Das Wort von der „Streitkultur“ hat sich in den Medien als positiver Begriff etabliert. Doch zuviel Streit in der Politik schreckt die Bürger:innen ab, wie Umfragen zeigen. Es gilt deshalb Maß zu halten und Streit nicht zum Selbstzweck werden zu lassen. Sonst droht ein Vertrauensverlust, der unsere Demokratie beschädigt.
Im Januar 2023 wurden die Bundesbürger gefragt, wie sehr sie der deutschen Regierung vertrauen. Das erschreckende Ergebnis: 54 Prozent vertrauen ihr „eher nicht“. Dabei ist Vertrauen eigentlich die zentrale Voraussetzung für das Funktionieren einer Demokratie. Was läuft da schief? In der Politik wird offensichtlich zu viel gestritten. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann sieht im „pausenlosen Streit der Ampel-Koalition“ die Ursache für das Erstarken der AfD. Eine Koalition, die sich dauernd nur streite, das habe fatale Folgen. Die Leute würden gar nicht mehr wahrnehmen, was die Regierung leiste.
Jahrzehntelang galt das Wort von der „Streitkultur“ als positiver Ausdruck des gesellschaftlichen Miteinanders und als Kennzeichen einer modernen Gesellschaft. In Wikipedia lese ich: „Streitkultur schließt ferner die Überzeugung ein, dass der Streit grundsätzlich Positives bzw. Bedeutendes hervorbringen kann.“
Streit gibt es überall. Schadet aber in der Politik zuviel Streit der Demokratie?
Wenn sich die Menschen von der Politik abwenden, weil ihnen zu viel gestritten wird, wie die Umfragen zeigen, ist das eine ungute Entwicklung. Politik ohne Beteiligung der Menschen können sich nur Diktaturen erlauben. Demokratien brauchen den Diskurs, aber auch die Teilhabe, nicht die Abwendung der Bürger:innen. Die Medien spielen dabei eine zentrale Rolle. Journalist:innen lieben den Streit, provozieren ihn oft genug. Da wird dann ein einzelner Satz über die Nachrichtenagenturen weiter verbreitet, der dadurch viel mehr Gewicht bekommt, als er gemeint war. Tatsächlich werden Streitgeschichten auch gern gelesen. Harmonie liest man eher in der Herzblatt-Presse.
Wer als Journalist etwas auf sich hält, ist stolz darauf, öffentlichen Streit auszulösen. Der Einzelne wird sich da keine Grenzen setzen, aber in der Summe vergrößern zu viele Streitgeschichten den Abstand zur Politik. Doch kann man das überhaupt steuern, ohne die Pressefreiheit anzutasten? Letztlich kann nur der mediale Wettbewerb die Antwort geben. Die Leser:innen entscheiden immer noch über Erfolg oder Misserfolg medialer Plattformen. Deren Erfolg hängt davon ab, wie streitige Themen „verkauft“ werden: Die Zuspitzung in der Headline erleben wir oft genug. In der Online-Welt zählt jeder Klick, auch wenn der Inhalt das Versprechen der zugespitzten Überschrift nicht einhält. Es liegt in der Verantwortung der Redaktion, hier Maß zu halten. Wer zu viel zuspitzt, verliert an Glaubwürdigkeit.
Das zentrale Wort heißt ehrliche Kommunikation. So wie einzelne Menschen Kommunikation brauchen, um sich auszutauschen und weiterzuentwickeln, brauchen auch Organisationen ehrliche Kommunikation, um ihre Ziele zu vermitteln und dadurch Akzeptanz ihrer Umgebung oder der ganzen Gesellschaft zu erreichen.
Das Wort von der „Streitkultur“ galt jahrzehntelang als Ausdruck einer modernen Gesellschaft. Immer mehr Politiker versuchen, sich durch Streit zu profilieren. Doch wenn in den Augen der Menschen nur noch gestritten wird, auch wenn Politiker das selbst gar nicht so wahrnehmen, verliert die Demokratie ihre Autorität. Es gewinnen dann jene Kräfte, die neue Autorität zu verkörpern scheinen. Das erleben wir derzeit mit dem Erstarken der AfD. Weniger streiten heißt dabei keineswegs, Streit dauernd zu vermeiden. Doch sollten sich Politiker überlegen, ob sie ihre Autorität durch Streit stärken wollen oder durch Konsens. Unterschiedliche Ansichten zusammenzubringen ist meist schwieriger, als sie zu verstärken.