Erneut ist in Europa eine Debatte um die Kontrolle von Migration durch den Ausbau befestigter Grenzen entbrannt.
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner drängt auf den „physischen Schutz der Außengrenze“ per Zaun. Bundesinnenministerin Nancy Faeser will gar ein „Momentum“ erkannt haben, um mögliche Asylansprüche nur noch an den Außengrenzen einer immer stärker abgeschotteten Europäischen Union zu prüfen. Was dabei in aller Regel übersehen wird: Schleichend und unauffällig beschädigen die neuen Mauern um Europa die demokratische Gesellschaft.
Sie schaffen eine Situation, in der die liberale Demokratie ihre eigenen Regeln bricht. Und sie gewöhnen die Bevölkerung an Bilder notleidender, verletzter oder toter Migranten an Europas Grenzen – Grenzen, die angeblich dem Schutz der Bürger dieses Kontinents dienen.
Einige dieser Bilder sind längst ikonisch geworden und haben sich in unserem Gedächtnis festgesetzt: Das Bild des dreijährigen Alan Kurdi, leblos am Strand an der türkischen Mittelmeerküste. Das Bild zweier Golfer, deren Partie von einem Dutzend Flüchtlinge gestört wird, die jenen haushohen Zaun überwinden wollen, der nicht nur den Golfplatz rahmt, sondern der auch die spanische Exklave Melilla von Marokko trennt. Oder vielleicht auch jenes Bild von der polnisch-belarussischen Grenze, auf dem linksseitig des frisch errichteten Grenzzauns Dutzende Flüchtlinge zu sehen sind, die in der Kälte eng beieinander im Feuerrauch hocken, während rechts vom Nato-Zaun Grenzschützer in einem schweren Humvee-Geländewagen auf dem freigeräumten Kontrollweg patrouillieren.
Solche Schlüsselbilder erzählen wortlos ihre Geschichte. Eine Geschichte über extreme globale Ungleichheit, über Not und Verzweiflung und über das Antlitz der europäischen Abschottung. Diese Geschichte wiederholt sich vor dem Hintergrund wechselnder Landschaften, in Wäldern, auf freien Grünflächen, an Stränden oder auf dem offenen Meer.
Auch als im Herbst 2022 Gruppen von Flüchtlingen
aus Afghanistan, Syrien, dem Jemen, Ägypten, dem Irak und dem Iran versuchten,
über die Grenze von Belarus nach Polen in den Schengen-Raum zu gelangen,
schlug ihnen massive Gewalt entgegen.
Polnische Grenzbeamte trieben die Flüchtlinge – darunter auch Schwangere und Kinder – zurück über die Grenze nach Belarus. Hunde wurden auf sie gehetzt, Schlagstöcke flogen. Auf Twitter warfen die Verantwortlichen mit militärischen Begriffen um sich: „Angriff“, „Verteidigung“, „Vorstoß“, „Kampf“. Das Militär rückte an, Helfer wurden inhaftiert, Medienvertreter abgewehrt. Neue Gesetze wurden erlassen, Zäune errichtet. Gelder flossen. Unterdessen starben Menschen an Unterkühlung oder an Krankheiten. 28 Tote wurden im Zeitraum zwischen August 2021 und November 2022 an der Grenze zwischen Polen und Belarus bestätigt. Die Europäische Union hielt sich mit rechtsstaatlichen Bedenken zurück und stellte Millionen an Hilfsgeldern bereit, sogar die Nato versprach ihren Beistand. Europa erklärte Menschen explizit zu Waffen in einem „hybriden Krieg“. Im öffentlichen Diskurs kollidierte eine militarisierte politische Sprache des Selbstschutzes mit den Bildern von Tod, Elend und roher Gewalt gegen unbewaffnete Zivilisten. Viele Menschen in Polen und im weiteren Europa reagierten mit Entsetzen und dem Ruf nach Wahrung der Menschenwürde, des internationalen Rechts und der europäischen Werte. Doch welche Seite steht für Europa?
Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, postete auf Twitter ein Foto von sich mit uniformierten polnischen Grenzschützern vor dem fünfeinhalb Meter hohen Stahlzaun an der Grenze zwischen Belarus und Polen mit dem Kommentar: „Unsere europäischen Werte zeigen sich auch daran, wie wir an unseren Grenzen agieren.“ Die Mehrdeutigkeit ihrer Worte vor dem Hintergrund eines Fotos, auf dem kein einziger Flüchtling zu sehen war, schien ihr dabei nicht bewusst zu sein.
Andere Politiker ließen dagegen an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig.
Sie zeigten sich offensiv gleichgültig gegenüber dem Elend der Geflüchteten und forderten andere dazu auf, ebenfalls gleichgültig zu sein. Wir dürften der Wirkung von Bildern notleidender Menschen an den Grenzen Europas „nicht nachgeben“, sagte der damalige sozialdemokratische deutsche Außenminister Heiko Maas im „Tagesthemen“-Interview im November 2021. Wir müssten sie „aushalten“, forderte der konservative sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer im selben Monat.Diese Aussagen bezogen sich auf das Leiden an der europäischen Außengrenze, richteten sich aber allein nach innen, an die Bevölkerung in Deutschland. Zudem waren die Formulierungen ungenau. Gemeint war nicht, dass wir irgendwelche Bilder leidender Menschen aushalten sollten, sondern Bilder von Menschen, zu deren Leid wir selbst durch die Abschottung Europas beigetragen haben. So wie Maas und Kretschmer rechtfertigten viele Politiker in Europa die Gewalt polnischer Grenzschützer gegen Migranten und forderten den Bau einer Mauer an der Ostgrenze Polens, die inzwischen tatsächlich fertiggestellt wurde. Die Appelle an Härte und Unnachgiebigkeit sollten Machthaber jenseits der Grenze ebenso beeindrucken wie künftige Flüchtlinge. In erster Linie wird mit ihnen aber die eigene Gesellschaft hinter den zu errichtenden Mauern adressiert. Innerhalb weniger Tage und angesichts einiger Tausend Migranten wurde die ominöse rhetorische Figur der begrenzten „Aufnahmebereitschaft“ beschworen, begleitet von dem Ruf nach weiteren Maßnahmen zur Abschottung Europas gegenüber den anderen, die keine Europäer sind. Solche beispielhaften Nahaufnahmen illustrieren, wie die gewaltsame Abwehr unerwünschter Migranten auf die Gesellschaft einwirkt, die ebenfalls auf Abwehr umschwenken soll. Dass die Gewalt an den Grenzen den Abgewehrten tausendfach Leid zufügt, berichten viele kritische Beobachter und Journalisten. Die erwähnte Episode zeigt darüber hinaus aber, dass wir auch darauf schauen müssen, was auf unserer Seite der Grenze passiert. Stellvertretend für viele andere Politiker und Kommentatoren forderten Maas und Kretschmer nichts weniger als eine Gesellschaft, für die Tod und Elend an den Grenzen kein Grund zur Aufregung sein sollen.
Die Utopie Europas – als einer unberührten Insel
Oft wird so getan, als schützten Mauern eine Gesellschaft, die unberührt bliebe von den Grenzen, die sie umgeben. Das war die Vorstellung von Thomas Morus, dem Autor des Romans „Utopia“. Die erste Amtshandlung des Gründers seines fiktiven Reichs besteht darin, zwischen Utopia und dem Rest der Welt einen tiefen Graben ausheben zu lassen, der vom Meer geflutet wird, sodass das Land zur Insel wird und für „Ausländer“ nur noch schwer zugänglich ist. Aber dieses Bild ist irreführend. In Wirklichkeit verkümmert die Gesellschaft, jedenfalls die demokratische Gesellschaft, wenn sie sich radikal nach außen abgrenzt. Mauern machen etwas mit denen, die sich hinter ihnen verschanzen und ängstlich auf die Welt jenseits der Grenzen blicken. Wer hinter Mauern lebt, lebt zunehmend von ihnen bestimmt. Eine Gesellschaft verändert sich, wenn sie durch gewalttätige, willkürliche und rassistische Grenzregimes von der Außenwelt getrennt und zugleich mit ihr verbunden ist.
„Wir“, die Einheimischen, bleiben nicht unberührt von der Gewalt, die in unserem Namen „anderen“ an der europäischen Außengrenze zugefügt wird. Die westlichen Gesellschaften wandeln sich und nehmen selbst Schaden durch die gewaltsame Abwehr von Migranten. Die Gewalt gegen Menschen jenseits der Grenze wirkt auch auf die Menschen diesseits der Grenze. Diesseits der Grenze müssen Menschen ausgebildet und Apparate aufgebaut werden, die zur Ausübung von Gewalt an der Grenze bereit und fähig sind. Die rasant wachsenden Budgets für diese Apparate bedürfen – ob direkt beschlossen oder als Teil größerer Haushaltsposten – der parlamentarischen Zustimmung. In der Hoffnung, ihre Effizienz zu erhöhen, werden Grenzschutzakteure einer allzu strikten, unabhängigen Kontrolle entzogen. Dafür bedarf es diesseits der Grenze einer Öffentlichkeit, die entweder nichts über die Grenzgewalt und ihre Folgen für unschuldige Zivilisten erfährt oder die wegschaut, die Gewalt akzeptiert oder sie sogar aktiv begrüßt und unterstützt. Dies wiederum erfordert es, die kollektiven Affekte zu formen und der Bevölkerung einzureden, dass sie allen Grund hat, sich vor Migranten zu fürchten. All dies hat Folgen für den Rechtsstaat, die Medienberichterstattung und politische Mobilisierungen – Folgen, die in ihrer Summe eine Gefahr für die offene Gesellschaft darstellen.
Womit nicht geschrieben sein will, dass diese Gefährdung immer intendiert ist
Die Vordenker und Planer der neuen Mauern gegen unerwünschte Migration mögen vielmehr darauf setzen, dass die Gewalt an den Grenzen verbleibt und nicht in die zu schützende Gesellschaft diffundiert. Die Vorstellung wird gestützt durch das altbekannte literarisch-philosophische Motiv der „schmutzigen Hände“, also der Vorstellung, dass man gelegentlich illegale oder unmoralische Maßnahmen ergreifen müsse, um höhere moralische Ziele wie den Schutz der freien Gesellschaft zu gewährleisten. Dieses Motiv übersieht jedoch die mögliche „moralische Korrumpierung“ des Kerns der Gesellschaft durch die Gewalt an ihren Rändern oder, in einer anderen Theoriesprache, die „Spillover-Effekte“, durch die Handlungen oder Ideen von einem gesellschaftlichen Bereich auf andere Bereiche übergreifen.
In der politischen Theorie wird häufig argumentiert, dass stabile liberale Demokratien auf eine umfassende Migrationskontrolle und „geschlossene Grenzen“ angewiesen seien. Tatsächlich aber ist das Gegenteil der Fall, die liberale Demokratie wird durch die restriktiven Grenzregimes der Gegenwart beschädigt. Letztlich ist die Demokratie, wie als Erster der französische Philosoph und Literaturnobelpreisträger Henri Bergson bereits vor dem Zweiten Weltkrieg schrieb, die einzige politische Ordnung, die darauf angelegt ist, die Bedingungen einer nach innen und außen geschlossenen, abgeschotteten Gesellschaft zu überwinden.[8] Sie verträgt sich daher nicht mit geschlossenen Grenzen.
Hinzu kommt, dass die Grenzen nicht für alle gleichermaßen geschlossen
und die Mauern nicht für alle gleich hoch und undurchlässig sind.
Flüchtlinge aus der Ukraine wurden in Deutschland, Polen oder Litauen seit dem Frühjahr 2022 ausdrücklich und offiziell willkommen geheißen. Selbstverständlich zu Recht. Irritierend war allerdings, dass die Aufnahmebereitschaft bei jenen Flüchtlingen aus der Ukraine an ihre Grenzen stieß, die aus Afrika oder Asien stammten, aber in der Ukraine arbeiteten oder studierten.[9] Und ebenso irritierend waren viele implizit vergleichende Kommentare aus Politik und Medien. Den Ukrainern, bemerkte eine hochrangige deutsche Amtsperson, „muss nicht erklärt werden, wie eine Waschmaschine funktioniert, oder dass auf dem Zimmerboden nicht gekocht werden darf“. Anders als den Barbaren, die 2015 ins Land drängten, so der leicht zu entziffernde Subtext.
Generell sei festzuhalten, dass die Fluchtgründe weißer Flüchtlinge aus der Ukraine wesentlich weniger hinterfragt wurden als zum Beispiel die syrischer Flüchtlinge vor und nach 2015,
Dies, obgleich oft sogar die Truppen desselben Landes, nämlich Russlands, die Herkunftsstädte der Geflohenen in Schutt und Asche bombten.Auf diese Unterschiede angesprochen, die die Betroffenen vom Grenzübertritt bis zu Registrierung und Aufnahme zu spüren bekommen, entgegnete der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis schlicht, die Ukrainer seien eben „die echten Flüchtlinge“.
Solche Stimmen ignorieren, dass einige europäische Gesellschaften auch dann sehr wohl in der Lage sind, mit hohen Zahlen von Migranten konstruktiv umzugehen, wenn sich die Zuwanderung ungeplant vollzieht. Außerdem erinnern sie uns daran, dass wir über Rassismus sprechen müssen.
Die Grenzregimes der Gegenwart sind
ohne den Begriff des Rassismus nicht zu verstehen.
Aber der Rassismus an den Grenzen verharrt nicht dort, sondern speist sich aus einer entsprechenden Gesellschaft und wandert von den befestigten Grenzen gestärkt in die Gesellschaft zurück. Die Gewalt an der Grenze greift nach innen aus und korrumpiert die Gesellschaft, indem sie zum einen die Institutionen des Rechtsstaats und der Demokratie beschädigt und zum anderen eine Verrohung der zivilen Alltagsmoral fördert durch die kollektive Gewöhnung an Grausamkeit und Rechtsbrüche. Die gewaltsame Migrationsabwehr ist nicht zu haben ohne eine Enthemmung der Machtausübung an den Grenzen. Das „tödliche Gift hemmungsloser Macht“ beschädigt aber nicht nur seine Opfer, sondern auch die Täter und ihre Gesellschaft, wie bereits Frederick Douglass, der große Vorkämpfer für die Abschaffung der Sklaverei in den USA, schrieb.
In Europa entfalten sich die Konflikte um Migration und Grenzregimes
vor dem Hintergrund des europäischen Einigungsprozesses
Dieser Prozess führt einst verfeindete Staaten zusammen, setzt aber gleichzeitig mächtige Zentrifugalkräfte frei, die den Trend zur Abschottung Europas durch Ansätze einer nationalistischen Abschottung der Mitgliedsstaaten noch überbieten. Die offene Frage lautet also, wie die werdende europäische Gesellschaft aussehen wird. Wie offen wird diese Gesellschaft sein? Wie mächtig werden die neuen Mauern um Europa herum in unseren Köpfen werden? Und welche Bedeutung werden die „Würde des Menschen“ und die Menschenrechte haben, die dem europäischen Projekt zugrunde liegen?
Die neue Militanz Europas
Das Streben nach Verwirklichung dieses europäischen Versprechens krönte das Nobelkomitee, als es der Europäischen Union im Jahr 2012 den Friedensnobelpreis verlieh und dies mit dem Einsatz der EU für Demokratie und Menschenrechte begründete. Insbesondere nach dem Fall der Berliner Mauer und der Osterweiterung sei die EU zu einer Verheißung geworden, sodass bereits die Beitrittsperspektive Demokratie und Menschenrechte sogar in der Türkei vorangebracht habe.
Wo aber stehen wir heute, kaum mehr als zehn Jahre nach dieser Ode an die europäische Menschlichkeit? Immer mehr Europäer wählen Parteien, die militant für geschlossene Grenzen sowie für eine geschlossene Gesellschaft eintreten. Die Europäische Kommission hat den Schutz „unserer europäischen Lebensweise“ nicht nur ideell, sondern auch administrativ mit dem Motiv der „starken Grenzen und einem Neustart in Sachen Migration“ verbunden. Wissenschaftler vergleichen unterdessen die oft vergeblichen Versuche der Abschottung Europas (und anderer Teile der Welt) in den letzten Jahren mit einem regelrechten „Krieg gegen Migranten“. Wenn dieser Vergleich auch nur annähernd stimmt, bleibt der Dauerkrieg an den Grenzen nicht ohne Folgen für die europäische Lebensweise, um deren Schutz es angeblich geht. Denn: „Keine Nation kann ihre Freiheit inmitten eines andauernden Kriegs bewahren.“ Gegen den herrschenden Trend ist daher ein Perspektivenwechsel dringend erforderlich. Während der Wandel von Gesellschaften durch Migration ein oft behandeltes Thema ist, haben sich nur wenige mit dem Thema beschäftigt, wie sich Gesellschaften verändern, wenn sie Migration mit immer massiveren Mitteln abwehrt.
Das oft bemühte Bild von der „Festung Europa“ ist zweifellos problematisch
Zumindest deshalb, weil gar nicht davon auszugehen ist, dass die Abwehr unerwünschter Migration, besonders aus dem Globalen Süden, immer und dauerhaft gelingt. Europa ist also weder eine Burg noch eine Festung, wohl aber eine Union von Staaten, in der das „Festungsdenken“ mächtig ist.
Die Festungsmetapher nämlich beschreibt keine Realität
aber doch eine kollektive Fantasie, die Realitäten schafft.
Bei dieser Fantasie dreht sich alles darum, physische und mentale Dämme zu bauen, um die imaginierten Fluten zu stoppen, die von außen und aus dem Untergrund den nationalen Staat zu ertränken drohen. In Europa gibt es sogar eine Rhetorik, die für die „Festung Europa“ plädiert, um migrationswillige Menschen vor den Folgen ihres Aufbruchs nach Europa zu schützen. Um Migranten vor den „immensen Verstößen gegen ihre Menschenrechte zu bewahren“, so brachte die AfD-Fraktion diese perfide Logik in einem Entschließungsantrag im Deutschen Bundestag auf den Punkt, müsse man die relevanten Migrationsrouten nach Europa „wirkungsvoll schließen“ und alle Betroffenen „ausnahmslos abschieben“. Flüchtlinge werden dieser Logik zufolge am besten dadurch geschützt, dass man sie an der Flucht hindert.
In Wirklichkeit jedoch existiert die „Festung Europa“ nicht an den Grenzen
und auch nicht in den Regeln, die die Überschreitung dieser Grenzen regulieren
Sie ist ein Schlagwort, das entweder so vage oder so leicht zu widerlegen ist, dass es über die schrille Vokabel hinaus kaum Kritik an den realen Effekten des europäischen Grenzausbaus erlaubt. Vielmehr gewinnt sie durch ihre stete Aufrufung ein Eigenleben. So kann die kritische Gleichsetzung der EU mit einer Festung gerade den gegenteiligen Effekt haben, dass das ungenaue Sprachbild unabsichtlich zur Normalisierung eben jener Wagenburgmentalität beiträgt, die es anklagen will.
Ein derart regressiver gesellschaftlicher Wandel vollzieht sich nicht erst mit dem Erfolg des Abschottungsprojekts. Er geschieht bereits dann, wenn die kollektive Absicht, Migranten notfalls mit Gewalt abzuwehren, zu einem Projekt wird, dem sich große Teile der Bevölkerung und der Eliten verschreiben. Ganz gefährlich wird es, wenn dieses Abwehrprojekt idealistisch aufgeladen und mit dem Projekt Europa verschmolzen wird.
Der Perspektivenwechsel vom Wandel durch Migration zum Wandel durch die Abwehr von Migration erfordert eine erhöhte Aufmerksamkeit für die oft schleichenden gesellschaftlichen Veränderungen in den Zielregionen der globalen Migration, besonders in Europa.
In ihrer grundsätzlichen Kritik an „Mauern“ identifiziert die amerikanische Philosophin Wendy Brown eher im Vorbeigehen ein Paradox: Je militanter die staatliche Grenze zwischen einer vermeintlich guten, geordneten Innenwelt und einer bösen, chaotischen Außenwelt verteidigt und befestigt wird, desto mehr verschwimmt sie, und das Chaos schleicht sich auch ins Innere der Gesellschaft hinein. Diesen Gedanken führt Brown jedoch nicht weiter aus. Mauern sind für sie in erster Linie Projektionsflächen für Wünsche und Fantasien totaler Sicherheit in einer neoliberalen Welt schwindender Staatssouveränität, in der das Leben der meisten immer prekärer wird. Dieser Gedanke hat jedoch noch eine radikalere Implikation: Die physischen, rechtlichen und symbolischen Mauern, die zur Abwehr von Migration hochgezogen werden, sind nicht nur politische Projektionsflächen. Vielmehr haben die Mauern ganz konkrete soziale und normative Auswirkungen, indem sie destruktiv in die Gesellschaft zurückwirken, deren Schutz sie angeblich dienen sollen. Die hochgerüsteten Grenzen der Gegenwart sind keineswegs nur „Sortiermaschinen“ (Steffen Mau), die allein den anderen, den Aussortierten, schaden. Sie sind auch Disziplinierungsmaschinen, die die ausschließende Gesellschaft selbst zur Akzeptanz von Gewalt und Ausschluss erziehen.
Die Geschichte Europas – Versprechen und Verbrechen
Insofern ist die Geschichte des politischen Europas ein janusköpfiger Prozess, der ein Versprechen auf Frieden formuliert und zugleich ein Verbrechen beinhaltet. Die verschärfte Migrationsabwehr bricht nicht nur täglich das europäische Versprechen einer menschenrechtskonformen Gesellschaft, sondern dieses ist auch in seinem Gehalt korrumpiert worden, sodass es unklar bleibt, was genau „Europa“ uns und anderen eigentlich verspricht.
Die eskalierende Abschottungspraxis führt zu schleichenden gesellschaftlichen Verformungen. Es sind vor allem fünf Felder, auf denen sich die korrumpierenden Folgen der gewaltsamen Migrationsabwehr für die offene Gesellschaft beobachten lassen: Erstens sind die enormen symbolischen Anstrengungen zu nennen, die unternommen werden, um in der Bevölkerung das Gefühl einer Bedrohung durch Migration zu formen. Zweitens im Aufbau weitgehend unkontrollierter und nur begrenzt berichtspflichtiger polizeilicher oder militärischer Grenzinfrastrukturen sowohl an den geografischen Grenzen als auch im Landesinneren. Dies ist drittens eng verbunden mit der Suspendierung von Grund- und Menschenrechten in Grenzregionen und der schleichenden Normalisierung autoritärer Ordnungsstrukturen. Viertens greift die Grenze dadurch nach innen aus, dass sie Maßnahmen zur Einschüchterung auch der Einheimischen nach sich zieht. Dies beginnt bei denen, die wegen „Beihilfe“ zu irregulärer Migration angeklagt werden, und geht immer weiter. Zu diesem Komplex gehören nicht zuletzt die Stigmatisierung und Diskriminierung von Einwohnern, die aufgrund von Aussehen oder Familienbiografie mit jenen identifiziert werden, die an den Grenzen abgewehrt werden sollen. Fünftens schließlich fördern der reale, erhoffte oder halluzinierte Ausbau von unübersteigbaren Mauern ein sozialpsychologisches Syndrom, das wir im Anschluss an eine literarische Vorlage als „Faschismus des Herzens“ bezeichnen.
Darunter ist der Hang zu paranoiden, hochgradig destruktiven Abgrenzungen zu verstehen – und zwar nicht nur gegen imaginierte Feinde, sondern auch gegen die Zumutungen der Wirklichkeit selbst, was – wie wir im Erstarken des Rechtspopulismus erleben, fatale Folgen im politischen Raum haben kann. Worauf es daher heute ankommt, ist, die Institutionen der Grenze so zu reformieren, dass sie sich den Menschenrechten und dem menschlichen Wanderungsverhalten anpassen, anstatt umgekehrt menschenrechtswidrig das Wanderungsverhalten durch immer restriktivere Regeln zu kontrollieren. Dafür spricht auch, dass die Kontrolle ohnehin nur schlecht funktioniert. Die vielbeschworenen „sicheren Außengrenzen“ sind eine gefährliche politische Fantasie. Angeblich „sichere“ Grenzen werden mit einem Maß an Zwang und Gewalt erkauft, das letztlich die Freiheit aller gefährdet.
Die Gewalt an den Grenzen bedroht nicht nur Migranten,
sondern auch die Bürger derjenigen Staaten,
die sich hinter Mauern in falscher Sicherheit wiegen
und sich vor falschen Gefahren fürchten
Womot sie vor allem letztlich eines aufs Spiel setzten: die offene Gesellschaft und damit die Prinzipien der liberalen Demokratie. Als der damalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso 2012 den Friedensnobelpreis für die Europäische Union entgegennahm, erinnerte er an die aufklärerische Idee eines Friedens, der mehr bedeutet als nur die Abwesenheit von Krieg: „Die Europäische Union steht nicht nur für den Frieden zwischen den Nationen.“ Als ein „mächtiges Vorbild für die ganze Welt“ verkörpere sie vielmehr, betonte Barroso mit Verweis auf Spinoza, den Frieden als „Tugend“ und „Geisteshaltung“ (state of mind) Angesichts ihres Alltagsgeschäfts dürfte den meisten Innenministern und Grenzschutztruppen in Europa diese Idee des Friedens, an die Barroso wenigstens noch einmal erinnerte, denkbar fremd sein und nicht einmal als Ideal dienen. Wenn man die Friedensidee dagegen ernst nimmt, bestünde ein Ausweg aus der heutigen Situation vielleicht darin, sich aus der tagespolitischen Fixierung auf angebliche Ausnahmezustände und Krisen an einzelnen Grenzen zu lösen und neu über die Grundlagen einer demokratischen Grenzpolitik nachzudenken.
Ein berühmter Satz aus einem Gedicht des US-amerikanischen Dichters Robert Frost lautet, dass es „gute Zäune“ sind, die „gute Nachbarn“ machen.
Leider wird dieser Satz oft missverstanden als ein Plädoyer für Zäune, Mauern und geschlossene Grenzen – oder aber als eine pauschale Ablehnung der Grenzen. Man kann ihn jedoch auch so deuten, dass Frost ein Beurteilungskriterium entwickelt, das es uns erlaubt zu entscheiden, ob ein Grenzzaun gut ist oder nicht. Gute Zäune wären demnach solche, die für gute nachbarschaftliche Beziehungen sorgen. Und nur durchlässige Zäune mit Türen und Toren, die niemanden verletzen, die nicht nur von einer Seite aus kontrolliert werden und außerdem einem erkennbaren und sinnvollen Ziel dienen, schaffen gute Beziehungen. „Ich würd mich fragen, eh ich Mauern zög: / Was zäun ich damit ein, was zäun ich aus, / Und wen mein Zäunen leicht verletzen möcht.“[27] Das stets zu bedenken, könnte auch verhindern, dass die um Europa gezogenen Mauern uns selbst immer mehr korrumpieren und damit unsere demokratische Gesellschaft beschädigen.
Der Beitrag basiert auf
„Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft“,
dem jüngsten Buch der Autoren, das im Suhrkamp Verlag erschienen ist.