In den Zeitungen tässt sich täglich lesen, wie es um die intellektuelle Öffentlichkeit in Form ihres Feuilletons bestellt ist
Prägnanter kann der Befund ausfallen, tritt man einen Schritt von der alltäglichen Praxis zurück. Dazu bietet das aktuell aufliegende Kursbuch 153 von Rowohlt Gelegenheit, das als Vierteljahreszeitschrift eine längere Halbwertszeit hat. Diese Nummer des Kursbuchs eignet sich aus zwei Gründen gut. Sie beschäftigt sich mit einem Kerngebiet des Feuilletons, der Literatur als „Betrieb und Passion“, so der Untertitel. Und sie stellt Texte von Journalisten des Feuilletons denen von Schriftstellern und Hochschullehrern, Verlagsangestellten und dem Herausgeber-Paar gegenüber (auch wenn solche Grenzen fließend sind). Literatur als „Betrieb und Passion“ weckt zwar Neugier, lässt aber im nächsten Moment stutzen.

Bei dieser Begriffspaarung fallen einem Michael Krüger und Klaus Wagenbach ein, Alexander Fest und Axel Dielmann – aber diese und gleichrangige Namen fehlen im Verzeichnis der Beiträge, und meist auch im Feuilleton.
Statt der durchaus möglichen Kombination von Wirtschaft und Kultur bietet das aktuelle Kursbuch überwiegend einen losen Jahrmarkt von Betriebsamkeit und Passionsspielen: zauberhaft bunt, aber ohne Herz, ohne Hirn und ohne Mut. Erhellende, profunde Texte sind in der Minderzahl.Die Feuilleton-Fraktion bietet zum Beispiel Stefanie Flamms Reportage über Literatur-Agenten. Sie changiert angenehm, weil kaum zwischen dem Episodisch-Plastischen und dem Analytisch-Unverbindlichen. Die Episoden bleiben in einer Halbanonymität stecken, die höchstens Flamm selbst dient: Wer die Szene kennt, weiß wer gemeint ist, den anderen würde der vorenthaltene Agentenname nichts sagen. Die Analyse diagnostiziert härtere Zeiten, doch „niemand weiß so recht zu sagen, woran das im einzelnen liegt.“ Geschichte scheint nur in Anekdoten über Siegfried Unseld folgenlos auf.

Schreiben über Pop-Musik verwechselt Vorurteile aufgrund persönlicher Erfahrung mit einer kritischen Position

Schreibt wer er vom „geglückten Augenblick beim Hören von populärer Musik“ ausgeht und doziert, dass „Literatur Vergleichbares nicht kann“. Seine apodiktische Prämisse bleibt zum Glück nicht lange unwidersprochen, denn schon 126 Seiten später widerlegt ihn Ina Hartwig, indem sie das Lesen im Sommer evoziert mit dem Windhauch auf Füßen und Hand und den zittrigen Schatten von Grashalmen auf Papier.
Groß aber lässt sich nicht groß beirren, hat sein Thema stets fest im Blick: „Hören und Schreiben – ein weites Feld, trotz oder wegen der vielen Dinge, die darüber schon gesagt und geschrieben worden sind.“
Kolja Mensing erklärt Erfolg in Literaturwettbewerben in einer Reihe von „Frequently Asked Questions“. Was hier zunächst ironisch scheint, stellt sich schnell als Zynismus heraus. Zu abwegig sind die berichteten Beispiele und Episoden, mittels derer sich Mensing zu einer Autorität über solche Wettbewerbe und daran Teilnehmende aufschwingt – aber nur rein ironisch – versteht sich.

Gemeinsam ist diesen drei Texten, sowie beispielsweise denen von Lothar Müller und Frauke Meyer-Gosau, das parataktische Prinzip. Hier werden ohne erkennbare Reihenfolge, scheinbar in wahlloser Aufzählung, Episodisches und Reflexion mühe- und folgenlos nebeneinandergesetzt. Dieses Nebeneinander ist in seinem egalitären Effekt eines „alles gleich wertvoll“ zwar politisch korrekt, es hintergeht aber sowohl sein Publikum als auch seinen Auftrag, in dem es das Ende der Geschichte als selbsterfüllende Prophezeiung vollzieht. Was diesen drei Texten und vielen im Feuilleton fehlt, ist eben Geschichte – als Abfolge und Wertung. Geschichte strukturiert Erfahrung in Zeit und Urteilsvermögen. Ein Feuilleton, das uns Geschichte vorenthält (was vielleicht sogar banal konstatiert, heute sei alles anders – was alles? als wann?), verfällt in den Rang der Lokalsport-Reportage, das Widerspruch einzig bei falsch geschriebenen Namen erregt.
Solange das Feuilleton für sich die Auseinandersetzung mit kultureller Öffentlichkeit und Identität beansprucht, kommt es um Kenntnis und Bedeutung von Geschichte nicht herum, denn „Kultur braucht Geschichte“. So zitiert  Klaus Reichert, den Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung – allerdings nicht im Feuilleton, sondern im Lokalteil anlässlich einer Rede.
Reicherts Ziel beschreibt Journalisten als die Heranbildung mündiger Bürger, „die Zusammenhänge erkennen könnten“.
Keine Zusammenhänge ohne Geschichte, sei sie historisch oder narrativ.

Geschichte liefert den Kontext, der Effekt von Substanz zu unterscheiden ermöglicht

Im Kontext betrachtet sind deutsche Superstars nur graduell neu, nach Milli Vanilli, Boney M. und den Monkees: Das Casting ist öffentlich, die Bewerber sind jünger. Was an Marilyn Manson so toll oder neu sei, wenn sich ein Mann einen Frauenvornamen gibt und in wilden Kostümen auftritt, fragt Alice Cooper.
Im Kontext wird Differenz sichtbar, es wird möglich zu differenzieren. Kontext unterscheidet damit Leser von Konsumenten. Ohne Kontext wird sich das Feuilleton natürlich freuen in diesem Frühling über die späte Entdeckung des seit 30 Jahren toten britischen Schriftstellers B.S. Johnson – und seine Bücher zum Kauf empfehlen. Mit Kontext würde sich das Feuilleton wundern über diese Renaissance, und sie zum Anlass nehmen, erneut die textidentische 10 Jahre alte Fischer Taschenbuchausgabe seines Romans „Albert Angelo“ zu lesen, die recht mühelos antiquarisch zu haben ist. Und es könnte aufschlussreich fragen:

Warum jetzt? Was ist heute anders als damals?

Wie die Fähigkeit zu differenzieren im Umgang mit Literatur erfolgreich aufgegeben wird, zeigt die Nachfolge Elke Heidenreichs auf Marcel Reich-Ranicki. Ich stimme mit seinen Urteilen in der Regel nicht überein, und ich teile seine Kriterien nicht. Aber seine Urteile sind mir nützlich, denn sie geben mir meist ein verlässliches, wenn auch aus meiner Perspektive oft verzerrtes Bild. Wenn ihr Urteil den Roman „Rausch“ preist, indem es Spannung und Liebe, historischen und technischen Roman verspricht, so ust schon beinahe zu erwarten, dass sich der mare-Verlag gegen diesen Rufmord verwahrt. Universalität zu schätzen in Küchenmaschinen, in Literatur ist eher sie platt und unbefriedigend.
Kontext und Differenz zusammengenommen ermöglichen schließlich, was vom sowohl Feuilleton, als auch von Rezensionen zu erwarte ist: Ein begründetes Urteil, warum ein Buch, ein Film, eine CD gar, oder eine Position, eine Idee, wichtig ist oder nicht, empfehlenswert oder bedenkenswert, oder sogar schön – oder in bestimmten Situationen einfach nützlich. Wo nämlich Geschichte Zusammenhänge und Kontext liefert, ermöglicht das Urteil notwendige und hilfreiche kulturelle Orientierung.

Dabei formuliert das Urteil keineswegs eine Expertenautorität, sondern ein begründetes Argument, das der Leser nachvollziehen oder ablehnen mag, dem er folgen kann oder nicht. Ebenso bedeutet Orientierung keinen Konsumzwang, sondern einen Wegweiser zu möglichen kulturellen Erfahrungen, jetzt oder später. (Gibt es noch mehr Leute, die Buchbeilagen der Tageszeitungen sammeln, Jahre lang aufheben und sie schließlich vor dem Antiquariatseinkauf konsultieren? Und wieviele Feuilletonisten schreiben für sie?)
Und es ist genau diese Art der Orientierung, die immer weniger Instanzen überhaupt leisten können. Sie wird rapide zur Unique Selling Proposition des Feuilletons.
Hielten sich Konsumenten im Zweifel eher an ihre Buchhändler als ans Feuilleton, fällt diese persönlich beratende  amazonsche Kompetenz einfach weg. Die Rezensionen anderer Käufer (anscheinend nicht unbedingt auch Leser) machen den Verlust erst schmerzlich deutlich, statt ihn zu kompensieren, man schaue einmal unter Enquists „Lewis Reise“ nach. Natürlich ist dem Feuilleton mit Amazon und Google eine neue Art der Konkurrenz erwachsen. Die Unterschiede aber sind so groß, die Unzulänglichkeiten des Internets als anonymem Anbieter von Quantität so eklatant, dass das Feuilleton bei zunehmender Konkurrenz beim bloßen Finden seine Kompetenz und sein Heil leicht im Beurteilen, als persönlicher, namentlicher Anbieter von Qualität finden kann.
Dies also will ein Plädoyer sein – für ein Feuilleton mit Herz, mit Hirn und mit Mut

Das Herz sorgt für die Empathie mit den behandelten Werken oder Positionen. Es nimmt die porträtierten Personen im Film „The Hours“ wichtiger als Nicole Kidmans aufgeklebte Nase und verhindert einen Zynismus, der Themen hämisch der öffentlichen Lächerlichkeit preisgibt.
Und, es schützt vor der Abgeklärtheit, dass alles schon einmal da und was Wunder früher besser gewesen sei. Das Hirn vermittelt die beherzte Empathie und befördert mit plausiblen Kriterien die kritische Distanz, die den qualifizierten Nachvollzug der Argumentation möglich macht.
Und der Mut prägt das persönliche Urteil, für das engagierte Feuilletonisten namentlich einstehen, in dem Bewusstsein, dass es zunächst um die Sache einer gemeinsam gestalteten Öffentlichkeit geht, und nicht um persönliche Eitelkeiten. Dies alles sollte und kann das Feuilleton leisten – und tut es auch bisweilen – in seinen starken, weil streitbaren Beiträgen.
Aber die wenig souveräne Haltung angesichts der begonnenen Debatte beweist, dass es zu oft daran fehlt: An Herz, oder an Hirn  – Oder an Mut.

Aug 2023 | Allgemein, Essay, Senioren | Kommentieren