Johanna I. von Kastilien – die mit ihrem Sarg durchs Lamd ziehende „Wahnsinnige“

Ob Kaiser Nero, der Rom in Brand gesteckt haben soll, oder die bizarren Lebensumstände des bayerischen Königs Ludwig II.: Skandale und Gerüchte rund um die herrschenden Klassen waren schon immer von großem Interesse für Volk und Bevölkerung.

Die Eskapaden des Adels sind nicht nur besonders schillernd, sie haben auch eine enorme Tragweite, denn ein psychisch instabiler Herrscher kann großen Schaden anrichten.

 

Historischer Überlieferungen wegen wird heute diagnostiziert, was für das teilweise wahnsinnige Verhalten mancher Monarchen verantwortlich war, ist kaum möglich. Jedoch gibt es Versuche, mit dem heutigen Wissen über psychische Störungen und Krankheiten medizinisch fundierte Erklärungen zu finden.

George III. von England: Poryphyrie und Demenz

Der im Jahr 1738 geborene George III. bestieg im Jahr 1760 den Thron von Großbritannien und Irland. In der zweiten Hälfte seiner Regentschaft erlitt der König fünf Episoden geistiger Umnachtung, während denen er stunden- und teilweise tagelang mit Schaum vor dem Mund ununterbrochen redete, bis er heiser wurde. Der König sei „verfolgt von Trugbildern“ und spreche „mit Toten und abwesenden Personen“, notierten die Hofärzte und diagnostizierten „Fieber im Gehirn“ und „Delirium“.

Um ihm „böse Körpersäfte“ zu entziehen, wurde der Herrscher mit ätzenden Wickeln behandelt. Stellte sich keine Besserung ein, legte man ihm eine Zwangsjacke an. Ab dem Jahr 1811 war der Geisteszustand des Monarchen so untragbar, dass sein Sohn, George IV., die Amtsgeschäfte übernehmen musste. Trotzdem blieb George III. König, bis er im Jahr 1820 blind, fast taub und an Demenz erkrankt starb – ohne, dass der wahre Grund für seinen Wahnsinn gefunden wurde.

Im Jahr 1966 lieferte eine Studie englischer Ärzte eine mögliche Erklärung. Ihr zufolge litt Georg III. an Porphyrie, einer erblichen Stoffwechselkrankheit. Neben verschiedenen körperlichen Symptomen löst sie Halluzinationen und Psychosen aus, wie sie auch George III. gehabt haben soll. Im Jahr 2005 stellte ein Forschungsteam der University of Kent in Haarproben des früheren britischen Königs zudem einen auffällig hohen Arsengehalt fest. Sie vermuten, dass das Gift über verunreinigte Medizin in seinen Körper gelangt war und die Porphyrie-Anfälle verschlimmert hat.

Dass Poryphyrie tatsächlich die Ursache für George III. geistige Umnachtung war, wird inzwischen jedoch angezweifelt. Neuere Untersuchungen und Sprachanalysen von Texten, die er während seiner Episoden verfasste, lassen eine bipolare Störung vermuten.

Karl VI. von Frankreich: Schizophrenie und Glaswahn

Als der französische König Karl V. im Jahr 1380 starb, folgte ihm sein Sohn Karl VI. im Alter von nur elf Jahren auf den Thron. Ab dem Jahr 1388 regierte er unabhängig, engagiert und, dank erfahrener Berater, erfolgreich. Er war ein Reformator, der sich gegen Korruption und für eine bessere Bürokratie einsetzte.

Doch im Jahr 1392, im Alter von 24 Jahren, befiel ihn eine mysteriöse Krankheit – möglicherweise Enzephalitis oder Typhus –, die seine Haare und Nägel ausfallen ließ. Danach begannen psychotische Episoden, die ihn bis zu seinem Tod im Jahr 1422 heimsuchten. Nach einem Unglück während des Bal des Ardents, bei dem im Jahr 1393 vier seiner engsten Freunde ums Leben kamen, verfiel er endgültig dem Wahnsinn und war nur noch selten bei klarem Verstand. Die Amtsgeschäfte mussten andere führen.

Während seiner Episoden, die teilweise Monate anhielten, änderte sich das Wesen des Königs komplett. Eigentlich ein freundlicher, sanfter Mann, war er plötzlich aggressiv, maßlos und paranoid. Aus Karl dem Vielgeliebten wurde Karl der Wahnsinnige. Zudem litt er unter Glaswahn – einem Phänomen, das in der spätmittelalterlichen Oberschicht Europas stark verbreitet war. Er dachte, sein Körper würde zerbrechen, wenn er fiel oder jemand ihn berührte. Um das zu verhindern, saß er stundenlang bewegungslos da, ließ sich in schützende Decken wickeln und seine Kleidung mit Eisenstangen verstärken.

Anhand mittelalterlicher Überlieferungen das Leiden von Karl VI. zu diagnostizieren ist schwer. Möglicherweise war sein Wahnsinn eine Folge der Erkrankung im Jahr 1392, denn eine Enzephalitis kann zu schwerwiegenden Charakterveränderungen führen. Sein Verhalten, seine Symptome und das Alter, in dem die Episoden erstmals auftraten, lassen außerdem vermuten, dass der König an Schizophrenie litt.

Johanna I. von Kastilien Gemälde des niederländischen Malers Juan de Flandes  1465-1519

Johanna I. von Kastilien: Depression und Liebeswahn

Johanna I. von Kastilien wurde im Jahr 1479 als Tochter des Königs Ferdinand II. und Isabella I., Königin von Kastilien, geboren. Im Alter von 17 Jahren traf sie zum ersten Mal auf ihren zukünftigen Ehemann Philipp, den einzigen Sohn des römisch-deutschen Kaisers Maximilian I. aus dem Hause Habsburg. Es war Liebe auf den ersten Blick – auf beiden Seiten. Die Zuneigung war der Überlieferung nach so stark, dass Philipp noch vor Ort die Trauung vollziehen ließ.

Nachdem in den Jahren zuvor ihre Geschwister gestorben und Johanna dadurch in der Thronfolge unerwartet aufgestiegen war, wurde sie nach dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1504 zur Königin von Kastilien. Doch sowohl ihr Vater als auch ihr Ehemann setzten alles daran, sie aus den Amtsgeschäften zu verdrängen und selbst die Macht zu übernehmen.

Ihnen spielte in die Hände, dass sich bei Johanna ab dem 22. Lebensjahr psychische Probleme zeigten. Oft starrte sie tagelang unbewegt vor sich hin und sprach mit niemandem und litt unter Waschzwang. Ihre Liebe zu ihrem Mann nahm krankhafte Züge an: Während sie Philipp seit dem ersten Tag leidenschaftlich verfallen war, kühlten seine Gefühle für sie bald ab. Er war ihr regelmäßig untreu, was dazu führte, dass Johanna ihrer Eifersucht in aller Öffentlichkeit Luft machte, ihren Rivalinnen gegenüber handgreiflich wurde und versuchte, jeglichen Kontakt Philipps zu anderen Frauen zu unterbinden – ein Verhalten, das für eine Königin nicht angebracht war.

All dies nutzen Ferdinand und Philipp, um die Autorität Johannas nach und nach auszuhöhlen. Johannas Vater sprach ihr die Eignung als Herrscherin ab, ihr Ehemann ließ sich zu ihrem Vormund erklären – doch diesen Triumph konnte er nicht lange genießen: Im Jahr 1506 starb er an einer Lungenentzündung. Johanna erlitt einen schweren Zusammenbruch.

Sie ließ den Leichnam ihres geliebten Mannes in eine Kutsche laden und fuhr ein Jahr lang mit dem Sarg durch Spanien. Gerüchten zufolge soll sie diesen auf der Reise mehrmals geöffnet haben, um Philipp anzusehen. Im Jahr 1507 fand Ferdinand II. seine völlig verwahrloste Tochter wieder. Sie übertrug ihm die Regentschaft, er ließ sie in das Kloster der Festung Tordesillas einsperren. Hier verschlechterte sich ihre psychische Verfassung weiter. Sie verweigerte jegliche Körperhygiene, war entweder apathisch oder aggressiv und selten bei klarem Verstand. Im Jahr 1555 starb sie nach einem Unfall im Alter von 75 Jahren.

Es ist schwer zu sagen, welche Berichte über Johannas Wahnsinn den Tatsachen entsprechen und welche lediglich in die Welt gesetzt wurden, um sie für regierungsunfähig erklären zu können. Vermutlich litt Johanna an einer schweren Depression, möglicherweise auch an einer Psychose und an vererbter Schizophrenie.

Sultan İbrahim I. – Narzisst mit Kindheitstrauma

Sultan İbrahim I. Verrückte hatte keinen einfachen Start ins Leben. Der achte Sohn von Ahmed I., Sultan des Osmanischen Reichs, und dessen Hauptgemahlin Kösem Mahpeyker wurde im Jahr 1616 geboren. Die ersten Jahre seines Lebens verbrachte er im Kafes – dem Prinzenkäfig. In dem abgetrennten Bereich des Harems wurden männliche Nachkommen des Sultans nach dessen Ableben eingesperrt, um Streitigkeiten um den Thron zu vermeiden. Die Praxis war eine Alternative zum vorher gängigen Brudermord, den Ahmed I. abgeschafft hatte – doch sie ging nicht spurlos an İbrahim vorbei.

Er erlebte mit, wie sein Bruder und Vorgänger, Mustafa I., drei seiner Brüder hinrichten ließ. Weil İbrahim offenbar geistesgestört und keine Bedrohung war, wurde er verschont. Als Mustafa I. im Jahr 1640 starb, wurde er Sultan. Isolation und Paranoia hatten seiner Psyche jedoch merklich zugesetzt und er war erst bereit, seinen Käfig zu verlassen, nachdem ihm Mustafas Leiche gezeigt wurde und er sich sicher sein konnte, dass man ihm keine Falle stellte. Seine Paranoia verfolgte ihn bis ans Ende seines Lebens.

Aug 2023 | Allgemein, Feuilleton, Gesundheit, In vino veritas, Sapere aude | Kommentieren