Seit die grüne Familienministerin Lisa Paus im Januar 2023 ihre Eckpunkte für ein Gesetz zur Kindergrundsicherung vorgelegt hat, herrscht über das sozialpolitische Prestigeprojekt der Ampelkoalition erbitterter Streit innerhalb des Bundeskabinetts. Finanzminister Christian Lindner übte heftige Kritik an seiner Kabinettskollegin, weil sie jährliche Mehrausgaben von zwölf Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung veranschlagte. Ein solches Projekt sei „derzeit nicht realisierbar“, behauptete der FDP-Vorsitzende. Für Familien habe man bereits viel getan. Beispielsweise sei das Kindergeld auf 250 Euro erhöht worden, und statt jährlich sieben Milliarden Euro  stelle man für Familien und Kinder erheblich mehr zur Verfügung.

Allerdings war die Inflation nach 1945 auch nie so hoch wie heute, und von der Erhöhung des Kindergeldes hatten Eltern im Transferleistungsbezug nichts, weil es auf den Sozialtransfer angerechnet wird.

Meist sind die Grünen vor der FDP eingeknickt, wenn die „Fortschrittskoalition“ ihrem hohen Anspruch nicht gerecht wurde und eine Maßnahme verabschiedete, die einen sozialen oder ökologischen Rückschritt bedeutet. In der letzten Kabinettssitzung vor der parlamentarischen Sommerpause hatten sie murrend den von Lindner entwickelten Haushaltsplan akzeptiert, in dem für die Kindergrundsicherung nur zwei Milliarden Euro vorgesehen sind.

Erst nach der Sommerpause blockierte Paus das von Lindner ins Kabinett eingebrachte „Wachstumschancengesetz“ mit 50 Steuererleichterungen für Unternehmen im Volumen von 6,5 Milliarden Euro.
Geht es um das Wohl der Wirtschaft, ist die Bundesregierung generös und fasst auch schnell Beschlüsse. Das hat Paus durch ihr Veto zunächst verhindert, was ihr seitens überraschter FDP-Politiker den Vorwurf der Erpressung einbrachte. Dabei war dies für sie vermutlich die letzte Chance, eine gesichtswahrende Kompromisslösung zu erreichen. Eigentlich wären gut 20 Milliarden Euro mehr nötig, wollte man die auf einem Höchststand befindliche Kinderarmut wirksam bekämpfen. Bleibt die Ampelkoalition dahinter zu deutlich zurück, wird die Kindergrund­sicherung – wie auch das Bürgergeld – allenfalls ein schöneres Etikett für eine im Kern unveränderte, mithin nach wie vor fragwürdige Sache.

Um allen Kindern in Deutschland ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen, ist mehr nötig als eine Zusammenfassung familienpolitischer Leistungen. Damit die Kindergrundsicherung ihren Namen verdient, muss sie so konstruiert sein, dass sowohl die verdeckte Armut solcher Familien, die etwa mangels einschlägiger Informationen, aus Stolz oder wegen falscher Scham keine ihnen gesetzlich zustehende Transferleistungen beantragen, als auch die bisher im Leistungsbezug fortbestehende Armut angegangen wird.

 

Aug 2023 | Allgemein, Gesundheit, In vino veritas | Kommentieren