Vor 10 Jahren – am 22. August 2013 debattierte der Deutsche Bundestag über den „Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur“. Grundlage der Aussprache war der entsprechende Bericht der Bundesregierung,

Ein detailliertes Bild von den zahlreichen staatlichen und staatlich unterstützen Institutionen, die sich in Gestalt von Museen, Gedenkstätten, Opferverbänden sowie Bildungs- und Forschungseinrichtungen einschließlich der Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU) auf unterschiedliche Weise der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit widmen.
Der Bericht der Bundesregierung wurde, wie nicht anders zu erwarten, von Seiten der Regierungsparteien CDU/CSU und FDP mit viel Lob bedacht. Auch die SPD und Bündnis 90/Die Grünen fanden lobende Worte; Kritik übten beide an der immer noch ungewissen Zukunft der BStU – ein Problem, das dann auch einen gewissen Schwerpunkt in der Debatte markierte. Zudem monierte die SPD fehlende Kriterien, um – etwa in Bezug auf die Rehabilitierung von Haftopfern – „den Stand der Aufarbeitung zu bewerten“, während Die Linke die im Bericht zum Ausdruck kommende „Delegitimierung der DDR von Anfang an“ beklagte.

„Aufarbeitung der SED-Diktatur“ auf altbekannten Pfaden

Der Bericht basiert auf der Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption vom Juni 2008, in der festgehalten wurde, dass es um die Vermittlung des „menschenverachtenden Charakter(s)“ der „kommunistischen Diktatur“ in der SBZ/DDR gehe, wobei zugleich einer „Verklärung und Verharmlosung der SED-Diktatur und jeder ‚Ostalgie‘ entschieden entgegenzuwirken“ sei. Nahezu wortgleich findet sich diese geschichtspolitische Zielbestimmung im Bericht von 2013 wie auch in dem kurzen Statement des Kulturstaatsministers Bernd Neumann zu Beginn der Aussprache. Ihre Umsetzung lässt sich die Bundesregierung jährlich rund 100 Millionen Euro kosten.

Die Frage ist, ob diese konzeptionelle Ausrichtung nach Ende des Ost-West-Konflikts und über zwei Jahrzehnte nach der staatlichen Wiedervereinigung ausreicht, um dem Umgang mit der DDR-Vergangenheit als gesamtdeutscher Unternehmung mit gemeinsamer Zukunft Orientierung zu geben. Das gilt umso mehr, als der Umgang mit der DDR-Vergangenheit im Zuge der Wiedervereinigung zunehmend selbst zum konflikthaften Bestandteil des Vereinigungsprozesses geworden ist.

Verständigungsprobleme zwischen Ost- und Westdeutschen
in den vergangenen 15 Jahren

Diese haben eher zu- als abgenommen, was sich unter anderem in der divergierenden Selbst- und Fremdwahrnehmung im Rückblick auf die DDR ausdrückt. Hier scheinen zwei miteinander verwobene Komponenten wirksam zu sein:
Zum einen haben die Ziele des sozialistischen Entwurfs, insbesondere „Gleichheit“, „Gerechtigkeit“ und „Solidarität“, durch das Verschwinden der DDR keineswegs an Anerkennung verloren – eingedenk dessen, dass die SED-Politik und der DDR-Alltag ja nicht zu allen Zeiten und durchweg als repressiv wahrgenommen wurden; und zum anderen wird die Rückschau auf die DDR von ambivalenten Gegenwartserfahrungen mitbestimmt, die sich nicht nur auf hinzugewonnene Freiheiten und umfänglichere Konsumangebote beziehen, sondern auch auf soziale Verwerfungen (vor allem im Kontext von Arbeitslosigkeit und prekären Arbeitsverhältnissen) und Zurücksetzungserfahrungen. Beides drückt sich in Umfragen aus, etwa in einer Studie des Emnid-Instituts vom Mai 2010, der zufolge die Hälfte der Ostdeutschen der DDR „mehr gute als schlechte Seiten“ bescheinigt.

Vor allem aber erklärt beides, weshalb die Erinnerung an die DDR im Rahmen einer bloßen Entgegensetzung von Diktatur und Demokratie von unrealistischen Voraussetzungen ausgeht und als Konzept für nicht wenige Ostdeutsche eher befremdlich sein dürfte. Deshalb kann aus solchen Befunden auch nicht einfach der Schluss gezogen werden, viele Bundesbürger im Osten hätten offenbar noch nicht verstanden, dass die DDR eine Diktatur war, weshalb die entsprechenden „Aufarbeitungs“-Anstrengungen noch verstärkt werden müssten.

In einem solchen Interpretationsschema hätte die Überlegung keinen Platz,
dass zwischen diesem Schluss und jener „Eigensinnigkeit“
ein reaktiver Zusammenhang bestehen könnte.

Jedenfalls wird diese Vermutung durch (scheinbar widersprüchliche) Befragungsergebnisse gestützt: Während also die untergegangene DDR für nicht wenige Ostdeutsche „mehr gute als schlechte Seiten“ hatte, möchte nach wie vor nur jeder Zehnte „am liebsten die DDR wieder haben“.

In der Plenumsdebatte im Bundestag kamen entsprechende Problematisierungen nicht vor. Dennoch gab es hier und da kritische Bemerkungen zum Gesamtkonzept „Aufarbeitung der SED-Diktatur“. So erinnerte der Abgeordnete Siegmund Ehrmann (SPD) an die „grundlegende und wichtige Arbeit der Sabrow-Kommission“, die einige Jahre zuvor mit dem Versuch einer Neujustierung des Aufarbeitungskonzepts befasst war. Im Plenum blieb dieser – angesichts des allgemeinen Debattenverlaufs überraschende – Hinweis ohne Resonanz. Die Empfehlungen dieser Kommission hatten seinerzeit für einigen Wirbel gesorgt, sind aber konzeptionell weitgehend folgenlos geblieben. Von ihrer Aktualität haben sie indes kaum etwas eingebüßt. Deshalb soll ihnen im Folgenden nachgegangen werden.

Sabrow-Kommission: Versuch einer Blickwinkelerweiterung

Die Einrichtung der sogenannten Sabrow-Kommission geht zurück auf eine Initiative der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien Christina Weiss im Frühjahr 2005 – also noch zu Zeiten der rot-grünen Koalition. Die Kommission, die sich unter dem Vorsitz des Potsdamer Zeithistorikers Martin Sabrow vor allem aus Historikern und DDR-Bürgerrechtlern zusammensetzte, sollte ein Konzept „für einen dezentral organisierten Geschichtsverbund zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ unter Einbeziehung aller Einrichtungen „mit gesamtstaatlicher Bedeutung“ erarbeiten, mit dem Ziel einer stärkeren arbeitsteiligen Profilierung, Professionalisierung und besseren Vernetzung.
Dies bedeutete für die Experten auch eine Überprüfung des bisherigen Konzepts von „Aufarbeitung“. Im Juni 2006 legten sie ihre Empfehlungen vor, und zwar nahezu im Konsens.

Ihre Vorschläge basierten auf einer zunächst vorgenommenen Bestandsaufnahme, aus der hervorging, dass „die repressiven und überwachenden Aspekte der DDR-Diktatur breit vergegenwärtigt werden, (während) die Bereiche ‚Opposition und Widerstand‘ sowie ‚Herrschaft und Gesellschaft‘ in unvertretbarer Weise unterrepräsentiert (sind)“.
Als zusätzlich defizitär erwies sich für die Kommission die fehlende Einbettung der SED-Diktatur in den politisch-historischen Kontext der deutschen Teilung und der Blockbildung. Entsprechend wurde als konzeptionelles Ziel formuliert, „dass der geplante Geschichtsverbund sowohl zur Aufklärung über den Diktaturcharakter der DDR (…) und zur Würdigung von Widerstand und Opposition beiträgt, als auch die Vielschichtigkeit, ‚Veralltäglichung‘ und ‚konstitutive Widersprüchlichkeit‘ der DDR abbildet und in die beziehungsgeschichtlichen Dimensionen der deutschen-deutschen Doppelstaatlichkeit (…) und des Ost-West-Konflikts rückt“. Die drei „Aufarbeitungsschwerpunkte“, welche die Kommission benannte, können als grobe Operationalisierung dieser Überlegungen gelten: „Herrschaft – Gesellschaft – Widerstand“, „Überwachung und Verfolgung“ sowie „Teilung und Grenze“.

Mit anderen Worten: Die Kommission trat für eine Blickwinkelerweiterung im offiziellen Umgang mit der DDR-Vergangenheit ein, was sich vor allem im ersten „Aufarbeitungsschwerpunkt“ ausdrückt, zu dem im Wesentlichen auch die Kategorien „gesellschaftlicher Alltag“, „Bindungskräfte“ und „Widersprüche“ gehören. Implizit ist dieser Perspektive, dass sie nicht auf den Täter-Opfer-Dualismus beschränkt ist, der allzu leicht von der Selbstwahrnehmung all jener absieht, die sich nicht oder nicht ohne Weiteres der einen oder anderen Gruppe zurechnen lassen (wollen). Unberührt davon bleibt das Wachhalten der Erinnerung an die Menschenrechtsverletzungen sowie den diktatorischen Charakter des politischen Systems.

In der Substanz handelte es sich keineswegs um gänzlich neue Überlegungen. Renommierte Zeithistoriker wie Jürgen Kocka, Christoph Kleßmann oder Lutz Niethammer hatten mit Blick auf die Einschätzung der DDR-Gesellschaft schon Jahre zuvor aus unterschiedlichen thematischen Perspektiven vor schablonenhaftem Denken gewarnt und die Berücksichtigung historischer Kontexte und Interdependenzen empfohlen. Gleichwohl fanden die Empfehlungen der Kommission ein geteiltes Echo. Das war für ihre Mitglieder offenbar keine Überraschung, wohl aber die Heftigkeit der Kritik.

Die Einwände kamen nicht nur von Vertretern von Gedenkstätten und Opferverbänden, sondern auch von Teilen des Wissenschaftsbetriebes. Zum Beispiel sprach der Leiter der Gedenkstätte im ehemaligen Stasi-Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, im Mai 2006 von „staatlich geförderte(r) Ostalgie“; und der damalige Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Horst Möller, fasste einen Teil seiner Kritik in dem Satz zusammen, dass „der Staatssicherheitsdienst charakteristischer für die DDR (ist) als die Kinderkrippen“. Ähnlich resümierte Klaus Schroeder, einer der Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin: „Die Differenz zwischen Demokratie und Diktatur verschwindet hinter der Fassade von Alltag und Gesellschaft.“ Die „Empfehlungen“ enthielten eine „Weichzeichnung der DDR“.

Geteilt wurde diese Einschätzung von dem für den weiteren politischen Gang der „Empfehlungen“ zuständigen Kulturstaatsminister Bernd Neumann, der Christina Weiss Ende 2005 mit dem Wechsel von der rot-grünen zur schwarz-roten Koalition im Amt abgelöst hatte. In seiner Fortschreibungsvorlage von 2008 ließ zum Beispiel die inhaltliche Bestimmung des (von der Kommission dem Namen nach übernommenen) Themenschwerpunktes „Gesellschaft und Alltag“ keinerlei Spielraum für die Untersuchung und Benennung irgendwelcher, jenseits von Repressionszwängen angesiedelter „Bindungskräfte“: „Das Alltagsleben in der DDR wird berücksichtigt, um einer Verklärung und Verharmlosung der SED-Diktatur und jeder ‚Ostalgie‘ entschieden entgegenzuwirken. (…) Es muss deutlich werden, dass die Menschen in der DDR einer umfassenden staatlichen Kontrolle unterlagen und einem massiven Anpassungsdruck ausgesetzt waren, ebenso wie die Diktatur ihre Macht auch aus der Mitmachbereitschaft der Gesellschaft schöpfte. (…) Zugleich muss dokumentiert werden, wie und wo sich die Menschen dem Zugriff der Partei zu entziehen suchten.“

Neumanns Vorlage wurde im Herbst 2008 vom Kabinett gebilligt und fand auch im Bundestag als „Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes“ mehrheitlich Zustimmung. Damit wurde, wie Martin Sabrow in der vorausgegangenen Debatte vorsichtig formuliert hatte, in Kauf genommen, dass individuell-lebensgeschichtliche Erfahrungen und das offiziell vermittelte Geschichtsbild bei einem Großteil der Bevölkerung in den ostdeutschen Bundesländern auseinanderfallen.
Zu den (weiteren) möglichen Konsequenzen gehört ironischerweise die Wiederbelebung einer problematischen Grunderfahrung des „gelernten“ DDR-Bürgers: Er musste von Kindesbeinen an Übung darin entwickeln, mit einer vom SED-Apparat inszenierten Wirklichkeitsdeutung umzugehen, die mit der Realität oft nur sehr entfernt etwas zu tun hatte. Ein anderer möglicher Effekt besteht darin, dass das Gegenteil von dem provoziert wird, was intendiert ist: statt eines kritischen Verständnisses der eigenen und kollektiven DDR-Vergangenheit finden apologetische Gegenerzählungen oder andere reaktiv-ausweichende Verhaltensweisen Unterstützung, darunter auch solche, die seit geraumer Zeit unter dem Begriff „Ostalgie“ zusammengefasst werden.

Für die Gegner der Kommissionsvorschläge gab es bestimmte Begriffe des Konzepts als Reizwörter: Das galt für die Hinweise auf die für die DDR „konstitutiven Widersprüche“ ebenso wie für die DDR-Geschichte als „Teil der gesamtdeutschen Geschichte“, mehr noch für die Kategorien „Bindungskräfte“ (etwa in Bezug auf „Ideologie“) und „gesellschaftlicher Alltag“.

Das ist insofern nicht verwunderlich, als vor allem diese Begriffe so etwas wie eine Türöffnerfunktion für eine modifizierte „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ hatten beziehungsweise von den Gegnern des Kommissionsvorschlages als Wegweiser in Richtung „Weichzeichnung der DDR“ wahrgenommen wurden. Zugleich kontrastieren sie am deutlichsten mit den ausschließlich diktaturbestimmten „Aufarbeitungs“-Kategorien wie „Staatssicherheit“, „Überwachung“, „Indoktrination“, „Verfolgung“ oder „Opfer und Täter“. Letztere verweisen nach wie vor auf historische Tatbestände. Als konzeptuelle Bestandteile einer „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ verlieren sie jedoch dann ihre aufklärerische Funktion, wenn ihnen ein Wahrnehmungs- und Bewertungsschema zugrunde liegt, das – an die Systemkonfrontation im Kalten Krieg und die Totalitarismustheorien erinnernd – aus Schwarz-Weiß-Zeichnungen besteht und kategorial mit entsprechenden Entgegensetzungen arbeitet:

„Demokratie/Diktatur“, „Freiheit/Unfreiheit“, „Recht/Unrecht“.

Abgesehen davon, dass der historische Adressat der impliziten Freund-Feind-Logik mit dem Zerfall der staatssozialistischen Systeme nicht mehr existent ist: Unter dieser Voraussetzung muss jeder Verweis auf gesellschaftliche Schattierungen, Widersprüche, Ambivalenzen und Wechselwirkungen als Fehleinschätzung beziehungsweise „Weichzeichnung“ erscheinen. Dabei käme es gerade unter den veränderten Bedingungen der deutschen Wiedervereinigung darauf an, zu einem möglichst differenzierten Bild von der (eben nicht einfach verschwundenen) DDR-Gesellschaft zu gelangen.

Perspektiven

Die Beispiele ließen sich fortsetzen und ergänzen, vor allem mit Blick auf die hier nur sparsam angedeuteten deutsch-deutschen Bezüge. Sie zu strukturieren und mit didaktischen Überlegungen zu verknüpfen, würde ein weiterer Schritt in Richtung einer Konzeptualisierung sein, welche die bisherige offizielle „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ modifiziert. Zentrale Gesichtspunkte wären dabei, das Konzept mit mehr Anschlussfähigkeit an die erlebte (und familiär tradierte) DDR-Geschichte auszustatten und gleichzeitig Bezüge zur parallel verlaufenden Geschichte der „Altbundesrepublik“ auch in kritischer Perspektive zu ermöglichen.
Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit würde so einmünden in eine Aufarbeitung der zeitweiligen, dennoch einschneidenden deutschen Doppelstaatlichkeit.

Die Gründe für einen modifizierten Umgang mit der DDR-Vergangenheit lassen sich in einen einzigen zusammenfassen: Es geht um die Bewältigung einer Situation, die mit der Aufhebung der deutschen Teilung eingetreten ist und die es unabdingbar macht, gemeinsam nach Verständigungsmöglichkeiten darüber zu suchen, was war, was sich nicht wiederholen darf und was werden soll.

 

Aug. 2023 | Allgemein, Essay, Junge Rundschau, Kirche & Bodenpersonal, Politik, Senioren, Zeitgeschehen | Kommentieren