Mit einem „gefundenen“ Traktor dem Meer entgegen …

„Weißt du, ich bin ein Kind, was in Omas Geburtstagstorte fällt, weil’s nicht hören will, und trotzdem auf der Stuhllehne rumbalanciert. Im Kirchenchor mach‘ ich einen auf Rihanna, weil’s so langweilig ist. Und ich merk‘ dabei aber überhaupt nicht, dass ich allen den Abend verderbe. Ich duze meine Lehrer, weil ich’s unfair finde, dass die das bei uns dürfen, aber wir nicht bei denen. Ich bin einfach viel zu laut, viel zu wild, einfach nur schwierig. Manchmal wach‘ ich morgens auf und will ja alles besser machen, aber ein paar Minuten später mach‘ ich wieder alles kaputt. Glaub mir, um so ein Kind macht sich keiner Sorgen. So ein’s schickt man am Wochenende nach Polen. Und dann freut sich jeder, dass es mal weg ist und einem nicht mehr auf die Nerven geht.“

Mit diesem Monolog charakterisiert sich die zehnjährige Jola selbst, gegen Ende von „Kannawoniwasein!“, Stefan Westerwelles Adaption des gleichnamigen Buchs von Martin Muser. Diese Jola ist nichts weniger als die großartigste Figur in einem deutschen Kinderfilm seit einer gefühlten Ewigkeit. Mit dem gleichaltrigen Finn Utschig (wie flutschig) verbindet sie die Rolle des Outcasts, in die dieser jedoch eher zufällig hineinstolpert. Vom gerade als Eventcaterer in die brandenburgische Provinz verzogenen Vater in den Zug nach Berlin gesetzt, wo die Mutter mit ihrer neuen Lebensgefährtin wohnt und Anderes zu tun hat, trifft Finn dort auf den schmierigen Dorfrocker Heiko, der ihm kurzerhand – Emil Tischbein lässt grüßen – den Rucksack klaut.

Von der Schaffnerin, die in Finn einen Ausreißer vermutet, auf einem Bahnsteig mitten im Nirgendwo an ein charmant nöliges Polizistenduo übergeben, nutzt Finn gemeinsam mit Jola die Gelegenheit abzuhauen, als deren Onkel mit seinem mit Schmuggelware überladenen LKW ins Polizeiauto kracht.Nach der gelungenen Flucht aus dem Polizeigewahrsam zeigt sich Finn zunächst wenig abenteuerlustig: „Ich muss zuhause anrufen, die wissen doch gar nicht, wo ich bin.“ So klagt er Jola seine Sorgen, worauf die nur entgegnet: „Ist doch super. Sowas nennt man Freiheit!“ Erst als Finn von einem von Ades Zabel geleiteten Sexshop aus seine Mutter tatsächlich ans Telefon bekommt und feststellen muss, dass die keineswegs auf dem Weg zum Bahnhof ist, sondern ihn im ewigen Streit der geschiedenen Eltern schlichtweg im Zug vergessen hat, lässt er sich bereitwillig auf einen Road Trip mit Jola ein – zuerst zu Fuß, dann mit einem alten, in einer verlassenen Scheune entdeckten Traktor. Richtung Greifswald, dem Meer entgegen.

„Kannawoniwasein!“ wird auch mit der Aufnahme dieser Bewegung kein geradliniger Film

Hingegen bleibt er dem Abenteuer verpflichtet, ein Film des Umherstreunens und der unerwarteten Begegnungen – und überdies ein Film, in dem sich auf halber Strecke das Ziel noch einmal ändern kann. Denn irgendwann beschließt Jola, dass sie den gestohlenen Rucksack ihres neu gewonnenen Freundes von der Rockertruppe „Hackmack“ zurückholen müssen. Und dann geht es erstmal wieder ein gutes Stück zurück aufs Land – vom Meer aus betrachtet.

Zur ansteckend enthusiastischen Lebendigkeit des Film trägt eine Reihe wundervoll absurder Nebenfiguren bei – neben Ades Zabel im gewohnten Edith-Schröder-Makeup treffen Finn und Jola unter anderem auf zwei hilfsbereite dänische Nudisten oder einen Reiseführer im Friedrich-II.-Kostüm. In dieser schillernden Parade von Gastauftritten kommt, nebenbei angemerkt, auch eine exaltierte Lust an der Verkleidung und dem Rollenspiel zum Ausdruck, die im Zusammenspiel mit dem Casting so mancher Gastrolle die Ursprünge von Regisseur Westerwelle im queeren Kino durchblitzen lässt, ohne viel Aufhebens darum zu machen.

Das ist überhaupt die größte Stärke von „Kannawoniwasein!“

Er funktioniert auf vielen verschiedenen Ebenen, als Kinderfilm ist er von einer anarchischen Energie durchdrungen, die insbesondere in der wundervollen Figur der wilden, starken, fröhlichen und traurigen Jola für eine Romantik des Regelbruchs eintritt, die im oft allzu konformistischen deutschen Kinderkino wie ein Befreiungsschlag wirkt. Darin knüpft Westerwelles Film eher an die Tradition der eigensinnigen kindlichen Helden von Astrid Lindgren an als an die braven Protagonisten jener Kinderbücher aus der Adenauerzeit, die bis heute als Erfolgsgaranten an der Kinokasse immer wieder neu aufgelegt werden, ohne je mehr als oberflächlich modernisiert zu werden. Vermutlich übertreibt man nicht einmal allzu sehr, man mutmaßt man, dass Westerwelle der beste, schönste, freieste deutsche Kinderfilm seit Jahren gelungen ist.

Nicht zuletzt ist „Kannawoniwasein!“ auch noch ein wundervolles Road Movie

Der Film schlendert durch die in großartigen Kinobildern eingefangenen Weiten der östlichen Bundesländer. Die weitgehend menschenleeren Landschaften von Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern fungieren gleichermaßen als Abenteuerspielplatz und Seelenlandschaft für die beiden Außenseiterfiguren. Wenn man hier nachts auf einen einsamen Wolf trifft, der den Mond anheult, verwundert das keineswegs, sondern scheint einfach nur folgerichtig, und alle, die sich den Außenseitern, ihrer neu entdeckten Solidarität und ihrer Reise gen Meer verwandt fühlen, stimmen ein. Und heulen mit.

Kannawoniwasein!  – Deutschland 2023
Regie: Stefan Westerwelle
Darsteller: Miran Selcuk, Lotte Engels, Eko Fresh,
Annamateur, Mirka Boes, Ades Zabel
Laufzeit: 88 Minuten

Aug 2023 | Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton, Junge Rundschau, Film | Kommentieren