Der Eine will mit einer Luxuspension reich werden, der Andere will nur in Ruhe in den Lagunen Krabben fischen. Wer hier ins Wasser fällt, den hört niemand schreien.
Mehr als sonst zeigt sich zur Zeit, dass das Kino ein langsames Medium ist. Denn weil es im Allgemeinen ein paar Jahre dauert, bevor ein Film von der Konzeption über seine Finanzierung und den Dreh sowie eventuell ein Festivalpremiere schließlich die regulären Kinos erreicht, ist auf der Leinwand momentan noch häufig Corona. „Welcome Venice“ zum Beispiel spielt im Venedig des Jahres 2021. Die Pandemie ist bereits wieder am Abklingen, die ersten Touristen sind zurück.
Dennoch ist die Stadt leerer als sonst. Vielleicht auch kinematografischer, zumindest wenn man sich die Freiheit nimmt, auf dem Holzboot durch die Kanäle zu gleiten und dem Hall der eigenen Stimme lauschen.
Piero (Paolo Pierobon), einer der beiden Brüder im Zentrum des Films, macht das manchmal. Zu dem Ort, an dem er lebt, hat er ein inniges, eigensinniges Verhältnis. Tatsächlich manifestiert sich der Eigensinn schon darin, dass er überhaupt noch hier lebt: im historischen Zentrum der Stadt, die ansonsten längst vom Tourismus übernommen wurde. Der zweite Bruder, Alvise (Andrea Pennacchi), wohnt außerhalb und macht sich nur noch zu den Kanälen auf, um bei den Ferienwohnungen, die er an Touristen vermutet, nach dem Rechten zu schauen. Manchmal wird ihm nostalgisch zumute, wenn er die Orte seiner Kindheit von tumben Deutschen und absurden Australiern in Beschlag genommen sieht. Aber auf ihr Geld möchte er ganz sicher nicht verzichten.
Piero hingegen macht es andersherum: Er wohnt in Venedig und fährt zur Arbeit heraus, zu den Lagunen. Hier wirft er Netze aus, um Krabben zu fangen, kleine, agile Krustentiere, die überall im Film herumkrabbeln, gelegentlich auch da, wo sie nicht hingehören. Die beiden Brüder haben unterschiedliche Wege gewählt und sich gegenseitig nicht viel zu sagen. Sie könnten weiter aneinander vorbei Leben – wenn nicht aus heiterem Himmel, oder jedenfalls ziemlich überraschend, der Blitz einschlagen würde. Es ist tatsächlich ein gewaltiger Rumms, der diesen ansonsten ziemlich seelenruhigen Film durchfährt, und er tötet den dritten Bruder, Toni (Roberto Citran), der ebenfalls das Familiengeschäft des Krabbenfischens betreibt.
Kaum ist Toni unter der Erde, beginnt Alvise Pläne zu schmieden. Das Familienanwesen hatte den Brüdern gemeinsam gehört. Ein Drittel ist nun frei geworden, und da bietet es sich doch an, es gleich komplett zu renovieren und zu einer Luxustourismusunterkunft umzubauen. Denn das post-Corona-Venedig wird, das zeichnet sich schon ab, nicht das prä-Corona-Venedig sein. Es wird eine andere, wohlhabendere Klientel anziehen, und obenauf schwimmen wird nur, wer dem neuen Geldtourismus etwas zu bieten vermag. So ähnlich redet Alvise sich das zumindest ein. Dass er, der joviale neureiche Patriarch mit grellroter Krawatte, schon eine ganze Weile über seine Verhältnisse lebt, dürfte bei seinen Versuchen, das Haus seiner Kindheit zu monetarisieren, freilich auch eine gewisse Rolle spielen.
Das Problem, das sich daraus ergibt und das den Film fortan prägt, ist ebenso schnell umrissen wie prinzipiell unlösbar: Pietro spielt bei Alvises Plänen nicht mit. Er will nicht umziehen, er will weiter in dem alten Haus am Kanal wohnen und jeden Morgen früh hinaus zur Lagune fahren. Nicht, weil er an der traditionellen Lebensweise hängt. Tatsächlich ist er, und in solchen Verkomplizierungen zeigt sich die unaufdringliche Intelligenz des Films, viel weniger in seinem Milieu verwurzelt als Alvise. Piero ist ein bärtiger Kauz, ein Einzelgänger, einer, der leicht auf dumme Gedanken kommt und der niemand an sich heranlässt, außer manchmal seinen bei seiner geschiedenen Frau lebenden Sohn. Warum er einmal im Gefängnis gesessen hatte, fragt der Junge ihn einmal. Ich bin in eine Wohnung rein, weil da Geld war, antwortet Pietro lapidar.
Ganz bei sich selbst ist Pietro nur in den Lagunen, dem zweiten zentralen Schauplatz des Films. Tatsächlich verhalten sich die filmhistorisch seit vielen Jahrzehnten gut erschlossene historische Altstadt und die kinematografisch weit weniger abgegriffenen Fischersgründe spiegelbildlich zueinander. Wo im Zentrum die Zivilisation das Meer eingehegt und in eine Touristenattraktion verwandelt hat (die freilich, das schwingt im Film mit, ohne direkt thematisiert zu werden, in nicht allzu ferner Zukunft in der Adria versinken könnte), da ist es in den Lagunen die Natur, die die wenigen Menschen, die sich hierhin verirren, allseitig umgibt. Höchstens ein paar schmale, rutschige Stegen bieten provisorischen Halt. Wer hier ins Wasser fällt, den hört niemand schreien. Kurz vor Schluss gibt es eine Szene, in der die weite Leere der Natur sich momenthaft auf eine abgründige, fast kosmische Brutalität hin öffnet. Was sich hier auftut, ist eine Ahnung von einer Welt nach den Menschen.
Aber soweit sind wir noch nicht. Eine Weile lang werden wir uns noch um unseren der Natur abgerungenen Wohlstand streiten können, und vermutlich werden diese Streitigkeiten auch im echten Leben nicht selten so beigelegt wie in „Welcome Venice“: pragmatisch und mit einer Note von bitterer Lakonie. Das Ende dieses schönen Films, in dem es vorher nur selten etwas zu lachen gibt, ist ziemlich lustig.
Welcome Venice – Italien 2021 – Regie: Andrea Segre – Darsteller: Paolo Pierobon, Andrea Pennacchi,Stefano Scandaletti, Anna Bellato, Roberto Citran, Sara Lazzaro – Laufzeit: 100 Minuten.