Merz bekräftigte erneut, dass die Union nicht mit der AfD kooperieren werde. Er beschränkte dies aber auf „gesetzgebende Körperschaften“ und „Regierungsbildungen“.
Kommunalpolitik sei etwas anderes als Landes- und Bundespolitik, sagte der CDU-Chef. Man müsse insbesondere auf Kommunalebene die demokratische Wahl von AfD-Amtsträgern akzeptieren. Wenn ein Bürgermeister von der AfD gewählt worden sei, müsse in den Kommunalparlamenten „nach Wegen gesucht werden, wie man gemeinsam die Stadt, das Land, den Landkreis gestaltet“.
Eine Aufweichung der auch von ihm selbst immer wieder formulierten „Brandmauer“ zwischen AfD und CDU sehe er darin nicht, sagte Merz. Er verwies auf die kürzlich erfolgten Wahlen eines AfD-Landrats in Thüringen und eines AfD-Bürgermeisters in Sachsen-Anhalt. Es habe sich dabei um demokratische Wahlen gehandelt – „und wir sind selbstverständlich verpflichtet, das Ergebnis demokratischer Wahlen zu akzeptieren“, sagte der CDU-Vorsitzende.
Merz sieht CDU als „Alternative gegen die Bundesregierung“
Angesichts der anhaltend hohen Umfragewerte für die AfD räumte Merz Schwächen in seiner eigenen Partei ein. „Wir müssen Vertrauen gewinnen, auch zurückgewinnen“, sagte er. Vertrauen verliere man schnell und gewinne es nur langsam wieder zurück. Seit seiner Wahl zum Parteichef sei die CDU ganz gut unterwegs, müsse aber noch zulegen.
Auf die Frage, was die AfD den Menschen biete und die CDU nicht, antwortete Merz: „Wir messen uns nicht an der AfD, sondern wir sind größte Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag. Damit sind wir die Alternative gegen diese Bundesregierung.“ Nun müsse die CDU Konzepte liefern.
Merz griff damit einen Begriff auf, den er bereits bei der Klausur der CSU-Landesgruppe im oberbayerischen Kloster Andechs verwendet hatte. Damals nannte er die Union die „Alternative für Deutschland mit Substanz“. Als Opposition sei man immer die Alternative zur Bundesregierung, sagte er im ZDF. So sei Demokratie.
Marode Infrastruktur: Deutschland lebt von der Substanz
Die Industrienation blamiert sich mit einer unpünktlichen Bahn, kaputten Brücken und fehlenden Stromleitungen. Zumindest beim Strassennetz scheint aber eine Trendwende in Sicht.
Erste Szene: Lüdenscheid. Am 7. Mai 2023 um Punkt 12 Uhr zündet ein Sprengmeister die Sprengladungen. So planmässig die Talbrücke Rahmede in das vorbereitete Fallbett stürzt, so gross ist die Blamage für das Industrieland Deutschland. Im Dezember 2021 musste die Brücke wegen schwerer Schäden ungeplant gesperrt werden, seither quält sich der Verkehr durch die nahe Kreisstadt Lüdenscheid. Dabei geht es um eine wirtschaftliche Lebensader: Die Brücke ist Teil der A 45, einer Autobahn, die als Sauerlandlinie das Ruhrgebiet mit Süddeutschland verbindet.
Im Juli hat die Autobahn GmbH des Bundes den Auftrag für den Ersatzneubau an eine Bietergemeinschaft vergeben. Der erste Teil der Brücke soll Mitte 2026 für den Verkehr freigegeben werden. Für Anwohner und Automobilisten ist das eine enorme Geduldsprobe, gemessen an deutschen Verhältnissen ist es ein hohes Tempo: Normalerweise dauert die Sanierung beziehungsweise der Ausbau einer Brücke nach den bisherigen Vorschriften einschliesslich Planung und Genehmigung 5 bis 18 Jahre.
«Wurzelbehandlungen» fällig
Die 453 Meter lange Rahmedetalbrücke ist zum Symbol geworden für marode Infrastrukturen in Deutschland, die in Unternehmensbefragungen zunehmend als Standortnachteil genannt werden. Laut einer Statistik der Bundesanstalt für Strassenwesen (BASt), einer Forschungseinrichtung des Verkehrsministeriums, waren im März 2023 fast ein Zwanzigstel der gut 40 000 Brücken der Bundesfernstrassen (Autobahnen und Bundesstrassen) in einem schlechten Zustand: Bei 4,1 Prozent war der Zustand «nicht ausreichend», bei weiteren 0,5 Prozent sogar «ungenügend».
Auch im übrigen Autobahnnetz mehren sich die Bauarbeiten. Zahlreichere Baustellen, die länger bearbeitet würden, seien die Hauptursache für die Zunahme von Staus, erklärt der BASt-Abteilungsleiter Ulf Zander im Gespräch. Bis etwa 2008 seien die vom ADAC erhobenen Staulängen ungefähr konstant gewesen, danach hätten sie sich bis 2018 (bis vor der Pandemie) mehr als verdreifacht, obwohl der Verkehr im selben Zeitraum nur um elf Prozent zugenommen habe.
Zander erklärt dies zum einen mit vielen Baumassnahmen an Brücken, die lange dauern. Zum andern habe man jahrzehntelang von der Substanz gelebt und immer nur die oberste Schicht der Strassen rasch repariert. Jetzt würden gründliche Erneuerungen nötig: «Beim Zahnarzt würde man von einer Wurzelbehandlung sprechen.» Er ist indessen unter Verweis auf planerische und technische Ansätze zur Senkung der Anzahl und Dauer der Baustellen zuversichtlich, dass eine Trendwende in Sicht is
«Die späten 1960er und frühen 1970er Jahre waren die grosse Zeit des Autobahnbaus in Deutschland. Damals wurden Hunderte von Kilometern Autobahn pro Jahr und viele Brücken gebaut», erklärt Thomas Puls, Verkehrsexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Diese Brücken seien nun etwa fünfzig Jahre alt, und selbst bei guter Pflege wäre eine Generalsanierung fällig. Die gute Pflege habe es aber nicht gegeben. Zudem sei die Verkehrsbelastung viel höher als beim Bau erwartet.
Die Hauptrouten des Schwerverkehrs auf deutschen Autobahnen beginnen an den Grenzen zu Polen und Österreich und laufen im Ruhrgebiet zusammen, wo viele Lastwagen den Binnenhafen Duisburg ansteuern. Dort landet viel Fracht aus Rotterdam per Binnenschiff an. Auf denselben Strecken ist auch die Schiene überlastet.
Zweite Szene: Riedbahn. Geht alles nach Plan, beginnt im Juli 2024 die Generalsanierung der sogenannten Riedbahn, einer rund 70 Kilometer langen, zweigleisigen Bahnstrecke zwischen Frankfurt (Main) Stadion und Mannheim Hauptbahnhof. Jeden Tag befahren sie etwa 300 Züge des Fern-, Nah- und Güterverkehrs. Für die Schiene hat sie ähnliche Symbolkraft wie die Rahmedetalbrücke für die Strasse. Hier entstehende Verspätungen wirken sich auf das ganze Netz aus.
Konzept Generalsanierung
Deshalb wurde die Riedbahn ausgewählt als Pilotprojekt für den neuen Sanierungsansatz der Deutschen Bahn (DB): Statt immer wieder kleinteilige Bauarbeiten durchzuführen, die zu Verkehrsbehinderungen führen, soll ein Kernnetz von rund 4200 Kilometer Länge bis 2030 schrittweise generalsaniert werden. Von Gleisen und Weichen über Oberleitungen, Signaltechnik und Brücken bis zu Bahnhöfen wird einmal alles komplett überholt – «Wurzelbehandlung» also auch hier. Danach würden grössere Bauarbeiten über mehrere Jahre hinweg nicht mehr erforderlich sein, verspricht die Bahn.
Allerdings muss die Riedbahn hierfür während fünf Monaten komplett gesperrt werden. Noch laufen die Planungen für einen Schienenersatzverkehr, noch werden Umleitungsstrecken «ertüchtigt». Und weil danach viele weitere Kernstrecken an die Reihe kommen, wird es noch jahrelange grosse Friktionen geben.
Gleichwohl sehen Experten wie Alexander Eisenkopf, Professor für Wirtschafts- und Verkehrspolitik an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen, kaum eine Alternative zu diesem Vorgehen. Auf der Schiene sei in den letzten zwanzig Jahren auf Verschleiss gefahren worden, hebt Eisenkopf hervor.
Über kaum eine Infrastruktur klagen Deutsche denn auch mehr als über die Bahn: Verspätungen, Zugsausfälle, überfüllte Waggons, defekte Klimaanlagen oder gesperrte Toiletten sind an der Tagesordnung. Im ersten Halbjahr 2023 waren nur 69 Prozent aller Fernverkehrszüge pünktlich, ähnlich schlecht steht es im Güterverkehr. Rund 80 Prozent der Unpünktlichkeit seien auf die Infrastruktur zurückzuführen, sagte der DB-Chef Richard Lutz an der Halbjahres-Pressekonferenz Ende Juli. Sie sei zu alt, zu störanfällig und für den wachsenden Verkehr nicht ausreichend dimensioniert.
Dritte Szene: Leingarten. Am 27. Juli 2023 gibt Wirtschaftsminister Robert Habeck am Umspannwerk Leingarten bei Heilbronn zusammen mit dem Übertragungsnetzbetreiber Transnet BW den Startschuss für den Bau des ersten Konverters für die Stromleitung Suedlink. Der Konverter wandelt Gleichstrom in Wechselstrom um und bildet das südliche Ende einer 700 Kilometer langen Gleichstromleitung zwischen Brunsbüttel im norddeutschen Bundesland Schleswig-Holstein und Grossgartach in Baden-Württemberg. Sie gilt als Schlüsselprojekt der Energiewende, weil sie (Wind-)Strom aus dem windreichen Norden in den industriellen Süden des Landes transportieren wird. Eigentlich hätte sie 2022 fertig sein sollen, nun soll sie 2028 in Betrieb gehen.
Stromautobahnen benötigt
Dabei werden solche «Stromautobahnen» dringend benötigt: «Wenn die Windparks im Norden Deutschlands sehr viel Windenergie erzeugen und zugleich der Stromverbrauch sehr hoch ist, was typischerweise in den Wintermonaten geschehen kann, kann es zu Netzengpässen kommen. Um das Netz stabil zu halten, werden dann Massnahmen für das Engpass-Management ergriffen: Man fährt in Süddeutschland konventionelle, fossile Kraftwerke hoch und regelt in Norddeutschland Anlagen ab. Abgeregelt werden vornehmlich konventionelle Anlagen. Wenn das nicht reicht oder es deutlich effizienter ist, müssen auch Erzeuger erneuerbarer Energien abgeregelt werden», erklärt Markus Doll, Unterabteilungsleiter Energie bei der Bundesnetzagentur.
Dieses Engpass-Management verursacht Kosten unter anderem für den Betrieb der hochgefahrenen Kraftwerke im Süden und die Entschädigung der abgeregelten Erzeuger im Norden, die sich laut Doll 2022 auf rund 4 Milliarden Euro summiert haben. Mengenmässig machen diese Abregelungen zwar nicht viel aus: Nur rund 3 Prozent der erzeugten erneuerbaren Energien sind davon betroffen, 97 Prozent können ins Netz eingespeist werden.
Um aber weiterhin nur 3 Prozent oder weniger der Erneuerbaren abregeln zu müssen, müssen die Stromnetze laut Doll stark ausbaut werden. Denn zum einen will die Ampelregierung den Anteil der erneuerbaren Energien an der Bruttostromerzeugung von 46 Prozent im letzten Jahr auf mindestens 80 Prozent im Jahr 2030 erhöhen, zum andern wird für E-Mobilität und Wärmepumpen immer mehr Energie in Form von Strom benötigt. Deshalb werden derzeit laut Wirtschaftsministerium rund 14 000 Trassenkilometer neu gebaut, die zu einem Bestand von 37 000 Kilometern hinzukommen.
Wo es klemmt
Bei allen Unterschieden zwischen Strasse, Schiene und Strom: Als Ursachen für Rückstände und damit Ansatzpunkte für Remedur stehen überall dieselben vier Bereiche im Vordergrund. Als erste Hürde nennen fast alle Gesprächspartner langwierige Planungs- und Genehmigungsverfahren mit vielen Einsprachemöglichkeiten. Puls spricht von einem «riesigen Bürokratieproblem». Die Ampelregierung hat deshalb eine Reihe von Beschleunigungsmassnahmen und rechtlichen Erleichterungen auf den Weg gebracht, die aber zum Teil noch nicht in Kraft sind.
Ein Beispiel: Wird eine Brücke im Zuge der Sanierung auch erweitert, sollen künftig die Genehmigungspflicht und die Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung entfallen, was den Planungs- und Genehmigungszeitraum halbieren soll.
Noch ist es zu früh für ein Urteil darüber, ob diese Massnahmen ausreichen. Zugleich sind sie wegen der verbreiteten «Nicht in meinem Vorgarten»-Mentalität eine Gratwanderung: Alle wollen pünktliche Bahnen, flüssigen Verkehr und Strom aus der Steckdose, aber niemand will Eisenbahnlinien, Autobahnen oder Strommasten vor seiner Haustüre. Deshalb brauche es «eine angemessene Mitnahme der Bevölkerung», sagt Doll.
Ingenieure – ein knappes Gut
Einen zweiten Engpass bildet ein Mangel an Fachkräften, ob bei den Behörden oder in der Bauwirtschaft. «Wir werben uns permanent gegenseitig die Leute ab», gibt der BASt-Vertreter Zander zu bedenken. Zugleich würden immer weniger junge Leute Bauingenieurswesen studieren. Mehr Digitalisierung könnte sowohl Verfahren beschleunigen als auch knappe Fachkräfte entlasten, sagen mehrere Gesprächspartner.
Unterschiedlich sind, als dritter Punkt, die Einschätzungen bezüglich der Finanzierung. Bei Stromleitungen und Strassen gelten sie nicht (mehr) als Problem. Früher habe man nicht so viel in den Strassenbau investiert, was vor allem im nachgeordneten Netz zum Rückstau im Erhaltungsbau geführt habe, sagt Zander. Inzwischen habe man aber mehr Geld. Seit etwa 2015 sind die Bundesmittel für den Verkehrsbereich laut Daten des Finanzministeriums gestiegen, allerdings legten in letzter Zeit auch die Baukosten stark zu. Nun plant die «Ampel» für die nächsten Jahre eine weitere Aufstockung, vor allem zugunsten der Schiene.
Dort ist indessen auch der Nachholbedarf gross. 2022 lag Deutschland laut Berechnungen der Allianz pro Schiene bei den staatlichen Pro-Kopf-Investitionen in die Schieneninfrastruktur mit 114 Euro pro Einwohner europaweit im hinteren Feld. Die Schweiz gab mit 450 Euro pro Kopf rund das Vierfache aus. Das passt schlecht zum Ziel der Ampelkoalition, den Anteil der Schiene am Güterverkehr bis 2030 auf 25 Prozent zu erhöhen (2021: 19 Prozent) und die Verkehrsleistung im Personenverkehr zu verdoppeln. Zwar hat die «Ampel» im März versprochen, zum Abbau des Investitionsstaus bis 2027 bis zu 45 Milliarden Euro zusätzlich in die Schiene zu investieren. Doch die Finanzierung dieser Summe ist erst teilweise gesichert.
Zerschlagung der Bahn?
Ein vierter Ansatzpunkt sind strukturelle Veränderungen. Für die Strasse erhofft man sich einiges von der bundeseigenen Autobahn GmbH, die seit 2021 für Planung, Bau, Betrieb, Instandhaltung und Finanzierung der Autobahnen zuständig ist und damit die zuvor zwischen Bund und Bundesländern aufgeteilten Zuständigkeiten zusammenführt. Bei der Deutschen Bahn werden per 1. Januar 2024 die Infrastrukturtöchter DB Netz und DB Station & Service in einer gemeinwohlorientierten Infrastrukturgesellschaft zusammengelegt, was zu einer konsequenteren Trennung von Infrastruktur und Betrieb führen soll.
Für den Ökonomen Eisenkopf ist das «zu kurz gesprungen». Weil die Bahn ihre Infrastruktur nie über Nutzungsgebühren werde finanzieren können, sondern auf Subventionen angewiesen bleibe, müsse die Politik auch Zugriff auf diese Infrastruktur haben. Eisenkopf plädiert deshalb ähnlich wie die Monopolkommission dafür, die Infrastruktur ganz aus dem DB-Konzern herauszulösen.
Diese Art von «Wurzelbehandlung» allerdings ist politisch seit Jahren höchst umstritten.