„Vor dem bösen Deutschen flieh ich/ Vor dem schreck­lich bösen Herrn. […] Arme Bauren, an dem Pfosten/ Werden blutig sie gestri­chen.“

Was aus Herders Volksliedvorstellungen während zweier Jahrhunder­te durch Romantik und völki­sche Ver­blen­dung, durch eine deutschna­tio­nale Germanistik und Volks­kunde, besonders aber durch die Per­ver­tierung des Singens vor und nach 1933 wurde, muß ich hier nicht aus­geführt werden. Der das Völkermorden vorbereitende und begleitende mar­tialische Gesang einschließlich der gemütlich-gemütvollen Lieder, ja das Singen selbst, war 1945 gründlich diskre­di­tiert,  Theodor W. Adorno formulierte 1956 in sei­ner „Kritik des Musikanten“: „Nir­gendwo steht geschrieben, dass Singen not sei“. Wal­ter Moß­mann und Peter Schleuning sprachen von einer „adornitischen Schweigezeit“ und „ideologie­kri­tischer Ge­sangsverweigerung“.

Für jeden nachdenklichen Menschen war es schwierig ge­wor­den, wei­ter­zusingen als habe es den schrecklichen Mißbrauch nicht gegeben. Dies gilt auch für die Jugendbewegung. So manches der bündischen Lie­der wurde von der Bevölkerung als Gesang der Hit­ler-Jugend iden­ti­fiziert. Franz Josef Degenhardt berichtete, er habe in einer Straßen­bahn die Drohung mit Prügel erlebt, sänge er weiter diese Nazilieder. Die alten Lieder waren unsingbar, zugleich das de­mo­kratische Liedgut nachhaltig aus dem Gedächtnis getilgt; die Deut­schen waren zu einem Volk ohne Lieder geworden, wir kennen die Verse, in denen Franz Josef Degenhardt dies eindringlich for­mu­liert hat.

Es gab nur ganz wenige Orte in Deutschland, von denen in dieser Situ­ation
eine Wiederbelebung des Liedes und des Singens ausgehen konnte.

Burg Waldeck war aus verschiedenen Gründen einer von ihnen. Hier lebte weiterhin die Tradition des gemeinsamen Singens, man kannte, sammelte und sang mit Respekt die Lieder fremder Völ­ker, auch andere Verbindungen, zum poetischen Kunst­lied etwa oder zu den Kabarettliedern der Weimarer Zeit waren nicht völlig abge­schnitten, selbst die kraftvollen Gesänge eines Ernst Busch kannte man. Und, wir sangen 1960 mit der Jungen­schaft (d.j, 1. 11) aus dem chine­si­schen „Buch der Lieder“ die damals und heute aktuelle anti­mi­li­ta­ri­sti­sche Nachdichtung Klabunds:

General!
Wir sind des Kaisers Leitern und Sprossen!
Wir sind wie Wasser im Fluss verflossen –
Nutzlos hast du unser rotes Blut vergossen –
General! […]
Unsre Kinder hungern, unsre Weiber heulen –
Unsere Knochen in fremder Erde verfaulen – […]
Welche Mutter hat noch einen Sohn?

Es ist also kein Zufall, dass Ende 1963 im studentischen Kreis der „Ar­beits­gemeinschaft Burg Waldeck“ (ABW) der Plan zu einem Chanson­festi­val entstand, vorbereitet durch Vorschläge Peter Rohlands schon 1961 und 62, zur Tat gebracht dann gemeinsam mit Rolf Gekeler, Jürgen Kahle, Diethart Kerbs und Jürgen Gottschling (tenno). Der Gedanke an Waldeck als einer Werk­statt oder, wie Hein und Oss Kröher dies nannten, eines „Bauhauses der Folklore“, war zu jener Zeit angesagt. Ausdrücklich dachte man nicht an ein Folkfestival wie im amerikanischen Newport, sondern eher stellte man sich Treffen vor, wie sie von den Schriftstel­lern der Gruppe 47 veranstaltet wurden. Gegenseitige Anregung der Sänger war erklärtes und zentrales Ziel. Ein Forum für Kritik und För­de­rung wünschte man, Ort des Kennenlernens und Austausches von Sängern, Textern, Instru­men­ta­li­sten, Forschern und Kritikern. „Chansons Folklore In­ter­na­tio­nal – Junge Europäer singen“, so lauteten Titel und Motto der Veranstaltung.

Pfingsten 1964 erlebt die Bundesrepublik Deutsch­land ihr erstes Open-Air-Festival

Vierhundert Zuhörer sind zur Burg Waldeck ge­kom­men, um knapp zwanzig Sängern zu lau­schen. Die Organisatoren wollen einen „Ort der größt­möglichen Frei­heit für den Andersdenkenden“ bereit­stel­len, gesungen wünscht man sich das „Lob der Inkon­se­quenz“ und der „offenen Résistance für die Tole­ranz“; Worte sind dies, die auch einem frühen Lied Hanns Dieter Hüschs hätten entstammt sein können. Das bescheidene Ziel war eine „Demo­kra­tisierung ganz Euro­pas“, auch wollten wir „durch Aufweichung der zemen­tierten Fron­ten der Furcht“ engere Beziehungen zu Osteuropa herstellen. Manches war in der Begrüßungsrede von Diethart Kerbs zu hören, was an die Reden der Oster­marsch­bewegung erinnert, argu­men­tativ vorweg­ge­nom­men wurden wichtige Teile einer künftigen neu­en Ostpolitik.

Niemand unter den Zu­hörern konnte damals ahnen, dass Mu­sik­wis­sen­schaftler später einmal vom Anfang einer neuen mu­sik­geschichtlichen Epo­che, Histo­ri­ker von einem kul­tur­re­vo­lutionären Ereignis sprechen würden. Man sang und dis­ku­tierte, saß am Lagerfeuer man hat getrunken und genossen, was dann – später – zur Legende geworden sein wird.

Was war so epochemachend an diesem
und den in den Folgejahren schnell größer werdenden Festivals?

Nahezu alle hier gesungenen Lieder gehörten Anfang der sechziger Jahre zum Repertoire einer kleinsten Minderheit. In der Öffentlichkeit waren sie ganz unbekannt. In diesem Vakuum entfalteten die Festi­vals auf Burg Waldeck ihre Wirkung. Ein junges Publikum entdeckte, dass es neben jenen den Verstand vernebelnden Gemein­schafts­gesän­gen, die jede individuelle Denk‑ und Kritikfähig­keit auszulöschen ver­mö­gen, auch noch an­de­re Lieder gab, die zu singen Spaß machte.

Von nachhaltigen Folgen war der Entschluß, auf den Festivals besonders dem Chanson Raum zu ge­ben, einem Genre, das nach Über­zeugung der Veranstalter „in Deutschland längst noch nicht genug beachtet und ge­pflegt wird“.
Im deutschsprachigen Raum gab es – sieht man vielleicht von den Wienern Helmut Qualtinger, Georg Kreisler und Ger­hard Bronner ab – keine mit Pete Seeger und Joan Baez, Yves Montand oder Geor­ges Brassens vergleichbaren Sän­ger, die selbst­ge­schriebene und selbst­ver­ton­te Lieder vorgetragen hätten. Diethart Kerbs lieferte eine Definition des Chansons, die eine Erklä­rung für den Er­folg der in den folgenden Jahren populär werdenden Sänger ent­hält: „Es sträubt sich dagegen, im Chor gesungen zu wer­den; Chansons sind keine Mani­fe­sta­tionen eines rauschhaften Ge­mein­schafts­gefühls, sondern Anrede an den Einzelnen, sie brauchen den Hö­rer und lassen ihn gelten.“ Bereits 1965 waren die Waldeck-Veranstalter überzeugt, das neue deut­sche Chan­son verspreche, „zu einer neuen Art des Volkslieds zu werden“

gesungen für ein „Ant­wort gebendes Publikum“.

Und, tatsächlich werden die Festivals zur Wiege dieses neuen deut­schen Chansons, schnell bürgert sich der alte, schon im 18. Jahr­hun­dert gebrauchte Begriff „Liedermacher“ ein. Nahezu alle Sänger, die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten die Kon­zert­säle füllen wer­den, finden im Hunsrück erstmals ein größeres Pu­bli­kum: Franz Josef Degenhardt, Walter Hedemann, Hanns Dieter Hüsch, Reinhard Mey, Walter Moß­mann, Chri­stoph Stählin, Rolf Schwendter, Dieter Süver­krüp, Hannes Wader, Kristin Bauer-Horn, Michael Wachsmann, Scho­bert und Black. Durch Fasia Jansen, Sän­ge­rin der Oster­märsche, kommt schon 1964 mit der gegen den Rassis­mus zu Felde ziehenden „Ballade vom Briefträger William L. Moore“ auch ein Lied Wolf Bier­manns zu Gehör.

Erstmals nach 1945 ent­stehen wieder Lieder in deutscher Sprache, die das aktuel­le Zeitgeschehen begleiten und reflektieren. „Be­denkt man“, so Hein und Oss Kröher, „wie selten sich ein mu­si­ka­lisches Talent mit einem dichterischen in der gleichen Person ver­ei­nigt, um aus ihr einen Liederschöpfer zu ma­chen, so ist die Fülle der Talente, die seit 1964 aus dem deut­schen Boden schos­sen, einfach erstaunlich.“

„Bauhaus des euro­päi­schen Liedes“

Die Festivals schaffen eine produktive Atmosphäre des Sin­gens und Diskutierens, in der junge Künstler sich auspro­bie­ren können und Reso­nanz erhalten. Rund um die Uhr wird gesungen und gestritten. Walter Moß­mann etwa, bald einer der wich­tig­sten deutschen Chan­sonniers, erhält 1964 den Anstoß zu eige­nen Liedern. Schon 1965 trägt er sie mit gro­ßem Erfolg vor, nach dem Auftritt des Jahres 1966 nennt ihn die FAZ als größte Entdeckung des Festivals. Seine Vorbilder sind Boris Vian und mit Georges Brassens jener Poet, der „eine ganze Nation zum Sin­gen gebracht hat“. Durch Sänger wie Moß­mann entstand tatsächlich so etwas wie das auf der Waldeck angestrebte „Bauhaus des euro­päi­schen Liedes“.

Es ist während der ersten Festivals die Freu­de an poetischen Texten und an der Ausdruckskraft, die Dich­tern mittels ihrer Muttersprache möglich wird, die das Publi­kum eint. Man genießt die sprachgewandte Wortge­walt Die­ter Süverkrüps, die Sanftheit, mit der Reinhard Mey sich hören läßt, den spie­lerischen Witz, mit dem Hannes Wader vor­trägt. Solches hatte man in der eigenen Sprache, die dem Schla­ger reserviert schien, noch nicht gehört. Fasia singt schon 1964 ihre sehr politischen Lieder von Wiederbewaffnung und Atomversuchen. Ein­zel­ne Sän­ger greifen auf die fast vergessenen Chansons von Kurt Tu­cholsky, Walter Mehring, Erich Weinert, Frank Wedekind, Ber­tolt Brecht oder Erich Mühsam zurück, im Mittelpunkt ste­hen jedoch neu­verfaßte Lieder. In ihnen ist während der ersten drei Festivals bis 1966 bereits eine leise, oft noch ver­klau­sulierte Gesell­schaftskritik zu ver­neh­men – erste seis­mo­gra­phische Vorboten dessen, was man gemein­hin unter 1968 subsu­miert.

Für die schnelle Verbreitung der neuen Lieder waren die Medien zuständig

Es waren aber nicht nur Funk und Fernsehen, die geradezu gierig den neuen Gesang aufnahmen und auch noch gut zahl­ten, sondern nach meiner Erinnerung auch ganz andere, heute kaum noch genutzte. Aus dem Bundesjugendbericht 1965 weiß ich, dass 85 % meiner Alters­genossen ganz gerne deutsche Schla­ger hörten, nicht zuletzt auch des­halb, weil die soge­nannte Volks­schu­le der ganz überwiegenden Mehr­heit der Jugendlichen Englischkennt­nisse ebenso vorenthalten hatte wie eine musikalische Bildung.
Sehr gut erinnern wir uns der Begei­sterung beim Hören der Lieder des vorgeb­lich so verklau­su­liert formu­lierenden Franz Josef Degenhardt. Sein Lied „Deutscher Sonn­tag“ sprach mir aus der Seele, schilderte es doch die mit Bösar­tig­keit einhergehende öde Ereig­nis­losigkeit in einer Klein­stadt der sechziger Jahre. Solch ein Lied vermittelte, nicht allein zu sein mit dem Un­be­hagen angesichts der Verhältnisse „sonntags in der deut­schen Stadt“. Eine gegenüber allem Abweichenden feindli­che Um­welt war der Nor­mal­fall. Wo die vielen, die nichts gewußt zu haben, so eifrig beteu­er­ten, angesichts langhaari­ger „Gammler“ gerne vom Verga­sen sprachen und sich der angeblich erzieherischen Wirkung der Arbeitslager erinnerten, war Hanns Dieter Hüschs 1967 auf der Waldeck vorge­tra­ge­ner Sprech­gesang „Ich bin ein deutscher Lästerer“ tröstlich. Und, wo man durch den Auschwitz-Prozeß gerade erfahren hatte, was gut zwan­zig Jahre zuvor Unfaß­ba­res geschehen war, hörte man mit Dieter Süver­krüps „Kirschen auf Sahne“ ein erstes Lied mit­füh­lender Solida­rität.

Überwältigend, welch poetische Kraft, welche Texte und Lieder in der deut­schen Spra­che möglich waren, die ersten Gedanken an ein künf­ti­ges Germani­stik­stu­dium haben ihre Ursprünge in der Freude am „Ar­men Felix“, der „Tarantella“, den balladesken Weintrinkern und Kum­pa­nen, die Degenhardt uns schenkte. Das große Lied Boris Vians „Le deserteur“, gesungen in der deutschen Fassung Gerd Semmers 1964 auf der Waldeck von Dieter Süverkrüp bestärkte, den Kriegsdienst zu verweigern. Großen Eindruck machte schließlich die auf der Waldeck dargebotene, nie zuvor gehörte Lieder fremder Völker.
Auch die schnelle Politisierung, der das Festival ausgesetzt war, voll­zog ich mit. Beispielhaft dafür wie für die massenhafte Resonanz der neuen Lieder steht Franz Josef Degenhardt. Fast im Handumdrehen ge­winnt er ein nach Hunderttausenden zählendes Publikum von libe­ra­len Intellektuellen und Studenten. Es sind jene Teile einer jüngeren Generation, die während der Spiegelaffäre gerade erstmals protestiert haben und ein diffuses Unbehagen angesichts einer restaurativ erstarr­ten Gesellschaft empfinden, die sich am Ende der Adenauer-Ära in der Übergangszeit zur Großen Koalition befindet. Es ist zumeist noch keine agressive Kritik, die Degenhardt formuliert, sondern die Be­schrei­bung genau beobachteter Erscheinungen, die ihm gelingt wie kaum einem anderen. Bald thematisieren seine Lieder dann aber die Ge­ne­ra­tion der Mütter und Väter, die sich eingerichtet hat in neuem Wohl­stand und ihren Kindern die Vergangenheit verweigert. Die Zeit des Fa­schis­mus, das Mitwirken dort in hoher oder niedriger Position, ge­hört ebenso zu den Tabuthemen wie die Wiedereinsetzung der Täter in alle ihre Ämter.

„Nur Auschwitz, das war ein bißchen zu viel“

„Ihre Kinder haben Angst“, so schreibt Degenhardt in dem Lied „Häuser im Regen“, „Angst vor den Vätern auf Büfetts in Trauerrahmen./ Denn wer weiß, was die korrekt verwaltet haben.“ An­de­re Sänger folgen. In seinem Monumentallied über den deutschen Michel singt Dieter Süverkrüp sarkastisch „Gaskammerdiener kommt ins Loch – für ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs Woch“. Berühmt wer­den Degenhardts Senatoren und Notare, die mit ihren Wahlsprüchen „Al­les mit Maß und mit Ziel“ gut durch die Zeiten kommen, „zwi­schen den Zeilen Widerstand leisteten, damals“ und die Vergan­gen­heit mit dem Satz kommentieren „Nur Auschwitz, das war ein bißchen zu viel“.

„Das engagierte Lied“

1967 erhält das Festival den Untertitel „Das engagierte Lied“. Die zu­nehmende Radikalisierung wird durch den Anspruch charakterisiert, vom Unbehagen an gesellschaftlichen Symptomen zu deren Ursachen im gesellschaftlichen System vorstoßen zu wollen. Auf der Tages­ord­nung stehen nun Lieder, die einen ganz neuen Blick auf die eigene Gesellschaft werfen. Entdeckt wird deren Verflechtung mit diktato­ri­schen Regimen, der Putsch in Griechenland und die Zustände im Iran werden zu Studienfällen dafür, was der Westen unter „Freier Welt“ versteht. Die Großmacht USA mit ihrer Rassentrennung erscheint in neuem Licht. Im Vietnamkrieg sind die Parolen von Freiheit und De­mo­kratie so offensichtlich ins Unrecht gesetzt, dass die anti­kom­mu­nistisch geprägten Rechtfertigungsversuche für diesen Krieg an Glaub­würdigkeit verlieren. Die Ereignisse in Südostasien und die Not­stands­gesetze tragen bei den wichtigsten Liedermachern und zeit­gleich in der Außerparlamentarischen Opposition zu energischem Wider­spruch bei. Der Bundesrepublik erwächst erstmals nach dem KPD-Verbot wieder eine Fundamentalopposition, die über gesell­schaft­liche Gegenentwürfe nachdenkt.

Unter den auftretenden Künstlern findet 1968 die studentische Rock­gruppe Floh de Cologne Zustimmung. Sie will Lehrlinge und junge Arbeiter ansprechen und lernt die dafür benötigten Instrumente zu bedienen, um in einfachsten und unverschnörkelten Klangfolgen mit eige­nen Texten politische Aufklärung zu betreiben. Themen wie Kon­sum, Sexualität, Kindererziehung, Springerpresse, neue Wohn- und Lebensformen werden thematisiert. In einer Zeit, da Kuppelei noch mit Gefängnis, Homosexualität mit Zuchthaus bestraft wird, tragen „Floh de Cologne“ und schnell entstehende Gruppen wie „Loko­mo­tive Kreuzberg“, „Hotzenplotz“, „Was tun?“ und schließlich die legen­dären „Ton Steine Scherben“ dazu bei, dass die in der Studen­ten­be­wegung entwickelte Utopie eines freieren, selbstbestimmten Lebens auch außerhalb der Außerparlamentarischen Opposition populär wird.

1969 geht das Festival, nun nicht mehr getragen von der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck (ABW), als revolutionär-politische Diskussions­werk­statt zu Ende. Das Publikum stellte schon zuvor vereinnahmend-harsche Forde­rungen an die Künst­ler, die Standtpunkte werden unvereinbar.

Die Wirkungen der Waldeck aber sind unübersehbar

Sie sind das nicht nicht nur in zahl­reichen Nachfolgefestivals, das neue politische Lied hat einen festen Platz gefunden. Der Widerhall, den die Sänger auch in den Medien ernten, ist in der deutschen Musikgeschichte beispiellos: Franz Josef Degenhardts „Spiel nicht mit den Schmuddel­kin­dern“ findet 200.000 Käufer, hunderttausende besuchen die Kon­zer­te. Über die Galions­figuren des politischen Liedes hinaus expe­ri­men­tieren hunderte Sänger und Gruppen damit, ihre Erfah­rungen, ihr Weltverständnis, ihre Wünsche und Ziele musikalisch und mit eigenen Texten zu formulieren. Für einen kleinen Augenblick gesell­schaft­li­chen Aufbruches und großer Veränderungshoffnungen wird das deutsch­sprachige politische Lied zu einer kulturellen Er­schei­nung von erheblicher Breitenwirkung. Die Festivals haben – ausgehend ganz besonders auch von aus­län­dischen Einflüssen – den Sängern in englischer und französischer Sprache nämlich, deutschen Sängern dauerhaft Mut gemacht zum Gebrauch der eigenen Sprache und zum Schreiben anspruchsvoller Lieder.

Eine weitere Wirkung der Waldeck-Festivals sei zum Ab­schluß wenigstens zu erwähnen: die Wiederent­deckung des Volks­liedes in den 70er und 80er Jahren. Peter Rohland, dieser wiederum angeregt auch durch den großen Liedersammler der DDR, Wolfgang Steinitz, wurde hier mit seiner Konzeption wichtig. Als Volks­lieder wollte er nicht nur die überlieferten Lieder aus dem Alltags­le­ben verschie­dener Bevölkerungsgruppen begreifen, son­dern auch die Lieder der histo­ri­schen politischen und sozialen Ausein­an­der­set­zungen. Dieses Volks­lied, so seine Überzeugung, dürfe nicht mehr unreflektiert gesungen werden, was zugleich bedeutete, die histo­rischen Hintergründe solcher Lieder zu erfassen und in der Inter­pre­tation zu verdeutlichen. Fiedel Michel, Hannes Wader, Lerryn, Zupf­gei­gen­hansel, Liederjan oder Elster Silberflug sind in der Nach­folge Peter Rohlands und von Hein und Oss Kröher für die neue Popu­la­ri­tät solcher Lieder verant­wort­lich.
Nota bene haben wir noch einen alten – etwas angekratzten –
Film aufgetrieben: Alsdann – eben drum – sehenswert!

Das Wertvollste aber, was die Festivals charakterisierte, ist vielleicht der kleine Beitrag dazu, dass einige Menschen mehr sich wieder in ihrer eigent­lichen Muttersprache artikulieren können. Als solche bezeich­nete 1999 Yehudi Menuhin kurz vor seinem Tod das Singen

Aug 2023 | Heidelberg, Allgemein, Essay, Feuilleton, Junge Rundschau, Senioren, Zeitgeschehen, Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch | Kommentieren