der Redaktion gefehlt; jemand, der sagt: Habt ihr euch das mal überlegt?“ Ein anderer Grund für die Gestaltung sei wohl: Angst verkauft sich gut, im Internet genauso wie auf einem Magazintitel.
Und auch wenn im Heft eine differenzierte und vielstimmige Auseinandersetzung mit der Asylpolitik stattfinde: „Problematisch wird es trotzdem, wenn wir hier wirklich in die Bildebene einsteigen und verstehen, dass sich solche Bilder reproduzieren. Dass sie also immer wieder Ängste finden, Ängste schüren.“ Vor allem bei Menschen, die das Cover nur am Kiosk oder im Netz sehen, ohne das Heft zu lesen.
Nicht nur Zaboura kritisiert den „Spiegel“. Die Bildsprache sei rassistisch, schreibt etwa Jutta Ditfurth; Tarik Abou-Chadi sieht im Cover Parallelen zu Bildern, die „immer wieder von radikal rechts verwendet“ werden.
wird von manchen kritisiert.
„Danke für Ihre Anfrage zum aktuellen SPIEGEL-Cover, das wir nicht kommentieren möchten.“
Das Foto hinter dem Cover
Das Motiv auf dem Cover wirkt wie eine Grafik. Aber es beruht auf einem Bild der Fotografin Valeria Ferraro, das der „Spiegel“ verfremdet hat. Im (links) Original sieht es so aus:
Anders als 1992 ist beim aktuellen Titelbild aber immerhin erkennbar, dass es sich um ein nachbearbeitetes Motiv handelt. Dabei stechen der Unterschied im Zuschnitt und die Farben des Originalbildes ins Auge. (Auch auf Fragen dazu hat der „Spiegel“ nicht antworten wollen.) Der „Spiegel“ hat nicht nur die letzte Person in der gefühlt endlosen Schlange, die ebenjener optisch doch ein Ende setzt, aus dem Motiv entfernt. Auch die beiden Sicherheitskräfte links und rechts der Geflüchteten verschwanden aus dem Bild.
Das ist ironischerweise das Gegenteil dessen, was der „Spiegel“ 1992 mit einem Foto machte, das das angebliche Versagen der Politik beim Thema Asyl illustrieren sollte: In eine bedrohlich wirkende Menge fremd aussehender Menschen hatte das Nachrichtenmagazin damals zwei Grenzbeamte hineinmontiert, vermutlich um die Die-überrollen-uns-Wirkung des Motivs noch zu verstärken:
Es liegt der Verdacht nahe, dass das „Spiegel“-Cover mit dem Bild in der Realität nicht allzu viel gemein hat. Im Originalbild stehen die Geflüchteten auf der Insel. Ihre Strapazen stehen im Vordergrund. Das nahende Ziel des europäischen Festlands ist in Form einer Fähre im abendlichen Hafenlicht zu sehen. Lampedusa als Zwischenhafen.
Der „Spiegel“-Zuschnitt verdreht die Perspektive: Auf dem Magazintitel geht es einzig um das „Wir“ hier in Deutschland, von dem auf dem Cover doch nichts zu sehen ist als die Farben der eigenen Nationalflagge. Die Menschen, die vor Bedrohungen unterschiedlichster Form ins Ungewisse, Fremde fliehen, sind nicht das Thema. Sie werden nur zur Inszenierung einer abstrakten Bedrohung des Fremden für „uns“ gebraucht.
„Vielleicht sind die Originaltöne weniger beunruhigend“
Wir haben die Fotografin gefragt, ob sie die Änderungen angemessen findet und ob sie das Gefühl hat, dass das Cover die Situation so wiedergibt, wie sie sie dokumentiert hat. Valeria Ferraro sagt (von uns übersetzt):
„Um ehrlich zu sein: Als ich das Cover zum ersten Mal sah, dachte ich, dass es die Schlange mit den Menschen hervorhebt und ich fragte mich, ob das eine redaktionelle Entscheidung war, auch wegen des vertikalen Formats des Covers.“
Ferraro arbeitet als Freelancerin für verschiedene Agenturen. Das Foto ist Teil einer Serie, die sie am 17. September auf Lampedusa für die türkische staatliche Nachrichtenagentur Anadolu aufgenommen hat. Ferraro sagt, ihr Foto zeige „eine Schlange von Migranten, die auf das zivile Fährschiff ‚Lampedusa‘ gebracht werden sollen, um nach Porto Empedocle und auf das italienische Festland übergesetzt zu werden.“
Am 12. September seien fast 7.000 Migranten auf der winzigen Insel angekommen; Kapazität gebe es aber nur für 400 Menschen. Das Rote Kreuz, die Polizei und andere lokale Akteure hätten, so beschreibt es Ferraro, enorme Anstrengungen unternommen, um die Situation zu bewältigen. Die Folge: In Abstimmung mit dem Innenministerium seien „massive Transfers“ mit zivilen und militärischen Booten und Flugzeugen organisiert worden. „Es bedurfte einer großen Anstrengung aller Beteiligten (auch der Migranten), damit sie die Insel verlassen konnten, ohne dass es zu großen Ausschreitungen kam oder jemand verletzt wurde“, sagt die Fotografin.
Am 17. September, dem Tag, an dem Ferraro das Bild abends um 19:30 im Hafen Cala Pisana auf Lampedusa aufgenommen hat, hätten immer noch Transfers stattgefunden. An diesem Tag besuchten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni die Insel; auch davon hat Ferraro Bilder gemacht.
Ferraro vermutet, dass man sich beim „Spiegel“ mit dem Zuschnitt „bewusst darauf konzentriert“ habe, die lange Reihe von Menschen zu porträtieren, „während das ursprüngliche Querformat wahrscheinlich mehr über den Kontext und den Rahmen drumherum verraten hätte; so würde man die zivile Fähre, den Hafen und den Leuchtturm sehen.“ Und: „Vielleicht sind die Originaltöne weniger beunruhigend als Gelb.“
Gleichzeitig sagt sie: „Man muss auch ehrlich sagen, dass die Menschen das Hauptthema sind: 7.000 und mehr Menschen in ein paar Tagen haben auch eine starke visuelle Wirkung.“
Alte „Spiegel“-Tradition
Das Titelbild steht in einer langen Tradition von suggestiven Bedrohungsbildern auf dem Cover des „Spiegel“:
Klar ist: Das Cover einer Zeitschrift dient dazu, sie zu verkaufen und den journalistischen Inhalten möglichst große Reichweite zu verschaffen. Aber um welchen Preis? Zu der aufgeladenen Anti-Flüchtlings-Stimmung Anfang der 90er Jahre, die sich teilweise in rassistischen Pogromen entlud, hatten – neben Lokalzeitungen und „Bild“ – auch vermeintlich seriöse überregionale Medien wie der „Spiegel“ beigetragen.
Wirklich öffentlich damit auseinandergesetzt hat sich das Nachrichtenmagazin damit nie. Umso enttäuschender ist es, dass der „Spiegel“ sich auch heute weigert, sich wenigstens an der Debatte über diese Cover zu beteiligen und Fragen zu beantworten.
Warum setzt der „Spiegel“ immer wieder auf Cover, die rechte Standpunkte in der Debatte um eine Migrationspolitik befeuern? Vermutlich hat Nadia Zaboura recht: „Es fehlt an Vielfalt. Und, vor allem: Angst verkauft sich eben gut. Und, was sie im Interview noch sagt:
„Das sind aber alles keinerlei Begründungen,
die man eigentlich einem Qualitätsjournalismus
so durchgehen lassen sollte.