Olaf Scholz geriet im vergangenen Jahr kurzzeitig ins Visier der Strafverfolgungsbehörden. Nachbarn hatten ihn und seine Frau Britta Ernst angeschwärzt, ungeschwärzte vertrauliche Dokumente im Hausmüll entsorgt zu haben. Die Unterlagen trugen den Stempel “Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch”. Anhaltspunkte für eine Verletzung des Dienstgeheimnisses sah die Potsdamer Staatsanwaltschaft im Endeffekt jedoch nicht. Die Papiere – u.a. Entwürfe von Reden, Kleidungslisten sowie ein Papier zum G7-Gipfel mit Kurzprofilen zu den Partnerinnen der Regierungschefs – hätten keine schützenswerten Geheimnisse enthalten.
Dass der Bundeskanzler keine Staatsgeheimnisse in gemeinschaftlich genutzten Papiermülltonnen deponiert, ist grundsätzlich beruhigend. Es drängt sich jedoch die Frage auf, warum fast schon banale Informationen wie Kleidungslisten als Verschlusssachen eingestuft werden.
Geheimhaltungs-Stempel immer griffbereit

Eine exzessive Einstufungspraxis hat in Deutschland Tradition. Otto von Bismarck soll verfügt haben, dass kein Dokument sein Ressort ohne den Stempel “Dies ist geheimzuhalten” verlassen dürfe. Auch heutzutage sind die Behörden zum Teil noch nah an diesem Grundsatz dran, wie bereits der Hausmüll des Kanzlers zeigt. Kaum nachzuvollziehen ist auch, warum etwa das Auswärtige Amt einen “Leitfaden Sprachnachweis” vom Goethe Institut  oder – im Gegensatz zu anderen Ländern – alle Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Herkunftsländern als Verschlusssache einstuft.
Im demokratischen Deutschland ist die Einstufung staatlicher Dokumente im Sicherheitsüberprüfungsgesetz des Bundes (SÜG) bzw. entsprechenden Ländergesetzen und dazu ergangenen Verschlusssachenanweisungen (VSA) geregelt. Vorgesehen sind vier verschiedene Geheimhaltungsstufen: STRENG GEHEIM, GEHEIM, VS-VERTRAULICH, VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH (VS-NfD). Eine Einstufung auf niedrigster Stufe als VS-NfD ist dann möglich, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder nachteilig sein kann.
Eine Einstufung “Nur für den Dienstgebrauch” zieht keine großen organisatorischen Folgen nach sich. Verwaltungsintern ist der Zugang zu diesen Verschlusssachen ohne vorherige Sicherheitsüberprüfung möglich. Einen Zweck erfüllt die Einstufung aber. Bürger:innen sowie Journalist:innen können so unter Umständen Informationen vorenthalten werden.
„Verschlusssache“ führt zum Leerlaufen von Informationsansprüchen
Für das Informationsfreiheitsrecht ist die Einstufung als Verschlusssache schon auf der niedrigsten Stufe folgenschwer. Nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) dürfen Behörden nämlich sämtliche Dokumente, die als Verschlusssache eingestuft sind, der Öffentlichkeit grundsätzlich vorenthalten (§ 3 Nr. 4 IFG). Oft beschränken sich Behörden in ablehnenden Bescheiden nach wie vor auf den pauschalen Hinweis, dass eine VS-Einstufung vorliege.
Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar früh klargestellt, dass für einen Ausschluss des Informationszugangs die formale Einstufung als Verschlusssache nicht ausreichend ist, sondern Gründe für die Einstufung vorliegen müssen. Dazu passend sieht die VSA vor, dass die Einstufung aufzuheben ist, wenn die Geheimhaltungsbedürftigkeit einer Verschlusssache vor Ablauf der Einstufungsfrist entfällt. Die Behörden müssten daher in der Theorie die Einstufung von Dokumenten anlässlich des Eingangs von IFG-Anträgen überprüfen und sie gegebenenfalls aufheben. Dieses Vorgehen entspricht allerdings in der Praxis leider nicht der Regel.
Geheimhaltung auf Abruf
Im Gegenteil: Es kommt immer öfter vor, dass Behörden Dokumente erst dann als Verschlusssache einstufen, wenn ein IFG-Antrag auf Zugang zu diesen Dokumenten gestellt wurde, Klage eingereicht worden ist oder eine parlamentarische Anfrage gestellt wurde. Beispiel: Das Bundeskriminalamt. Es stufte Unterlagen zu Rechtsextremismus erst im Klageverfahren als Verschlusssache ein, nachdem sie vorher bereits lange ohne Einstufung im Umlauf waren. Auch dem Gesundheitsministerium fiel in Bezug auf Prüfberichte zur Qualität von Masken die vermeintliche Vertraulichkeit des Inhalts erst dann ein, als bereits eine Klage auf Herausgabe beim VG Köln anhängig war.
Eine nachträgliche Einstufung ist nach den Vorgaben der VSA zwar grundsätzlich unzulässig und soll nur in Ausnahmefällen möglich sein. Während das VG Köln die Voraussetzungen für eine Einstufung im konkreten Fall nicht als gegeben ansah, haben Gerichte die grundsätzlich fragwürdige Praxis bisher allerdings abgesegnet und eine Einstufung als Reaktion auf einen IFG-Antrag nicht als sachfremde Erwägung gesehen.
„Nachteilig für die Bundesrepublik Deutschland“?
Aufgrund der gravierenden Folgen für Informationsrechte müssten eigentlich strenge Maßstäbe an die Einstufung zu stellen sein. Die Voraussetzung für “VS-NfD” ist indes denkbar gering und unbestimmt. “Nachteilig für die Bundesrepublik Deutschland” kann fast alles sein. So reichte es dem Verwaltungsgericht Berlin etwa aus, dass die Bundesländer dem Bundesfinanzministerium im Falle der Offenlegung von Steuerschätzungen keine Informationen mehr liefern würden, schlicht weil sie mit der Transparenz nicht einverstanden wären. Aufgrund der dann fehlenden Informationen würde ein Nachteil entstehen. Wie in diesem Fall nutzen Behörden die Einstufung als VS-NfD als eine Art Auffangtatbestand, wenn kein anderer gesetzlicher Ausnahmegrund greift.
Dass es im Übrigen „nachteilig“ für die Bundesrepublik Deutschland ist, wenn Bürgerinnen und Bürger den Staat als intransparent und damit undemokratisch erleben, wird hingegen von Behördenseite nicht reflektiert. c“Nur für den Dienstgebrauch“ abschaffen oder wenigstens überprüfbar machen
Natürlich ist anzuerkennen, dass der Staat nicht jedes Dokument veröffentlichen muss. Genau das reflektiert das IFG aber bereits. So gibt es dort Ausnahmetatbestände, beispielsweise den Schutz der inneren und äußeren Sicherheit (§ 3 Nr. 1 c IFG) oder der öffentlichen Sicherheit (§ 3 Nr. 2 IFG). Der zusätzlichen Ausnahme für Verschlusssachen (§ 3 Nr. 4 IFG) bedarf es also nicht.
Unabhängig davon gehört die Geheimhaltungsstufe VS-NfD abgeschafft. Sie entfaltet kaum einen wirksamen Schutz, schränkt auf der anderen Seite die Grundpfeiler demokratischer Kontrolle erheblich ein und das auf Grundlage unbestimmter und denkbar weit gefasster Kriterien, die sich hauptsächlich aus Verwaltungsvorschriften ergeben. Eingestufte Informationen sind auch der Presse und der Wissenschaft nicht mehr frei zugänglich und schränken selbst parlamentarische Kontrollrechte ein.
Mindestens muss ein Gesetz her, dass die bisherige großzügige Einstufungspraxis durch gesetzlich festgeschriebene und konkret gefasste Voraussetzungen regelt und so eine effektive gerichtliche Kontrolle möglich macht.
Außerdem muss die Möglichkeit geschaffen werden, im Falle von überwiegenden öffentlichen Interessen auch Verschlusssachen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der Koalitionsvertrag sieht zumindest vor, eine unabhängige Kontrollinstanz für “Streitfragen bei VS-Einstufungen” zu schaffen. Bisher sind allerdings noch keine Bestrebungen zur Umsetzung zu erkennen.
Bislang bleibt es also dabei: Man braucht nur einen VS-NfD-Stempel, um Unterlagen wie in vordemokratischen Zeiten der Öffentlichkeit vorzuenthalten.

Jul 2023 | Allgemein, Essay, In vino veritas, Junge Rundschau | Kommentieren