Nicht über das Europa selbstzerstörerischer Kriege deren einen wir gerade mittten in Eurppa mit dem widerwärtigen Überfall des  von Putin angezettelten Krieges  gegen die Ukraine erleben – mit den Köpfen voller Hass, Nationalismen und politischer Tricks – sondern es ist ein Europa der Vernunft.

Es ist ein Europa der Humanitas

Es sei ein Europa der Kultur und Künste und der fruchtbaren interkontinentalen Begegnungen. Um es geographisch zu umreißen: Das Europa von Paris bis Kuibyschew, von den Shetlandinseln bis zum Ural, von Amsterdam über Budapest bis Bukarest und von Berlin bis Sewastopol oder von Hammerfest, Uppsala und Riga bis Belgrad und Odessa.

Es läßt sich auch sinnenhafter und bildlicher ausdrücken:

Ich meine das Europa des Wunders der gotischen Kathedrale zu Chartres aus dem 12. bis zum Wunder des Kiewer Höhlenklosters Petscherskaja Lawra aus dem 11. Jahrhundert. Von der Rosette in der Fassade des Straßburger Münsters bis zu den großformatigen Ikonen aus der Zeit des Zaren Boris Godunow. Von den Mysterien der Farbfenstermosaike im Dom zu Köln, bis hin zu jenen der Fresken auf den Außenmauern der Klöster Voroneţ und Suceviţa in der Moldau. Oder vom Escorial Philipps II. in Kastilien bis zum Palast des Fürsten Grigorij Potjomkin in Jekaterinoslaw, vom phänomenalen Moses des Michelangelo in San Pietro in Vincoli bis zu den sassanidischen und byzantinischen Schätzen in der Eremitage.

Aber auch von der Jenseitigkeit der Musik Johann Sebastian Bachs bis zur Abgründigkeit der altslawischen Liturgiegesänge. Doch nicht zu vergessen von der Magna Carta Libertatum, dem Grundgesetz aus dem 13. Jahrhundert der Engländer, bis hin zur Ruskaja Prawda, dem Corpus iuris civilis des Großfürsten Jaroslaw des Weisen aus dem 11. Jahrhundert. Nicht zuletzt muss in dieser  – freilich willkürlichen – Reihung die Rede sein von der Handelsroute der deutschen Hanse im 15./16. Jahrhundert aus Lübeck an der 0stsee über Krakau an der Weichsel und Bacău an der Bistritz bis zum Schwarzen Meer.

Fassen wir näher gelegene Jahrhunderte ins Auge

Der Hinweis auf den Austausch der innereuropäischen Ideenbewegungen, die den geistigen Atem unseres Kontinents seit jeher bestimmen, erst recht nicht unterbleiben. Abgesehen von den Unternehmungen, sich durch immer zahlreiche Übersetzungen einander mitzuteilen – es sind mehr als auf jedem anderen Kontinent – etwa das Literaturgespräch zwischen Paris und Moskau, die gegenseitige Befruchtung der deutschen und österreichischen mit den tschechischen, russischen und ukrainischen Musikzentren, die florentinischen Architekturimpulse in Sankt Petersburg, aber ebenso auch die Präsenz der italienischen Baumeister Ferovanti oder Selario in Moskau im 16. Jahrhundert.

„Die Kultur Europas“, schrieb der ehemalige Präsident der Föderation Europäischer Schriftsteller Jochen Kelter einmal, „ist seit zweitausend Jahren auf der Wanderschaft.“ Und der niederländische Schriftsteller Geert Mak ergänzte:  „Europa (…) ist ein Kontinent, auf dem man mühelos in der Zeit hin und her reisen kann.“

Natürlich konkretisierte sich diese Wanderschaft der Ideen und Impulse im Lebensweg herausragender Europäer, deren Namen bis heute Glanz behielten. Einige Beispiele aus den letzten Jahrhunderten: Um die Mitte des 18. Jahrhunderts lebte Voltaire am Hof des Preußenkönigs Friedrichs II. des Großen in Potsdam – der Berliner Alexander von Humboldt hingegen ein Dreivierteljahrhundert später mehrere Jahre in Paris, wie kurz danach auch der Pole Chopin. Die in Sankt Petersburg residierende Zarin Katharina II. die Große wiederum war eine Deutsche aus der Familie Anhalt Zerbst. Hatte jedoch nicht schon vorher der moldauische Fürst und Gelehrte Dimitrie Cantemir– seit 1714 Mitglied der Berliner Akademie – als Freund des Zaren Peters des Großen in Rußland gelebt, wo er auch starb?

Als symbolisch für diese innereuropäischen Ideenflüsse sei schließlich der Hinweis erlaubt, dass der katholische Österreicher Rainer Maria Rilke sein berühmtes dreiteiliges Stunden-Buch im morgenländisch-orthodoxen Rußland zu schreiben begann, während der gläubige orthodoxe Christ und Russe Dostojewskij seinen großen Roman Die Brüder Karamasow im abendländischen Baden-Baden und im protestantischen Berlin schrieb und entwarf.

Die Beispiele dieser Art andauernden Revirements europäischer Geistespotenz zwischen den jeweiligen Kulturzentren ließen sich endlos weiter führen. Wir sind auf Beschränkung angewiesen, und es geht zunächst um die Skizzierung der Fähigkeit der Europäer, sich trotz ihrer Polarisierungen und unabhängig von ihnen gegenseitig anzuregen, es geht darum, hier Europa wieder als Einheit in Erinnerung zu rufen – oder, nach einem Wort von Thomas Sterns Eliot, als „Einheit in der Vielfalt“: Europa als ein Kosmos des aus allen und in alle Himmelsrichtungen strömenden Gebens und Nehmens.

Eine Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis Benedikt XVI.
frei nach Jürgen Habermas

„Die Naturwissenschaften zerstörten die Grundlagen des religiösen Glaubens und boten nichts als Ersatz an“. Das irritierte den Osten zutiefst.
Das Bewusstwerden dieser Divergenz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- derts drängte fast alle bedeutenden Geister des Ostens zu Kulturproklamaionen, und während im Westen zusätzlich zur naturwissenschaftlich bedingten Lockerung der religiösen Bindung ausgehend vom Symbolismus zu allen anderen auch noch die Tendenz wuchs, die Religion durch die Kunst zu ersetzen, wies ein östlicher Schriftsteller wie der Pole Czesław Miłosz (1911–2004) noch im Jahr 2001 diese Tendenz mit dem kategorischen Satz zurück: „Ich anerkenne diesen Ästhetizismus nicht!“ Das darf pars pro toto als die Haltung des Großteils der östlichen Intellektuellen verstanden werden. An anderer Stelle umschrieb Miłosz die unterschiedliche Ost-West-Befindlichkeit folgendermaßen: „Durch Europa verläuft eine Gefühlslinie, und alles, was östlich von ihr liegt, erscheint dem Westen unverständlich.I (…) Früher stand dort geschrieben: ‚Ubileones‘– wo die Löwen wohnen.“ Dies östliche Anderssein, schon lange vor dem Eisernen Vorhang hundertfach definiert, ergriff nach und nach auch das südöstliche Europa.
Der bosnische Schriftsteller Ivo Andrić (1892–1975) schrieb darüber ebenso wie der Rumäne Émile Cioran (1911–1995), eindeutig auch der Mazedone Mitko Madzunkow (*1943), der die entlarvende Frage stellte: Was denn habe der Aufklärungsrationalismus den europäischen Völkern in der Praxis des Zusammenlebens gebracht? Er gibt die Antwort mit dem Hinweis auf die beiden Länder der bedeutendsten Aufklärungsgeister, Frankreich und Deutschland, und deren seit der Aufklärung gegeneinander geführte verheerende Kriege von Napoleon bis Hitler. Der kroatische Philosoph Boris Buden (*1956) benannte seine Vorbehalte gegen das aufgeklärte Westeuropa mit dem Satz: „In unserer Abneigung gegen Europa liegt ohne Zweifel unsere Rettung – aber auch unser Verhängnis.“ Und die Polin Maria Janion faßt das heutige postrevolutionäre Dilemma des Ostens in die Forderung: „Nach Westen – ja, aber nicht ohne unsere Toten“, das heißt: mit dem eigenen, spezifischen östlichen Erbe, mit der Fülle östlicher Traditionen und historisch geformter Denk- wie Verhaltensweisen und deren emotionaler Werteordnung. Daraus spricht auch das Selbstbewusstsein der dem Westen überlegenen ethnographischen Pracht des Ostens.

An dieser Stelle sei abermals die Regionen ins Gespräch gebracht

Vor allem sie sind es, die von den diktatorischen Ideologien in den ehemaligen „Ostblockstaaten“– mit unterschiedlicher Nuance von Land zu Land – deswegen zerstört werden sollten, weil ihr Wille zur Individualität die zäheste Widerstandskraft barg – und immer noch birgt. Wieder nämlich kommt in unseren Tagen der Vorbehalt aus den Regionen, diesmal gegen die uni- formierende Absicht der Finanz- und Ökonomiepotenziale. Von ihrer „wachsenden Gegenwehr“ sprach Walter Laqueur – 1964–1991 Direktor des Londoner Instituts für Zeitgeschichte – in seinem fulminanten Buch von 2006 Die letzten Tage von Europa. Freilich wird sich auch die Idee der Regionalität nur dann legitimieren können, wenn zu ihrem kulturellen Verständnis die Friedfertigkeit und damit die Humanitas tritt.

Auf dass Europa endlich werde, was es ist: eine Einheit

Diese Marginalien zu einem großen Thema abschließend, kommen wir auf den Osteuropäer Czesław Miłosz zurück – dessen Buch Verführtes Denken (1953), nota bene, über die Manipulierbarkeit in politicis europäischer Intelektualität immer noch aktuell ist – und lese seinen Satz, der 1999 anlässlich der 50. Jährung seit Bestehen des Europa-Rates auf einer Stele an der deutsch-französischen Grenzbrücke über den Rhein von Kehl nach Straßburg stand. Er lautet: „Ich bin die Stimme aus dem anderen Europa, dem Europa des Ostens, die im Namen vieler Städte und vieler Länder östlich von Deutschland erklingt – möge diese Brücke zwischen Frankreich und Deutschland an all die anderen Brücken erinnern, die gebaut werden müssen, damit Europa endlich wird, was es ist: eine Einheit.“

Aug 2023 | Allgemein, Essay, Junge Rundschau, Politik, Senioren | Kommentieren