Für den Kommunismus in seiner tschechischen Heimat begeisterte er sich zunächst glühend, dann blieb es lange ein Hin und Her, bis ihn die Niederschlagung des Prager Frühlings vollends desillusionierte. Ab 1975 lebte er in Paris, von seiner Heimat ausgebürgert, mit der im folgenden lange fremdelte. Im Exil schrieb er Bestseller wie „Die unerträgliche Leichtigkeits des Seins“ aus dem Jahr 1984. „Es gehört zu den wenigen zauberhaften Geschichten des gruseligen 20. Jahrhunderts, dass das Regime in Prag unterging, während aus Milan Kundera, den sie fertig machen wollten, einer der meistgelesenen Schriftsteller der Welt wurde“, schreiben Joseph Hanimann und Nils Minkmar in der SZ. „Für uns Tschechen blieb er ein Mann der vielen Geheimnisse„, schreibt sein Schriftstellerkollege Jaroslav Rudiš in der FAZ – Kunderas Landsleute mussten nach dem Prager Frühling oft lange warten, bis sie ein neues Kundera-Buch in Händen halten konnten: „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ etwa erschien auf Tschechisch zunächst in kleiner Auflage in Kanada und offiziell in Tschechien erst in diesem Jahrtausend. „Einige Hundert hat man in die sozialistische Tschechoslowakei reingeschmuggelt. Die Bücher wanderten von Haushalt zu Haushalt. Man hatte nur eine einzige Nacht zum Lesen gehabt, denn am nächsten Tag war schon der nächste Leser dran. Deren Liste war lang. So konnten nur die Glücklichen das Buch lesen. Dann ist etwas Besonderes passiert. Die Liebesgeschichte von Tomáš und Tereza wurde einfach erzählt. In den Kneipen. In den Cafés.“

Kunderas „Ruhm gründet auf der einmaligen Verbindung von leichter Erzählkunst und Reflexion, an denen er seine Leser zu beteiligen schien, als hole er nur Bauklötze aus der Kiste und schaffe mit ein paar Bewegungen aus dem Handgelenk ein Dorf, ein Schlafzimmer, einen Fluss“, schreibt Paul Ingendaay in der FAZ. „Die Energie, die er brauchte, sich vom kommunistischen Regime zu lösen, macht einen Gutteil der befreienden Kraft seines Schreibens aus“, hält Arno Widmann in der FR fest. „Er konnte seinen Leserinnen und Lesern die Augen öffnen dafür. Und – vielleicht wichtiger noch – ihren Geist.“ Etwa bei der Entdeckung Mitteleuropas: „Wer nach dem Krieg in der zweigeteilten Welt aufwuchs, der unterschied zwischen West und Ost. Alles, was unter der Herrschaft der Sowjetunion stand, war für mich Osteuropa. Dagegen rebellierten aufmüpfige Intellektuelle auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs seit den 60er Jahren immer lauter. … Sie weigerten sich, sich als natürliche Bundesgenossen der Sowjetunion zu betrachten.“

Kundera „lehnte aus Prinzip alle Prinzipien ab„, schreibt Gregor Dotzauer im Tagesspiegel: So blieb Kundera sich im steten Wandel treu. „Literarisch reihte er sich ein in eine Tradition, als deren frühe Höhepunkte er Miguel de Cervantes‘ ‚Don Quijote‘ und Denis Diderots ‚Jacques der Fatalist und sein Herr‘ verehrte, um dann Franz Kafkas Schuldgebirge und Hermann Brochs Irrationalitätslabyrinthe zu durchqueren.“ Ulrich Rüdenauer hält auf ZeitOnline Kunderas „Buch vom Lachen und Vergessen“ hoch: Das ist „ein Roman, der in einer virtuosen musikalischen Komposition und in verschiedenen Variationen Niederlagen und Verwerfungen durchspielt; die Handlung ist aufgesplittert, muss erst vom Leser zusammengesetzt werden. … Gerade die formale Freiheit, die in diesem Buch liegt, die episodenhafte Verknüpfung reflexiver und erzählerischer Passagen, scheint einen noch größeren Affront darzustellen als sein mit totalitären Mechanismen abrechnender Inhalt. Schon einzelne Sätze in diesem Roman hätten Kundera in der kommunistischen Tschechoslowakei zur Persona non grata machen können.“ Weitere Nachrufe schreiben Karl-Markus Gauss (NZZ) und Alexandra Mostyn (taz).

Nur am Rande erwähnt wird in einigen Nachrufen die KunderaAffäre, die Adam Hradilek 2008 im tschechischen Magazin Respekt bekannt machte, nachdem er einen Polizeibericht von 1950 über eine Anzeige gefunden hatte, die in einem Polizeirevier in Prag gemacht wurde: Kundera, damals Student, hatte laut diesem Bericht einen Kurier des amerikanischen Geheimdienstes, Miroslav Dvoracek, an die Polizei verraten. Dvoracek büßte dafür 14 Jahre in einem Arbeitslager. Kundera bestritt die Anzeige (siehe auch unser Dossier zur Kundera-Affäre). „Der individualistische Bonvivant also als eilfertiger Denunziant, der spätere Ideologieverspotter als lebenslanger Verdränger?“, fragt Marko Martin in seinem Kundera-Nachruf in der Welt. „Kundera stritt eine Verwicklung in den Fall ab, bekannte sich jedoch zu seiner parteigläubigen Frühphase. Prager Intellektuelle, die ihm nicht gewogen waren, erinnerten allerdings daran, dass auch zu Beginn der Siebzigerjahre Kundera vor allem an sich selbst gedacht und das Petitions- und Bürgerrechtlerengagement eines Václav Havel aus kalter olympischer Distanz betrachtet hatte. Dennoch: Wer außer Kundera hatte die ästhetischen und moralischen Zumutungen, mit denen der Alltagstotalitarismus seine Bürger kujonierte, derart präzise beschrieben und in wissendem Gelächter einen möglichen Ausweg skizziert?“

Juli 2023 | In Arbeit | Kommentieren

Das Wort von der „Streitkultur“ hat sich in den Medien als positiver Begriff etabliert. Doch zuviel Streit in der Politik schreckt die Bürger:innen ab, wie Umfragen zeigen. Es gilt deshalb Maß zu halten und Streit nicht zum Selbstzweck werden zu lassen. Sonst droht ein Vertrauensverlust, der unsere Demokratie beschädigt.

Streit gibt es überall. Schadet aber in der Politik zuviel Streit der Demokratie? 

Im Januar 2023 wurden die Bundesbürger gefragt, wie sehr sie der deutschen Regierung vertrauen. Das erschreckende Ergebnis: 54 Prozent vertrauen ihr „eher nicht“. Dabei ist Vertrauen eigentlich die zentrale Voraussetzung für das Funktionieren einer Demokratie. Was läuft da schief? In der Politik wird offensichtlich zu viel gestritten. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann sieht im „pausenlosen Streit der Ampel-Koalition“ die Ursache für das Erstarken der AfD. Eine Koalition, die sich dauernd nur streite, das habe fatale Folgen. Die Leute würden gar nicht mehr wahrnehmen, was die Regierung leiste.

Jahrzehntelang galt das Wort von der „Streitkultur“ als positiver Ausdruck des gesellschaftlichen Miteinanders und als Kennzeichen einer modernen Gesellschaft. In Wikipedia lese ich: „Streitkultur schließt ferner die Überzeugung ein, dass der Streit grundsätzlich Positives bzw. Bedeutendes hervorbringen kann.“

Streit gibt es überall. Schadet aber in der Politik zuviel Streit der Demokratie? 

Wenn sich die Menschen von der Politik abwenden, weil ihnen zu viel gestritten wird, wie die Umfragen zeigen, ist das eine ungute Entwicklung. Politik ohne Beteiligung der Menschen können sich nur Diktaturen erlauben. Demokratien brauchen den Diskurs, aber auch die Teilhabe, nicht die Abwendung der Bürger:innen. Die Medien spielen dabei eine zentrale Rolle. Journalist:innen lieben den Streit, provozieren ihn oft genug. Da wird dann ein einzelner Satz über die Nachrichtenagenturen weiter verbreitet, der dadurch viel mehr Gewicht bekommt, als er gemeint war. Tatsächlich werden Streitgeschichten auch gern gelesen. Harmonie liest man eher in der Herzblatt-Presse.

Wer als Journalist etwas auf sich hält, ist stolz darauf, öffentlichen Streit auszulösen. Der Einzelne wird sich da keine Grenzen setzen, aber in der Summe vergrößern zu viele Streitgeschichten den Abstand zur Politik. Doch kann man das überhaupt steuern, ohne die Pressefreiheit anzutasten? Letztlich kann nur der mediale Wettbewerb die Antwort geben. Die Leser:innen entscheiden immer noch über Erfolg oder Misserfolg medialer Plattformen. Deren Erfolg hängt davon ab, wie streitige Themen „verkauft“ werden: Die Zuspitzung in der Headline erleben wir oft genug. In der Online-Welt zählt jeder Klick, auch wenn der Inhalt das Versprechen der zugespitzten Überschrift nicht einhält. Es liegt in der Verantwortung der Redaktion, hier Maß zu halten. Wer zu viel zuspitzt, verliert an Glaubwürdigkeit.

Das zentrale Wort heißt ehrliche Kommunikation. So wie einzelne Menschen Kommunikation brauchen, um sich auszutauschen und weiterzuentwickeln, brauchen auch Organisationen ehrliche Kommunikation, um ihre Ziele zu vermitteln und dadurch Akzeptanz ihrer Umgebung oder der ganzen Gesellschaft zu erreichen.

Das Wort von der „Streitkultur“ galt jahrzehntelang als Ausdruck einer modernen Gesellschaft. Immer mehr Politiker versuchen, sich durch Streit zu profilieren. Doch wenn in den Augen der Menschen nur noch gestritten wird, auch wenn Politiker das selbst gar nicht so wahrnehmen, verliert die Demokratie ihre Autorität. Es gewinnen dann jene Kräfte, die neue Autorität zu verkörpern scheinen. Das erleben wir derzeit mit dem Erstarken der AfD. Weniger streiten heißt dabei keineswegs, Streit dauernd zu vermeiden. Doch sollten sich Politiker überlegen, ob sie ihre Autorität durch Streit stärken wollen oder durch Konsens. Unterschiedliche Ansichten zusammenzubringen ist meist schwieriger, als sie zu verstärken.

Juli 2023 | In Arbeit | Kommentieren

Sie versicherten einander ihre Liebe in Briefen noch, als sie sich scheinbar schon entzweit hatten und der eine den anderen hatte festnehmen lassen: Friedrich der Große und Voltaire. Bis ins hohe Alter pflegten die die beiden bedeutendsten Männer ihrer Zeit eine sehr komplizierte Männer-Beziehung.

Gesellschaftlichen Frieden und religiöse Freiheit sind im gesamten Werk Voltaires präsent, doch in den Philosophischen Briefen (1734) hat er die Bedingungen und zugleich die Auswirkungen der Toleranz wohl am besten erklärt. Als Beispiel dient ihm die Gegenüberstellung der von England errungenen Fortschritte und der Rückständigkeit des katholischen und monarchischen Frankreich. Die religiöse Vielfalt Englands erscheint hier als das gelungene Produkt einer oft gewaltsamen Geschichte, die sich aber zur Freiheit gewandt hat. Möglich wurde sie durch den Bruch Englands mit Rom, der letzten Endes zu einer Blüte von „Sekten“ führte, von der zwar keine die andere ausschalten konnte, die aber gerade deshalb die Macht der offiziellen (anglikanischen) Kirche einschränkten.

Eine berühmte Passage aus dem sechsten Philosophischen Brief liefert ein erstaunliches Bild der englischen Freiheit, deren Symbol ausgerechnet die Londoner Börse ist: „Man gehe auf die Börse in London, einen Platz, welcher ansehnlicher ist als manch ein Hofstaat, wo sich die Abgeordneten von allen Völkerschaften einfinden, um die Wohlfahrt der Menschen zu befördern. Hier treten der Jude, der Türke und der Christ miteinander in Unterhaltung, als wären sie Glaubensgenossen, und nennen nur denjenigen einen Ungläubigen, welcher bankrott ist. Hier vertraut der Presbyterianer dem Wiedertäufer, und der Anglikaner nimmt von dem Quäker Versprechungen entgegen. (…) Wenn in England nur eine Religion herrschte, so würde die unumschränkte Gewalt zu fürchten sein; wären es ihrer zwei, so würden sie sich einander die Kehle abschneiden; sie sind aber wohl an die dreißig und leben alle friedlich und glücklich.“

Plädoyer für den Pluralismus

Dieser brillante Text schließt mit einem politischen Argument, dem eine große Zukunft verheißen ist: Es wird sich bei einem der Gründerväter der Vereinigten Staaten wiederfinden, nämlich bei James Madison, der sich auf die glückliche Erfahrung der Pluralität der Sekten in Amerika stützt, um den politischen Pluralismus zu verteidigen. Voltaires Gedanke besitzt aber auch eine allgemeinere politische Tragweite. Er besagt, dass die Voraussetzung für religiöse (und politische) Freiheit darin besteht, dass das Handeln der Menschen trotz einer möglichen Gottesverehrung im Wesentlichen auf die diesseitige Welt ausgerichtet sein muss. Handeln darf Gott nur insofern glorifizieren, als es die Bedingungen des Menschseins verbessert. Seit seiner Abhandlung von 1763 stellt Voltaire seinen Kampf unter das Zeichen der Toleranz, was ihm erlaubt, klare Ansprüche zu formulieren, die selbst die eifrigsten Gläubigen verstehen und gutheißen sollten: Glaube hat nur Sinn, wenn er frei ist, und die Verfolgung Andersgläubiger ist somit zugleich nutzlos und unrecht.

Für die Mehrheit unserer Zeitgenossen ist Toleranz ein kostbares Gut, doch zu Voltaires Zeiten war dem nicht so: Die herrschende Ansicht in den christlichen Kirchen lautete, dass man „Irrtum“ und „Wahrheit“ nicht auf dieselbe Ebene stellen könne. Historisch betrachtet taucht der moderne Toleranzbegriff in einem sehr speziellen Kontext auf: dem der Religionskriege, die durch die Reformation ausgelöst wurden. Die Idee der Toleranz geht nicht aus dem Christentum selbst hervor, sondern vielmehr aus politischen Konflikten aufgrund verschiedener Auslegungen des christlichen Dogmas, denen man kein Ende setzen kann, ohne eine gewisse religiöse Vielfalt zuzulassen. Heil erlangt man aus christlicher Sicht durch die Zugehörigkeit zur Kirche. Der Zwang hat dabei nicht nur zum Ziel, Gehorsam zu erzeugen oder Tugend zu fördern, sondern soll die Menschen in die (wahre) Kirche hineinbringen. Selbst bei den Reformatoren Luther oder Calvin bleibt dieser Punkt unstrittig und unangetastet. Auch ihnen geht es nicht um die Anerkennung eines allgemeinen Prinzips der Gewissensfreiheit, sondern darum, für ihre Kirche die bestmöglichen Bedingungen zur Autoritätsausübung zu gewährleisten. Bei den Protestanten ebenso wie bei den Katholiken werden „falsche“ Religionen und heterodoxe „Kirchen“ also nur dann „toleriert“, wenn es in bestimmten Fällen und politischen Konstellationen unvermeidlich ist.

Damit Toleranz erstrebenswert wird, müssen mehrere Dinge zusammenkommen: Man muss der Ansicht sein, dass der Wert des Glaubens von der Freiheit des Gläubigen abhängig ist, dass die Legitimität der politischen Macht nicht von der Unterstützung der religiösen Autoritäten abhängt, und dass die Machthaber in der religiösen Vielfalt keine Quelle der Schwäche für den politischen Körper sehen. Die Entwicklung hin zur Toleranz hat sich nicht linear vollzogen, und die ersten Erfahrungen in England und Frankreich zeigen eindrücklich die Grenzen dieser Entwicklung auf: Gewiss hat England nach und nach die Pluralität protestantischer Strömungen zugelassen, aber das hat weder die Hegemonie der anglikanischen Kirche zulasten der „Abweichler“ noch den Ausschluss und selbst die Verfolgung der Katholiken verhindert. Auch das Edikt von Nantes (1598), das den Reformierten in Frankreich bedeutende Rechte zuerkannte, wurde 1685 von Ludwig XIV. widerrufen.

Kampf gegen die Justiz

Voltaire ist nicht der erste Philosoph, der aus der religiösen Toleranz ein Prinzip der Gerechtigkeit macht, dessen Respektierung die politischen Machthaber durchsetzen können und müssen. Unter seinen Vorläufern sind zwei große Denker zu nennen, John Locke und Pierre Bayle, beide Protestanten, die die wesentlichen Argumente lieferten, auf die sich dann der Kampf der Aufklärer stützen wird. Locke, ein liberaler Protestant, fügt sich in die große Bewegung ein, die England mit der Glorreichen Revolution von 1688 zur Förderung eines neuen politischen Regimes führen wird. Dieses beruht auf der Repräsentation der Bürger, der Beschränkung der monarchischen Macht und sieht in der (protestantischen) Freiheit eine Garantie gegen die „papistische“ Unterdrückung und die absolutistische Monarchie. Lockes Brief über die Toleranz (1689) nimmt eine strenge Analyse der Zwecke der politischen Autorität vor: Sie sei von den Menschen geschaffen worden, damit sie ihre Rechte schütze und nicht, damit sie sich um ihr Seelenheil kümmere. Gleichwohl bleibt die Reichweite dieser „Toleranz“ beschränkt: Sie gilt im Wesentlichen für die verschiedenen protestantischen Konfessionen, aber weder für die Atheisten, die keinen Eid ablegen können, noch für die Römisch-Katholischen, die einem ausländischen Souverän unterworfen sind. Bayle ist näher am traditionellen Glauben und zugleich radikaler: Er macht es sich zur Aufgabe, den theologischen Wert der Gewissensfreiheit zu zeigen, die er auf alle Religionen und selbst auf Atheisten ausweitet. Doch Bayle ist auch der Ansicht, dass die absolute Monarchie die religiöse Freiheit ebenso gut schützen kann wie die konstitutionelle Monarchie in England. Voltaires Verdienst ist es, eine brillante Synthese aller Argumente zugunsten der Toleranz zu liefern und sie als zentrale politische Tugend zu etablieren.

Die Abhandlung Über die Toleranz ist zunächst ein durch die Umstände bedingtes Werk, dessen erstes Ziel die Rehabilitierung von Johann Calas ist, einem reichen protestantischen Kaufmann, der 1762 in Toulouse hingerichtet wurde, weil er angeblich seinen Sohn, der zum Katholizismus konvertieren wollte, ermordet hatte. Voltaire griff in dieser Affäre die antiprotestantischen Büßerorden von Toulouse scharf an, und indirekt über sie auch die katholischen Autoritäten. Doch ging es ihm ebenso um eine grundlegende Reform des Justizsystems. Sein Kampf endete mit einem Erfolg auf ganzer Linie: Calas und seine Familie wurden 1765 rehabilitiert.

Doch interessiert uns Voltaires Werk heute vor allem wegen seiner allgemeinen These zugunsten der Toleranz, die politische und philosophische Argumente geschickt mit einer Kritik religiöser Rechtfertigungen der Intoleranz kombiniert. Intoleranz sei gefährlich, weil sie, weit davon entfernt, den gesellschaftlichen Frieden oder den Gehorsam zu begünstigen, am Ursprung gewaltsamer Unruhen und scheußlicher politischer Verbrechen stehe. Im Gegensatz dazu seien die Völker, die Toleranz übten, friedfertiger, gedeihlicher und glücklicher. Intoleranz entspräche weder dem „Naturrecht“ noch dem „Menschenrecht“, denn diese Rechte seien auf die Maxime gegründet: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“

Freiheit als Bedingung

Schließlich liefere auch die Geschichte kein Argument zugunsten der Intoleranz: Die Griechen und Römer hätten sich nicht der Intoleranz bedient; die Geschichte der alten Hebräer zeige, dass ihre Anbetung des einen Gottes sie nicht daran gehindert habe, tolerant zu sein; nichts erlaube den Gedanken, dass Jesus Christus Intoleranz gelehrt habe; und die Geschichte der christlichen Nationen sei gesäumt von Zeugnissen wider die Intoleranz. Nichts in ihrer Religion autorisiere also die christlichen Kirchen dazu, intolerant zu sein, während Vernunft und Natur sie zu Toleranz verpflichten würden. Dieses Argument suggeriert auch, dass der Anspruch der Kirchen, den einzigen Zugang zum Heil gewähren zu können, illusorisch sei. Voltaire zielt darauf, die Überlegenheit der Philosophie und der „Natürlichen Religion“ hervorzukehren – einer Religion, die ohne den Beistand der Offenbarung allein auf der Vernunft beruht. Damit ordnet sich Voltaires Toleranzbegriff in einen bestimmten Horizont ein: den Niedergang des traditionellen Glaubens zugunsten einfacherer und weniger ausschließlicher Glaubensformen, deren Voranschreiten mit der Neuorientierung des menschlichen Handelns auf das irdische Diesseits einhergeht.

Unsere Zeitgenossen haben also gute Gründe dafür, wieder Voltaire zu lesen, um den Wert der Toleranz zu verteidigen. Dank Voltaire können wir auch verstehen, wie sich dieser Wert in der modernen Welt hat behaupten können. Dafür musste der Staat seine Vorherrschaft über die Religion festigen, und mehrere Religionen mussten lernen, in ein und demselben politischen Körper zu koexistieren – und dieser Umsturz konnte sich nur vollziehen, weil die Menschen es de facto akzeptiert haben, die Suche nach dem Glück auf Erden über die Suche nach dem Seelenheil zu stellen. Das Akzeptieren der Toleranz ist an das Auf kommen einer säkularisierten und individualisierten Welt geknüpft, deren Bedingung und auch Folge die moderne Freiheit ist. Bekanntlich kann sie allein aber weder die Frage nach dem Sinn noch das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu inklusiven Gemeinschaften stillen. Wir brauchen Voltaires Denken, um diese Welt zu verteidigen; weniger klar ist, ob dies auch ausreicht, um die Herausforderungen zu verstehen, vor die sich unsere Welt gestellt sieht.

 

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Juli 2023 | In Arbeit | Kommentieren

An Ermunterung und anteilnehmendem Interesse durch den damaligen Vorzeige-Herrscher der Aufklärung Friedrich den Großen an Voltaires Stück, das von einem Kameltreiber handelt, der vorgeblich Kontakt zu einem Erzengel hatte und sich fortan Prophet nannte, fehlte es wahrlich nicht:
Für den Westen geht es seit geraumer Zeit ans Eingemachte. Dass der Chefredakteur von „France Soir“ entlassen wurde, weil er Kritik am muslimischen Religionsstifter zu üben wagte, genauer: weil er Dokumente dieser Kritik zur Veröffentlichung freigab -, das wird von westlichen Journalisten mit Sorge gesehen und von dessen Kollegen zu Recht als ein Schlag ins Gesicht der französischen Identität betrachtet.

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Juli 2023 | In Arbeit | Kommentieren

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Juli 2023 | In Arbeit | Kommentieren

Das neue Flagschiff der Reederei MSC

MSC Meraviglia – das größte Kreuzfahrtschiff Europas

MSC Meraviglia
Der Kreuzfahrtriese „MSC Meraviglia“ ist seit Kurzem im Mittelmeer unterwegsFoto: dpa picture alliance

Vier Jahre ist es her, dass MSC zuletzt ein neues Schiff in Dienst stellte. Jetzt präsentiert die Reederei eine komplett neue Generation. Ihr erster Vertreter: die „MSC Meraviglia“, die in diese Sommer im westlichen Mittelmeer unterwegs sein wird. Was das Flagschiff von MSC zu bieten hat.

Passagiere sind über das Angebot „MSC for Me“ per Smartphone mit dem Schiff vernetzt. Dazu gibt es ein Armband mit Chip, das die Kabinentür öffnet und Getränke an der Bar abrechnen lässt. 16.000 Kontaktpunkte und 700 Hot-Spots registrieren jede Bewegung. Mittels Gesichtserkennung durch 1200 Kameras können Gäste auch Besuche in Restaurants oder Bars als Vorlieben speichern lassen.

MSC Meraviglia, Theater
Wartet auf die Gäste: Das Theater auf hoher See bietet jeden Abend mehrere ShowsFoto: Ivan Sarfatti/MSC/dpa-tmn

19 Decks – das gab es in Europas Gewässern noch nie

73 Prozent der Passagiere hätten sich bei Umfragen eine bessere Vernetzung mit moderner IT während der Seereise gewünscht, erklärt MSC. Wer sich im Kreuzfahrturlaub lieber abschalten möchte, kann Smartphone und Armband allerdings auch im Kabinentresor ablegen und sich völlig ohne Datenstrom bewegen – die klassische Bordkarte reicht auch.

19 Decks und 65 Meter Höhe gab es bislang in Europas Gewässern noch nicht – selbst der weltgrößte Kreuzfahrtkoloss „Oasis of the Seas“ endet bei Deck 18. Insgesamt bietet MSC Meraviglia elf Restaurants: Die Liste reicht vom „Marketplace Buffet“-Restaurant mit 1338 Plätzen bis zur japanischen „Kaito Sushi Bar“. Die Spezialitäten-Restaurants sind im Reisepreis allerdings nicht inbegriffen.

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Neues Flaggschiff von MSC: Die MSC Meraviglia ist fast 30 Prozent größer als die Schiffe der MSC-Fantasia-Klasse
Neues Flaggschiff von MSC: Die MSC Meraviglia ist fast 30 Prozent größer als die Schiffe der MSC-Fantasia-Klasse Foto: Bernard Biger/MSC/dpa-tmn

Spezielles Theater für exklusive Shows

Auch nicht im Reisepreis enthalten ist der Besuch der „Carousel Lounge“, in der Essen und Unterhaltung kombiniert werden. „Wir sind die erste Reederei, die hier exklusive Shows von Cirque du Soleil aufs Meer bringt“, sagt Michael Zengerle, der Deutschland-Chef der Reederei. Dafür wurde ein spezielles Theater mit 413 Restaurant- und Lounge-Plätzen kreiert. Artistik am Hochseil zusammen mit hochwertiger Küche gibt es auf jeder Reise an sechs Abenden. Dinner und Show sind für 35 Euro buchbar. Im Reisepreis inbegriffen ist die Hauptshow im „Broadway Theater“ im Vorschiff.

Mit 315 Metern ist die MSC Meraviglia zwar kürzer als die Schiffe der MSC-Fantasia-Klasse, jedoch um fast 30 Prozent größer: Die Zahl der Kabinen stieg um fast 550 auf 2244, die Breite um sechs Meter. Die 2244 Kabinen sind in zehn Kategorien eingeteilt. Das Gros bilden 1274 Balkonkabinen mit 12 bis 22 Quadratmeter.

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100 Meter lange Promenade mit Shops

Der vor neun Jahren mit der MSC Fantasia eingeführte MSC Yacht Club ist auf der MSC Meraviglia gewachsen: Die Zahl der Suiten stieg von 71 auf 94. Ein Novum bei MSC ist die 100 Meter lange „Galeria Meraviglia“ auf Deck 6. Dort ist eine Promenade im Schiff entstanden: Restaurants und Eisbar sind zusammen mit Shops und Mode-Boutiquen, dem „Ristorante Italiano“ oder dem „Brass Anchor Pub“ mit typisch südenglischem Kneipen-Ambiente zu finden.

Galeria Meraviglia auf der MSC Meraviglia
Eine Promenade im Schiff: Die „Galeria Meraviglia“ ist 90 Meter langFoto: Frank Behling/dpa-tmn

Überspannt wird die Promenade von einem 80 Meter langen LED-Himmel, der unterschiedliche Stimmungen und Farben erzeugen kann. Vom glitzernden Sternenhimmel bei Nacht bis zur wabenähnlichen Steinstruktur eines Tunnelgewölbes reichen die Bilder.

Auch weil für immer mehr Urlauber Faktoren wie Nachhaltigkeit eine Rolle spielen, versuchen die Reedereien ihre Schiffe diesbezüglich zu optimieren. Auch bei der MSC Meraviglia soll der Einsatz moderner Technologie die Schäden an der Umwelt minimieren. Dennoch sollten sich Passagiere bewusst darüber sein, dass große Kreuzfahrtschiffe „wie schwimmende Kleinstädte“ sind und „entsprechend viel Energie“ verbrauchen, wie auch der Naturschutzbund Deutschland (Nabu) auf seiner Website schreibt. „Ihre schmutzigen Abgase – Feinstaub, Ruß, Stickoxide und Schwefeloxide- gefährden Gesundheit, Klima und Biodiversität.“

Juli 2023 | In Arbeit | Kommentieren

Gendern mit Sternchen, Doppelpunkten – oder gar nicht?
Bei einem Wort wie Bürger würden wir „eher an Männer denken“. Studien hätten das belegt. Wer die Debatte um das Gendern der Sprache verfolgt, hat Aussagen wie diese wahrscheinlich oft gehört. Bislang weniger bekannt ist, dass Sprachwissenschaftler und Germanisten diese These als unhaltbar zurückweisen.
An den besagten Studien kritisieren sie gravierende wissenschaftliche Mängel; die Interpretation der Ergebnisse betrachten sie als falsch und irreführend. Was also geht uns beim Lesen und Hören wirklich durch den Kopf?

Gender-Streit: „Ich erwarte von der queeren Bewegung mehr Toleranz“ –
Streit ums Gendern: „Lehrer“ war nie ein Wort bloß für Männer

Um die Aussagekraft und Relevanz der Studien beurteilen zu können, ist es sinnvoll, sich zunächst eine empirische Tatsache vor Augen zu führen. Wörter wie Bürger, Lehrer, Freunde oder Demonstranten werden von den meisten Menschen als Bezeichnungen für Frauen und Männer benutzt und korrekt geschlechtsneutral verstanden. Gäbe es Verständnisprobleme (wie manche Genderbefürworter behaupten), wäre das längst aufgefallen: Wir müssten uns dauernd erklären, ständig nachfragen

Lässt das generische Maskulinum an Männer denken?

Unter den meisten Sprachwissenschaftlern ist diese Tatsache auch anerkannt: Das generische Maskulinum werde von den Menschen ganz selbstverständlich verwendet und verstanden, sagt die Linguistin Ewa Trutkowski in der Berliner Zeitung. Dieselbe Position vertreten beispielsweise Heide Wegener und Peter Eisenberg. Und der Linguist Nikolaus Lohse schrieb jüngst: Die Unterscheidung zwischen der neutralen generischen und der spezifisch männlichen Lesart eines Wortes wie Lehrer mache im aktiven Sprachgebrauch „überhaupt keine Probleme“.
Dass dem so ist, wenigsten im alltäglichen Sprachgebrauch, bestätigt eine Studie von 2012 (De Backer, De Cuypere): In gängigen Zeitungssätzen wurden Pluralformen wie Schüler, Mieter, Leser etc. von den Probanden zu 99 Prozent geschlechtsneutral interpretiert. Berufsbezeichnungen wie Ärzte, Apotheker, Politiker usw. zu 94 Prozent. Der empirische Sachverhalt ist eindeutig.

Das Märchen vom Gendersterntaler

Identitätsaktivisten wollen überall eine gerechte Sprache durchsetzen. Aber gibt es so etwas überhaupt? Unser Autor hat genauer hingeschaut.

Behauptung, wir würden bei den generischen Maskulina „eher an Männer denken“.

Was damit gemeint ist, wird in den besagten Studien oft nicht eindeutig definiert. Man kann aber sagen, es geht im Grunde (fast) immer um Gedanken oder bestimmte Vorstellungen, die Wörter auslösen können: die berühmten „Bilder im Kopf“. Dass eine Fokussierung auf solche psychologischen Phänomene ziemlich fragwürdig ist, liegt eigentlich auf der Hand.
Denn zunächst einmal widerspricht es der Erfahrung, dass wir beim Hören oder Lesen von Texten bzw. Sätzen mit Personenbezeichnungen stets „Bilder im Kopf“ hätten, also Vorstellungen von den bezeichneten Personen. Es existieren auch keine wissenschaftlichen Belege für solche Effekte. Ob Texte Bilder im Kopf entstehen lassen, hängt, wie Profi-Schreiber wissen, unter anderem von der sprachlichen Gestaltung ab: Lebhafte Schilderungen und anschauliche Beschreibungen rufen leichter bildhafte Vorstellungen hervor als nüchtern berichtete Fakten und Sachinformationen.

Es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür,
dass die Bilder im Kopf, wenn sie denn entstehen,
stets konkret und ausdifferenziert sind.

Die Erfahrung bietet etwas anderes:

Unsere inneren Bilder sind oftmals ziemlich vage. Was wir mit einem Wort verbinden, ist subjektiv
Oder wie konkret sind Ihre Vorstellungen der bezeichneten Personen bei folgenden Sätzen? „Berlin hat 3,6 Millionen Einwohner.“ „Die Steuerzahler werden wieder kräftig zur Kasse gebeten.“ „Bundesweit starben vergangenes Jahr 376 Fußgänger bei Verkehrsunfällen.“
Die Bilder im Kopf können aber nicht nur unspezifisch sein, sondern auch ziemlich divers. Lesen wir einen Satz wie „Die Zuschauer klatschten“, so denken die meisten von uns wohl eher an eine buntgemischte Menge. Das gilt mit Sicherheit auch bei: „Die Demonstranten hatten sich vor dem Reichstag versammelt.“

Gegen die Mehr-Männer-These spricht ein weiterer Punkt.

„Wortassoziationen sind hochgradig subjektiv. Während der eine beim Wort Musiker an einen gemischten Chor denkt, fällt dem anderen ein männlicher Gitarrist ein“, sagt Ewa Trutkowski. Einen Eindruck davon, wie verschieden innere Bilder sein können, geben Debattenbeiträge: Mit dem Wort Ärzte assoziiere er „weiße Kittel“, schreibt über das Gendern Ingo Meyer, Redakteur der Berliner Zeitung. Beim Plural Lehrer denken sie „vor allem an Frauen“, berichten User auf Twitter. „Lehrer“ löse bei ihr gar keine spezifischen Vorstellungen von Personen aus, so eine Nutzerin des Meinungsforums der Welt. Sie verstehe das Wort als Berufsbezeichnung.

Fassen wir also mal zusammen:

Die Behauptung, die Personenbezeichnungen würden primär männliche Vorstellungen hervorrufen, ist offenbar so nicht haltbar. Die Bilder im Kopf können (sofern sie überhaupt ausgelöst werden) neutral, unbestimmt oder „buntgemischt“ sein. Zudem unterscheiden sie sich von Mensch zu Mensch bisweilen erheblich.
Die Vernachlässigung dieser individuellen Unterschiede ist nach Ansicht des Sprachwissenschaftlers Martin Neef eines der Hauptprobleme der Studien. Ein vielleicht noch gewichtigeres Manko: Die Tests vernachlässigen maßgebliche Faktoren bei der Entstehung von Assoziationen. Woran wir bei einem Wort denken, wie wir es verstehen, hängt, wie Sprachwissenschaftler betonen, von einer Vielzahl sprachlicher und außersprachlicher Einflussfaktoren ab.

Kontext macht klar, wie ein Wort gemeint ist

Wortart, Numerus (Plural oder Singular), Syntax, relative Häufigkeit von Maskulina und Wortformen auf „-in“ im allgemeinen Sprachgebrauch sowie das Weltwissen sind laut Forschung nur einige der Faktoren, die mitbestimmen, was uns bei Wörtern durch den Kopf geht, wie der Linguist Franz Rainer dargelegt hat.

Besonders gewichtig ist nach Ansicht von Wissenschaftlern wie Rainer und Neef der Kontext, in dem ein Wort eingebettet ist, ein Satz steht. Ist in einem Bericht über ein Fußballspiel von den Zuschauern die Rede, so entstehen andere Vorstellungen vom Publikum als bei einem Artikel, der die Zuschauer in einem Zirkuszelt erwähnt. Und heißt es in der Zeitung, „Die Ukrainer sehnen sich nach Frieden“, so denkt (im Kontext des gegenwärtigen Krieges) mit Sicherheit niemand nur an Männer.
In den Studien wird dieser Kontextfaktor übergangen oder sogar gezielt ausgeblendet: Die Forscher testen Wörter oder Sätze entweder kontextlos, oder sie untersuchen Wort-Assoziationen nur in einem einzigen Kontext, was aber Rückschlüsse auf andere Kontexte nicht zulässt, wie die genannten Beispiele hoffentlich verdeutlichen.

Philosoph Precht bei „Markus Lanz“: Das große Nörgeln

In der Regel versammelt Markus Lanz Menschen mit geopolitischer Kompetenz. Diesmal schwadronierten zwei Männer in weit geöffneten braunen Hemden über dies und jenes.

Rainer, Neef sowie der Germanist Fabian Payr
(„Von Menschen und Mensch*innen“, Springer-Verlag)
sehen darin ein besonders gravierendes Problem der Tests.

Durch den Kontext werde im normalen Sprachgebrauch in aller Regel klar, ob die geschlechtsneutrale oder die männliche Lesart gemeint sei, sagt Rainer. Falls das einmal unklar sei, würden die Sprecher des Deutschen „spontan eine Doppelform“ nutzen.
Ein weiterer Faktor bei Wortassoziationen können laut Forschung Stereotype oder Rollenbilder sein. Doch auch ihr Einfluss wird in den meisten Experimenten nicht berücksichtigt, bemängelt etwa der Sprachphilosoph Philipp Hübl. Er zweifelt die Aussagekraft der Studien daher stark an.

Die Kritik beschränkt sich längst nicht auf die Vernachlässigung solcher Einflussfaktoren. Linguisten und Germanisten haben in den Studien eine bemerkenswerte Menge weiterer schwerwiegender wissenschaftlicher Mängel ausgemacht. Eine der gewichtigsten Unzulänglichkeiten kritisiert etwa der Linguist Martin Neef: Durch die Fragestellung werde „in vielen Tests die männliche Lesart aktiviert“. Mit anderen Worten:
Die Tests führen in die Irre.
Zu diesem Ergebnis kam auch die Sprachwissenschaftlerin Gisela Zifonun, als sie sich eine besonders viel zitierte Studie ansah (Gygax et al., 2008). In einem weiteren Experiment (Heise, 2000) fand die Grammatik-Expertin nur einen einzigen generischen Gebrauch des Maskulinums in allen acht Testsätzen. Hinzu kommt, dass die Studien laut Zifonun Wörter (wie so oft) nur in einem spezifischen Kontext untersuchen. Zifonuns Resümee: „Tests dieser Art sagen nichts aus über eine generell mit dem generischen Maskulinum assoziierte mentale Sexus-Zuweisung (…)“ Heißt: Die Aussagekraft solcher Experimente ist im Grunde gleich null.

Wer ist Ihr Lieblingsmusiker? Die Frage ist irreführend

Dass das generische Maskulinum in den Studien verwendet wird, wo es unüblich ist, bemängelt in seinem Buch zum Thema auch der Germanist Tomas Kubelik („Genug gegendert!“, Projekte Verlag 2013). Erschwerend kommt hinzu, dass bisweilen nur der Singular („ein Lehrer“) untersucht wurde. Aber das bedarf vielleicht einer kurzen Erläuterung. Wenn wir im normalen Sprachgebrauch über eine einzelne konkrete Person, ein bestimmtes Individuum sprechen, sagen wir beispielsweise mein Nachbar oder meine Nachbarin, der Schüler oder die Schülerin usw. Oder andersherum: Niemand, der nicht täuschen möchte, sagt, er besuche seinen Nachbarn, wenn es sich um eine Frau handelt.
Wird über konkrete oder imaginierte Einzel-Personen geschrieben, ist es dasselbe. Die Nachrichtenagenturen melden: „Die Fußgängerin wurde schwer verletzt“ oder „Der Radfahrer kam in ein Krankenhaus“. Und im Roman heißt es vielleicht: „Ein Zuschauer sprang von seinem Sessel auf und stürzte aus dem Saal“. Tests der Art „Wer ist Ihr Lieblingsmusiker?“ (Stahlberg, Sczesny, 2000, 2001) oder „Male einen Arzt“ (Durau, 2021) sind daher irreführend. Denn auch sie legen eine männliche Lesart nah

Auch wenn der Plural verwendet wird, sind solche Studien unbrauchbar. In einem Experiment sollten die Probanden unter anderem drei berühmte Politiker, Sportler und Sänger nennen (Stahlberg, Sczesny, 2000, 2001). Es dürfte einleuchten, dass solche Tests weder etwas über etwaige Assoziationen bei der Lektüre einer Zeitung noch im Gespräch aussagen. Und rein gar nichts über das Verstehen der Wörter in Zeitungen oder im Gespräch.
Denn die Einbettung in einen Kontext (der hier fehlt) macht, wie wir wissen, im normalen Sprachgebrauch klar, was mit dem Wort gemeint ist. Geht es um Politiker ganz allgemein („Politiker sind auch nur Menschen“), um eine gemischtgeschlechtliche Gruppe von Politikern („598 Politiker sitzen im Bundestag“) oder um Politiker, deren Geschlecht unbekannt ist („Drei namentlich nicht genannte Politiker aus Union und SPD …“)? Oder geht es spezifisch um männliche Politiker? („Die beiden Politiker haben sich immer wieder die Treue bekundet“ – in einem Artikel über Gerhard Schröder und Wladimir Putin.)

Doch selbst in nichtssagenden Experimenten solcher Art
wurden nicht nur Männer, sondern lediglich mehr Männer genannt.

Die Mängelliste ist aber noch wesentlich länger. Der Germanist Fabian Payr fand einen besonders großen Schwachpunkt in dem viel zitierten Test, den Gisela Zifonun kritisiert hat (Gygax et al., 2008).
In dieser Studie präsentierten Forscher den Probanden eine Reihe von Satzpaaren. Per Tastendruck sollten die Testpersonen entscheiden, ob der zweite Satz eine sinnvolle Fortsetzung des ersten darstelle. Das Problem laut Payr: Ein (Fortsetzungs-)Satz wie „Wegen der schönen Wetterprognose trugen mehrere der Frauen keine Jacke“ kann so interpretiert werden, dass hier von einer ausschließlich weiblich besetzten Gruppe die Rede ist. „Dann wundern Sie sich natürlich, warum vorher von ‚Sozialarbeitern‘ die Rede war und nicht gleich von ‚Sozialarbeiterinnen‘“, so der Germanist.

Die Studien sind meist nicht einmal repräsentativ

Wenn also die Satzfortsetzungen als „nicht sinnvoll“ oder nicht gleich als sinnvoll eingestuft werden, hat das schlicht mit dem Design der Studie zu tun, und nichts mit dem generischen Maskulinum. Dass Payr richtig liegt, zeigen Befunde aus einer Neuauflage der Studie (Körner et al., 2022). Dort bewerteten die Probanden fast ein Fünftel (18 Prozent) der Fortsetzungen als „nicht sinnvoll“, und zwar sogar dann, wenn nach einem generischen Maskulinum im zweiten Satz von „Männern“ die Rede war.
Dieses und noch ein weiteres relevantes Ergebnis der Studie thematisieren Studienautoren allerdings nicht: Die Probanden verstanden selbst in diesem irreleitenden Experiment generische Maskulina wie etwa Zuschauer, Künstler, Apotheker oder Kinderärzte in 71 Prozent der Fälle als geschlechtsneutral. So oft nämlich ergab eine weibliche Fortsetzung mit zum Beispiel „die Frauen“ für sie Sinn.

Weg aus Berlin, ab ins beschauliche Wien:
Keine Misthaufen, keine teure BVG mehr

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Es ließen sich weitere Punkte nennen, die an den psycholinguistischen Tests kritisiert wurden.

Der Germanist Kubelik bemängelt in seinem Buch an verschiedenen Studien, dass das biologische Geschlecht überhaupt erst durch Nachfragen ins Bewusstsein der Probanden gehoben werde. Ein weiterer großer Schwachpunkt der Labor-Experimente: An fast allen Tests nahmen nur Studenten teil, bisweilen gerade mal 20 Probanden. Oft sind nicht einmal die Geschlechter korrekt repräsentiert: Teilweise lag der Frauenanteil unter den Probanden bei über 70 Prozent. Und in einem Fall, einem Experiment von 2012, waren es sogar 100 Prozent: 36 Studentinnen der Universität Bern.

Kurz: Die Ergebnisse aus den ohnehin fragwürdigen Studien, die mit dem üblichen Sprachgebrauch oft nichts zu tun haben, sind noch nicht einmal auf die Gesamtbevölkerung übertragbar. Die Linguistin Gisela Klann-Delius hat das in „Sprache und Geschlecht“ (Metzler-Verlag) problematisiert. Rainer und Neef kritisieren die verwendeten Stichproben ausdrücklich.
Falsch zusammengefasst, fragwürdig interpretiert
Bei dieser Fülle an wissenschaftlichen Mängeln kann man schon mit Kritikern wie Kubelik oder dem Soziologen Stefan Beher zu dem Eindruck gelangen, dass hier nicht unvoreingenommen geforscht wurde. Kubelik hält den Wissenschaftlern vor, sie würden bestimmte Beweise erbringen wollen, statt objektiv und ergebnisoffen zu forschen.

Besonders eindrücklich zeigt der Germanist das an Fällen, in denen die Forschungsergebnisse von den Studienautoren stark verzerrt wiedergegeben oder gar falsch zusammengefasst werden. Fragwürdig interpretiert werden sie fast immer.
Ergebnisse, die nicht ins Bild vom frauenbenachteiligenden Maskulinum passen, ignorieren Studienautoren und Genderbefürworter immer wieder. Der erwähnte Test mit den Satzfortsetzungen ist nur ein Beispiel dafür. Franz Rainer hat noch etwas anderes festgestellt, das Anhänger der Gendersprache so gut wie nie erwähnen: Die Tendenz zur männlichen Lesart der untersuchten Wörter („male bias“) ist selbst in den Studien oft „überraschend gering“. Gebe man noch den Kontext dazu, meint Rainer, bleibe „von dem ‚bias‘ meistens nicht mehr allzu viel übrig“.
Entsprechend sind in den Studien auch die Effekte des Genderns nur äußert bescheiden, teils nicht einmal messbar. Doch auch das sparen Genderbefürworter gerne aus, wenn sie sich auf diese „Studien“ berufen. Ein paar Beispiele:
In einem Experiment mit Nachrichtentexten (Blake, Klimmt, 2008) sollten die Probanden den Frauenanteil bei einer Demonstration schätzen. War von „Demonstrantinnen und Demonstranten“ die Rede, lag der angenommene Frauenanteil um nur rund drei Prozent höher als in der Version mit generischem Maskulinum. Bei einem weiteren Text („Ärztinnen und Ärzte“ vs. „Ärzte“) hatte das Gendern „keinen signifikanten Einfluss“. Die Befunde konnten nicht einmal „gegen den Zufall abgesichert“ werden.

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Bei dem Test mit den bekannten Politikern, Sportlern, Sängern usw. (Stahlberg, Sczesny, 2000, 2001) waren die Gendereffekte genauso dürftig. Die Probanden sollten insgesamt zwölf Prominente nennen. War die Aufgabe mit generischem Maskulinum formuliert, nannten sie im Mittel 2,4 Frauen. Beim Gendern mit Doppelnennung lagen die Werte gerade mal 0,3 Punkte höher, bei 2,7 Frauen.

In einer weiteren Studie führt die „geschlechtergerechte Sprache“ nur dann zu Nennung von mehr Frauen, wenn Frauen in einer Kategorie (wie einer politischen Partei) in „angemessener oder relevanter Häufigkeit vertreten waren“ (ebenfalls in Stahlberg, Sczesny, 2000, 2001).
Einmal absolut winzig und einmal „statistisch nicht signifikant“ (heißt: die Werte lagen unterhalb der Zufallsschwelle) waren die Effekte von Doppelformen („Ingenieurin oder Ingenieur“ usw.) in einem Test mit Schulkindern (Vervecken, Hannover, 2015): Auf einer Skala von 1 bis 5 lagen die Werte gerade mal um 0,07 bis 0,26 höher als bei Verwendung von generischem Maskulinum.
Noch bescheidenere Resultate maßen Forscher in einer Studie mit Fernsehmoderationen (Jöckel et al., 2021). Getestet wurden unter anderem Beidnennungen und „neutrale Formen“, wie „die Polizei“. Das Gendern hatte (abgesehen von statistisch irrelevanten Abweichungen in Höhe von 0,12, 0,78 bzw. 1,7 Punkten auf einer Skala von 1 bis 21) bei den erwachsenen Versuchspersonen keinen Effekt. Heißt: Es spielte für die Getesteten keine Rolle, ob der Moderator von Polizisten, Polizistinnen und Polizisten oder von der Polizei sprach.

Wörter mit Sprechpausen werden für weibliche Form gehalten

Einzig die Gender-Sprechpause vor dem „innen“ führte zu einer etwas häufigeren Nennung von Frauen. Der Befund mag auf den ersten Blick überraschen, da diese Genderform von vielen Menschen besonders stark abgelehnt wird. Der wahrscheinlichste Grund für den – nicht sehr großen – Effekt findet sich in Rohdaten der Studie, die einer der Forscher freundlicherweise zur Verfügung stellte: Offenbar hatte eine erhebliche Zahl an Probanden die Wörter mit Sprechpause für eine weibliche Form gehalten. Statt „Polizist:innen“ verstanden sie offenbar „Polizistinnen“. Laut den Daten interpretierten mindestens 17 Prozent „Polizist:innen“ als rein weibliche Form, bei „Schüler:innen“ waren es zehn Prozent, bei „Pfleger:innen“ sieben Prozent.
Weitere Fälle winziger oder gar nicht messbarer Gendereffekte in Studien nennt der Germanist Tomas Kubelik in seinem Buch. Wie er zeigt, führte in manchen Tests das Gendern teils sogar zu einem mentalen Männerüberschuss (Kusterle, 2011; Klein, 2004).
Manch einer mag nun vielleicht einwenden, das Gendern hätte laut den Studien also wenigsten in einzelnen Fällen einen Effekt, wenn auch einen sehr kleinen. Doch das übersieht, welche Mängel die Studien schon bei der Fragestellung aufweisen. Etwa, indem sie die männliche Interpretation der Wörter von vornherein nahelegen. Über das generische Maskulinum im normalen Sprachgebrauch sagen solche Tests, wie schon dargelegt, ohnehin nichts aus.

Das ist schon fast alles, was man über die Aussagekraft und Relevanz der sogenannten Assoziationstests
und ihre Deutung durch Genderbefürworter wissen muss.
Außer vielleicht noch dies:

Es handelt sich bei der gesamten Forschung zum Thema um lediglich eine Handvoll Untersuchungen, die wieder und wieder zitiert werden. Getestet wurden oft nur fünf, zehn oder zwölf Wörter; im Fall der TV-Moderationen waren es sogar nur drei Wörter.
Damit sollte eigentlich klar sein, dass eine Hauptthese zur Gendersprache nichts weiter ist als eine Behauptung. Es gibt schlichtweg keine wissenschaftlichen Belege, dass „wir beim generischen Maskulinum eher an Männer denken“ (und auch nicht, dass sich „die meisten beim generischen Maskulinum vor allem Männer vorstellen“). Nein, es gibt bloß eine sehr überschaubare Anzahl von Tests, die fast alle mit Studenten durchgeführt wurden und ein paar Maskulina in einem oder wenigen Kontexten untersuchten.
Eine letzte Studie sei hier noch erwähnt. Der Test von 2015 (Vervecken, Hannover) soll belegt haben, dass Gendern zu mehr Gerechtigkeit unter den Geschlechtern beitragen könne. In der Studie hätten sich Kinder „viel eher“ zugetraut, einen typischen Männerberuf wie Ingenieur zu ergreifen, wenn sie Doppelnennungen („Ingenieurinnen und Ingenieure“) statt des generischen Maskulinums hörten. So steht es u. a. in einer Pressemitteilung der Freien Universität Berlin.
Bei der Berufswahl spielen ganz andere Faktoren eine Rolle
Diese Darstellung ist bemerkenswert. Denn in Wahrheit waren die Effekte der Benennungen, wie oben dargelegt, mal absolut winzig, mal statistisch gesehen nicht vorhanden. Zur Erinnerung: Die Werte lagen auf einer Skala von 1 bis 5 gerade mal um 0,07 bis 0,26 höher als beim generischen Maskulinum.

Das wurde getestet: In einem ersten Experiment sollten die Kinder
das Einkommen in verschiedenen Berufen schätzen

(1 = sehr wenig, 5 = sehr viel). Geringere Wert interpretierten die Studienautoren dann als eine höhere „Zugänglichkeit“ zum Beruf. In einem zweiten Experiment gaben die Kinder auf einer Skala von 1 bis 5 an, wie zuversichtlich sie sind, als Erwachsene eine Qualifikationsprüfung für einen Beruf wie z.B. Ingenieur oder Maurer zu bestehen.
Bemerkenswert ist neben den winzigen – oder gar nicht vorhandenen – Gendereffekten die Wahl einiger Berufsbezeichnungen. Begriffe wie „Feuerwehrmänner“ oder „Geschäftsmänner“ sind stark sexusmarkiert und keine generischen Maskulina. Das ist nicht nur wissenschaftlich unseriös bei einer Studie, die vorgibt, das generische Maskulinum untersucht zu haben. Wenn man der Logik des Tests folgt, ist es auch psychologisch relevant. Denn dass kleine Mädchen Probleme haben dürften, sich als „Feuerwehrmänner“ oder „Geschäftsmänner“ zu sehen, ist zu erwarten. Berücksichtigt man dies, fallen die gemessenen winzigen Effekte natürlich noch geringer aus.

Bluthochdruck wegen Gender-Sprache? TV-Zuschauer reicht Beschwerde ein

Ein Österreicher legte bei der Medienaufsicht Beschwerde gegen den Sender ORF ein. Weil in einer Sendung von „Kund*innen“ die Rede war, habe er Bluthochdruck bekommen.
Von eb

RedaktionsNetzwerk Deutschland

Genderbefürworter zitieren die Studie üblicherweise so, als sei mit ihr etwas bewiesen. Dabei übersehen sie aber nicht nur die verschwindend geringen Effekte in einem einzelnen, nicht wiederholten Laborexperiment mit zweifelhaften Fragestellungen und zum Teil inadäquaten Begriffen. Sie übersehen vor allem die eigentlich relevanten Größen. Welche Faktoren bei der Berufswahl eine Rolle spielen, ist aus der Sozialforschung bekannt: Sozialer Hintergrund, Schulabschluss, Arbeitsplatzsicherheit, Verdienstaussichten, Talente, Neigungen und Interessen, der Rat der Eltern und in bestimmten Fällen auch der Beruf eines Elternteils sind einige davon. Dass ein im Laborexperiment gemessener spontaner Spracheffekt auf ein angebliches „Sich-Zutrauen“ hier noch einen nennenswerten Faktor darstellt, erscheint  äußert unwahrscheinlich.
Wer diese Studie zitiert, geht üblicherweise darüber hinweg, dass die Studienautoren selbst genau diese und weitere Einschränkungen machen: Faktoren wie sozioökonomischer Hintergrund, Interesse und Intelligenz dürften nicht außer Acht gelassen werden, wenn man versuche, Berufswahlentscheidungen zu verstehen, schreiben sie. Und auch berufliche Interessen dürfe man nicht vernachlässigen. Nötig seien Wiederholungen des Tests, Langzeitstudien (sogenannte Längsschnittstudien) und so weiter.
Die Mehrheit der jungen Anwälte in Deutschland sind Frauen

Dass sich Frauen nicht davon abhalten lassen, einen Berufsweg einzuschlagen, weil generische Maskulina im allgemeinen Sprachgebrauch und in den Medien gängig sind, zeigen indes die wirklich belastbaren Daten. Von der Grundschule bis zum Gymnasium dominieren Frauen in allen Schulformen mit insgesamt 73,4 Prozent den Lehrerberuf. Etwa 70 Prozent der Medizinstudenten sind weiblich, 72 Prozent der Apotheker in Deutschland sind Frauen und ebenso die Mehrheit der junge Anwälte bei ihrer Erstzulassung.
Wie häufig generische Maskulina übrigens generell in den Medien verwendet werden, zeigt eine Auswertung des Rechtschreibrates von 2021: Auf mehr als zwei Millionen generische Maskulina kamen 15.000 Genderformen. Genderquote: 0,7 Prozent. Die immer wieder zitierten Studien liefern keinen Grund, daran etwas zu ändern.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde.

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Juli 2023 | Essay, Gesundheit, In vino veritas, Junge Rundschau, Zeitgeschehen | Kommentieren

 

 

Nach der Zusage der USA, die Ukraine mit Streumunition zu versorgen, ist vom Bruch des Völkerrechts die Rede. Doch wie sieht die Rechtslage aus und inwieweit ist diese Munition geächtet?

 

Die Ankündigung der US-Regierung, der Ukraine für ihren Abwehrkampf gegen die russischen Invasoren Artillerie-Streumunition zu liefern, ist in der Öffentlichkeit auf erhebliche Kritik gestoßen. Während sich die Bundesregierung bedeckt hält, erklärte SPD-Außenpolitiker Ralf Stegner, der Einsatz von Streumunition sei zurecht international geächtet: „Wer im Namen der internationalen Ordnung und Werte handelt, liefert solche Waffen nicht.“

Auch die Links-Partei verurteilte den Schritt: „Streubomben sind perfide Mordwerkzeuge des 21. Jahrhunderts, die den Geist des finstersten Mittelalters atmen“, erklärte Fraktionsvorsitzender Dietmar Bartsch auf Twitter. Seine Fraktionskollegin und Außenpolitikerin Sevim Dağdelen legte sich fest: Für sie ist der Einsatz von Streumunition durch die Ukraine „völkerrechtswidrig, verbrecherisch & Terror gegenüber Bevölkerung“. Erwartungsgemäß kritisierte auch das russische Regime die angekündigte Lieferung als „eklatante Offenbarung des aggressiven antirussischen Kurses der USA“, wie Außenministeriumssprecherin Maria Sacharowa in einem Kommentar erklärte.

Warum überhaupt Streumunition statt gewöhnlicher Artilleriegranaten?

Doch warum verlegen sich die USA bei ihren Lieferungen jetzt überhaupt auf Streumunition, anstatt wie bisher gewöhnliche Artilleriemunition in die Ukraine zu schicken? LTO fragte dazu den Militärfachmann Dr. Gustav Gressel, Senior Policy Fellow des European Council on Foreign Relations (Berlin). Das Thema Streumunition habe aktuell zwei Dimensionen, eine militärische und eine politische:

„Militärisch stehen die Ukrainer vor dem Problem, dass die Produktion gewöhnlicher Artilleriemunition bei uns nur schleppend angelaufen ist“, so Gressel. Ein konventioneller Krieg führe zu einem immensen Verbrauch insbesondere von Artilleriegranaten: „Davon gibt es einfach zu wenig im Westen. Das gilt natürlich besonders für das sowjetische 152-mm-Kaliber, das die ukrainischen Streitkräfte weiterhin in großen Anteilen verschießen.“ Insoweit geht es also auch darum, Lücken in der bisherigen Munitionsversorgung zu schließen und die Ukraine überhaupt angriffs- und verteidigungsfähig zu erhalten.

Gressel erkennt in der Lieferung der Streumunition aber auch eine politische Dimension im Kontext des NATO-Gipfels in Vilnius: „Die Biden-Administration scheint eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine skeptisch zu sehen. Auch bei den dringend benötigten F-16-Kampfjets verhalten sich die USA sehr zögerlich, ja sogar bremsend. Um der beginnenden Frustration der Ukrainer etwas entgegenzusetzen, wollen die Amerikaner mit der Lieferung von Streumunition jetzt ein Signal der Stärke senden.“

Völkerrechtliches Übereinkommen über das Verbot von Streumunition

Die kritischen Stimmen erwecken teils den Eindruck, mit der Lieferung der Streumunition durch die USA und ihrem voraussichtlichen Einsatz durch die ukrainischen Streitkräfte sei völkerrechtlich etwas nicht in Ordnung. Bei dieser Munitionsart, die sich in viele kleinere sogenannte Bomblets zerlegt und damit auf größere Flächen wirkt, besteht in der Tat die Gefahr von Blindgängern, die später die Zivilbevölkerung gefährden können. Andererseits bietet sie mit diesen Eigenschaften eine gegenüber gewöhnlichen Artilleriegranaten deutlich erhöhte Wirksamkeit. Doch wie ist hier überhaupt die Rechtslage?

Richtig ist, dass das im Jahr 2008 ausgehandelte Übereinkommen über Streumunition ihren Einsatz, ihre Herstellung sowie ihre Weitergabe verbietet. Allerdings ist dieser völkerrechtliche Vertrag von lediglich 111 Staaten ratifiziert worden – darunter insbesondere nicht von den USA, der Ukraine sowie Russland. Auch im Völkerrecht gilt nach Art. 34 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WVK) der Grundsatz, dass Verträge nur die jeweiligen Parteien und nicht unbeteiligte Drittstaaten binden. So haben etwa auch China, Israel und Brasilien die Konvention nicht unterzeichnet.

Kein Streumunitionsverbot kraft Völkergewohnheitsrechts

Kann sich das Verbot von Streumunition dennoch bei der nicht unerheblichen Anzahl von 111 Signatarstaaten als Völkergewohnheitsgerecht durchsetzen? Im Gespräch mit LTO erklärte Dr. Ralph Janik, der an der Sigmund Freud Privatuniversität zu Völkerrecht und Krieg (Wien) forscht: „Mit dem Völkergewohnheitsrecht wird viel Schindluder betrieben. Oft genug steckt dahinter mehr Wunschdenken als Realität.“
Ob und wie ein Vertrag zur Entstehung einer völkergewohnheitsrechtlichen Regel führen kann, sei zwar eine spannende akademische Frage. Aber hier spreche klar dagegen, dass das Abkommen über Streumunition nur 111 Vertragsparteien hat. „Das ist zwar durchaus viel, aber eben keine überwiegende Mehrheit der Staaten. Außerdem müsste man Länder wie die USA und die Ukraine oder auch Russland und China wohl als ‚persistent objector‘ einstufen, die selbst bei einer bestehenden Regel nicht gebunden sind“, so Völkerrechtler Janik.

Unterscheidungsgebot beim Einsatz von Streumunition maßgeblich

Könnte ein ukrainischer Einsatz von Streumunition unabhängig davon auch gegen allgemeine Regeln des Kriegsvölkerrechts verstoßen? Ralph Janik weist gegenüber LTO auf das völkerrechtlich zwingende Unterscheidungsgebot hin, das die unterschiedslose Bekämpfung von Zivilisten und Kombattanten verbietet:

„Das ist eines der zwei Kardinalprinzipien des humanitären Völkerrechts. Zivilisten dürfen niemals gezielt angegriffen werden. Wenn sie indirekt von Angriffen betroffen sind, ist immer noch die Verhältnismäßigkeit zum militärischen Vorteil zu wahren. Übrigens sind nicht nur die Zivilisten des Gegners, sondern auch die ‚eigenen‘ geschützt. Die Ukraine hat aber bereits angekündigt, Streumunition nur dort einzusetzen, wo sich ausschließlich russische Soldaten befinden. Nach Ende der Kampfhandlungen sind die Gebiete zu räumen, um sie wieder bewohnbar zu machen. Das wird enorme Anstrengungen brauchen, weil sie bereits jetzt vom Krieg vollkommen verseucht sind.“ Der voraussichtliche Einsatz von Streumunition ist also nicht nur völkerrechtmäßig. Vielmehr wird man vor diesem Hintergrund auch davon ausgehen müssen, dass die ukrainische Führung sich hierfür nicht leichtfertig entscheidet.

Unterschiede des Einsatzes zwischen Russland und der Ukraine

Sowohl Russland als auch die Ukraine haben im gegenwärtigen Krieg schon Streumunition eingesetzt. Doch gibt es hier in der Tat beachtliche Unterschiede, wie Gustav Gressel gegenüber LTO erklärt: „Die ukrainischen Streumunitionsbestände waren und sind deutlich geringer als die russischen. Vor allem aber setzen die Ukrainer Streumunition nur gegen militärische Ziele ein, während die Russen damit auf Wohngebiete schießen und gezielt Zivilisten ins Visier nehmen. Das haben wir vor allem in Charkiw und Cherson gesehen, wo die Anzahl der zivilen Opfer hoch war.“

Gustav Gressel kommt auch auf das Problem der Blindgänger zu sprechen, die noch Jahre nach Ende der Kampfhandlungen zu zivilen Opfern führen können. So gebe es je nach Generation und Typ der Streumunition erhebliche Unterschiede bei der Blindgängerrate: „Bei der alten sowjetischen Munition reden wir von etwa 5 bis 40 % Blindgängern, wobei die Höhe im konkreten Fall wiederum sehr abhängig ist von der Härte des Untergrunds, auf den die einzelnen Bomblets aufschlagen. Bei den jetzt gelieferten Artilleriegeschossen westlicher Bauart ist dagegen von einer Blindgängerrate von etwa 2 bis 4 % auszugehen, auch hier abhängig vom Untergrund.“ Hinzu komme, dass die Zünder des gelieferten Typs DPICM M864 witterungsbeständiger seien als die sowjet-russischen Pendants. Das mache die spätere Räumung deutlich weniger gefährlich, die nicht explodierten Bomblets verhielten sich dann später nicht wie eine Mine.

Ethisch verwerflich?

Eine völlige andere Frage ist natürlich, wie man die US-Lieferung von Streumunition in Anbetracht der verbleibenden Risiken ethisch beurteilt. So appellieren nicht wenige Kritiker, ihr Einsatz sei wegen der Gefahren für die Zivilbevölkerung unabhängig von der völkerrechtlichen Zulässigkeit verwerflich. In vielen ukrainischen Ohren klingt derlei Kritik von der Seitenlinie allerdings wohlfeil:

„Der Aufschrei der Schein-Moralisten gegen Streumunition kommt ja nur, wenn die Ukraine sich verteidigt und nicht, wenn ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten mit russischer Streumunition ermordet werden“, so Krista-Marija Läbe. Sie ist Sprecherin von Vitsche, einem Verein junger Ukrainerinnen und Ukrainer, der ukrainischen Perspektiven in Deutschland Gehör verschafft. Läbe weist darauf hin, dass sämtliche Munition, eigene wie feindliche, fast ausschließlich auf ukrainisches Gebiet niederregnet. Sie fordert deshalb: „Überlasst die Risiko-Nutzen-Abwägung doch den betroffenen Ukrainerinnen und Ukrainern, die in der konkreten Situation Entscheidungen treffen und um ihr Überleben kämpfen müssen.“

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Juli 2023 | In Arbeit | Kommentieren

In der serbisch dominierten „Republika Srpska“ grassiert die Genozid-Leugnung trotz Verbot weiter, verurteilte Täter werden als Helden verehrt. So wird auch die diesjährige Gedenkveranstaltung in Srebrenica in einer Atmosphäre der Leugnung stattfinden. Weitere 30 Opfer werden von ihren Familien auf dem Friedhof in Potočari zu Grabe getragen. Die wenigsten der Skelette sind vollständig, da die Überreste der Opfer auf verschiedene Massengräber verteilt wurden, um die Verbrechen zu vertuschen. Bis heute wurden auf dem Friedhof in Potočari insgesamt 6.721 Opfer beerdigt, weitere 237 Opfer liegen auf Wunsch ihrer Angehörigen an anderen Orten.

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Juli 2023 | Allgemein, Essay, In vino veritas, Junge Rundschau, Kirche & Bodenpersonal, Politik | Kommentieren

Sollte es zu einem Atomkrieg kommen und die Bodenkommunikation des amerikanischen Militärs zerstört werden, gibt es als Back-up ein  «fliegendes Pentagon» /Bild). Auch Russland hat – was Wunder -seine Version der sogenannten Weltuntergangsflugzeuge. Seit Beginn des russischen Überfalls gegen die Ukraine ist das Schreckensszenario eines Atomkriegs realer geworden. Der russische Präsident und seine Entourage drohen jedenfalls regelmässig damit. I

 

 

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Juli 2023 | Allgemein, Essay, Gesundheit, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren

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