Max Horkheimer

Jürgen Habermyjpg

Theodor W- Adorno

 

 

 

 

Autoritarismus-Studien des IfS nach 1950 bezogen sich auf eine deutsche Gesellschaft, die im Grunde nie demokratisch gewesen war und in der sich eine Befürwortung des institutionalisierten Konflikts auch um grundsätzliche Fragen der gesellschaftlichen Gestaltung nie hat durchsetzen können. Was wir heute an autoritären Bewegungen und autoritären Versuchen der Krisenlösung erleben, findet vor dem Hintergrund von Jahrzehnten materialer demokratischer Entwicklung statt. Es gibt heute ein anderes soziales Fundament der Beteiligung an der gesellschaftlichen Debatte und den politischen Prozessen.

 

Das heißt?

Wenn jetzt das Autoritäre durchschlägt, dann nicht in einer soeben dem Nationalsozialismus entwachsenen Gesellschaft, sondern einer, die sich an die demokratischen Prozesse und Prozeduren gewöhnt hat und in vielerlei Hinsicht demokratische Formen wertschätzt, die aber zugleich doch zunehmend merkt, dass der bisherige Modus politischer Regulierung und staatlicher Intervention nicht mehr so richtig greift. Es zeigt sich, dass die Ökonomie dieser Gesellschaft neben ihrer immensen Produktivität auch massive destruktive Folgen zeitigt. Wenn die Rechte jetzt gegen Wirtschaftsminister Habeck Position bezieht, ist es selbst den Kritikern klar, dass es eine Energiewende und eine ökologische Transformation wird geben müssen. Aber sie können es ihrer Klientel nicht sagen. Das ist ihr eigentliches Dilemma und der Hintergrund ihrer öffentlichen Verleugnung des Unvermeidbaren.
Horkheimer und Adorno schrieben eher wie Philosophen, nicht wie empirische Forscher, heute steht eher die empirische Sozialforschung im Vordergrund der Arbeit des Instituts?
Ich würde die Trennlinie nicht so scharf ziehen. Adorno hat nicht nur philosophiert, sondern auch an empirischen Studien – etwa zum autoritären Charakter – mitgewirkt. Er hat eine Art Doppelleben geführt eines Autors, der einerseits nicht ohne weiteres dem Normalsterblichen verständlich war, der aber andererseits öffentlicher Soziologe und Philosoph war, der über seine Radiobeiträge durchaus auch Breitenwirksamkeit erfahren hat, natürlich erstmal in einem Milieu, das für Intellektualität und Gesellschaftsanalyse offen war.

Ein Denker fürs Volk?

Seine Breitenwirksamkeit war nicht allein seinen wissenschaftlichen Texten geschuldet, sondern auch einer bestimmten Art, die Öffentlichkeit zu adressieren. Allerdings war die Struktur der Öffentlichkeit damals so, dass solche Stimmen eher Gehör finden konnten als heute, wo der öffentliche Diskurs fragmentierter und technologisch ganz anders vermittelt ist. Dennoch, auch heute ist es zentrales Motiv unserer Arbeit, dass soziologische Forschung, die Ergründung der Empirie, verkoppelt wird mit ihrer Theoretisierung, mit sozialphilosophischer Reflexion. Dafür war das Institut immer ein Musterbeispiel.

Würden Horkheimer, Adorno oder Habermas den Weg, den das Institut heute geht, genauso gehen?

Nun ja, wohl kaum. Sie haben alle ihre eigene Geschichte. Horkheimer ist am Ende seines akademischen Lebens sehr konservativ geworden und hat eher eine fatalistische Attitüde gepflegt. Adorno war demgegenüber eher der offenere, in aller Gebrochenheit optimistischere Typ, der bei aller Dialektik der Aufklärung, die er bis zum Ende sah, immer noch nach der Möglichkeit der Emanzipation von den gesellschaftlich herrschenden Verhältnissen gesucht hat.
Und Habermas?

Er war zu Beginn seiner Frankfurter Phase Materialist und Marxist. Den Materialismus hat er später tendenziell hinter sich gelassen und eine, wenn man so will, kulturalistische Wendung genommen. Vermutlich ist das, was in den nächsten Jahren von diesem Haus zu erwarten ist, weder auf der Linie von Adorno, Horkheimer oder Habermas, greift aber trotzdem auf Elemente ihres Denkens und Handelns zurück. Es steht also keine einseitige Ablösung von der Tradition an.
Was ist demnach heute vom IfS zu erwarten?

Es geht darum zu zeigen, dass hier Sozialforschung stattfindet, die gesellschaftstheoretisch gedeckt und produktiv ist.

Das Institut wird für gewöhnlich nur als Theorie-Stätte wahrgenommen, weniger als eine Einrichtung, die sich empirisch mit den Verwerfungen der Gegenwartsgesellschaft beschäftigt. Das IfS wird sich auch zukünftig den relevanten Fragen der Gesellschaft, ja ihren schlechthin existenziellen Problemen widmen. Und dies nicht nur aus der wissenschaftlichen Distanz, sondern im Sinne einer vergesellschafteten Forschung, die sich nicht außerhalb der gesellschaftlichen Geschehnisse stellen kann. Einer immer drohenden Nabelschau der kritischen Theorie ist auch dadurch zu begegnen, dass der Blick im Sinne einer globaleren Perspektive geweitet wird.
Vor 100 Jahren tagte die marxistische Arbeitswoche, nun gab es eine große Konferenz dazu in Frankfurt. Ist die damalige Arbeitswoche so etwas wie der Startschuss des westlichen Marxismus gewesen?
Von den Diskussionen im Jahr 1923 ist kaum etwas überliefert. Man kennt die Einladungen und das Programm, doch was dort wirklich passiert ist, welche Debatten geführt wurden, welche nicht, ist nicht dokumentiert. Und der „westliche Marxismus“ ist ja erst im Nachhinein als solcher identifiziert worden. Allerdings kann das Institut in dieser Hinsicht durchaus als zentraler Akteur gelten, auch später wurde unter dem virtuellen Dach des Instituts für Sozialforschung den Fragen der Zeit aus einer marxistischen Perspektive nachgegangen. Aber es wäre wohl vermessen, von unserer Seite, der des IfS, zu reklamieren, Kern und Quell des westlichen Marxismus, einer unheimlich vielfältigen und reichhaltigen Denk- und Analysetradition, gewesen zu sein.

Es scheint heute eine Dominanz der politischen Rechten zu geben. Zumindest wählen viele eher rechts als links. Ist alles vom Tisch, was vor 100 Jahren in den Arbeitswochen diskutiert worden ist?
Natürlich sind die kritisch-theoretischen Bemühungen auch jeweils Kinder ihrer Zeit. Und 1923, mit dem Beginn, zumindest in der späteren Rekonstruktion, der Frankfurter Schule, stand eigentlich die gescheiterte Revolution 1918/19, die Niederlage der Arbeiterklasse in den Kämpfen um die Gestaltung der Gesellschaft auf der Tagesordnung. Ein wesentlicher Teil der marxistischen Arbeitswoche und überhaupt der kritischen Theoriebildung der späten 1920er und frühen 30er Jahre war ja, sich der Gründe zu vergewissern, warum das Begehren nach radikaler Veränderung und einer anderen Gesellschaftsformation gescheitert ist.

Zur Person

Stephan Lessenich  (Biöd) , geb. 1965, ist Direktor des Instituts für Sozialforschung und hat eine Professur für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt inne.
Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf den Feldern: Kritische Theorie(n) der Gesellschaft, Politische Soziologie sozialer Ungleichheit,
Theorie und Empirie wohlfahrtsstaatlicher Vergesellschaftung.
Das IfS feiert in diesem Jahr sein 100-jähriges Bestehen. Im September ist eine große internationale wissenschaftliche Konferenz geplant.

Wie entwickelt sich das später?

In den 1930er und 40er Jahren und zu Beginn der Bundesrepublik galt die Frage der kritisch-theoretischen Bemühungen eher den Entstehungsbedingungen und dem latenten Fortleben des Faschismus: In welcher Weise sich bestimmte Herrschaftsverhältnisse nicht nur gewaltsam durchsetzen, sondern auch in die Herzen und Hirne der Leute eindringen konnten und so kollektive Gefolgschaft für sich reklamieren und gewinnen konnten. Anfang der 1950er und bis in die 60er Jahre stand dann die Frage im Zentrum, wie man vor dem Hintergrund einer nationalsozialistisch geprägten Gesellschaft nun in der Bundesrepublik davon ausgehen konnte, dass sich dennoch demokratische Strukturen und Mentalitäten herausbilden.
Und heute?

Ist weniger die gescheiterte Arbeiterrevolution der Bezugspunkt kritischer Theoriebildung, sondern die scheinbar scheiternde Transformation hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft, also einer Gesellschaft, die nicht systematisch ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstört. Ich glaube, da sind Einsichten und Begrifflichkeiten früherer kritischer Theorie durchaus noch einschlägig, denn so oder so geht es um die Frage der Möglichkeit oder Unmöglichkeit postkapitalistischer Verhältnisse. Aber selbstverständlich stellen sich die Fragen von Reproduktion oder Transformation gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnissen heute auf eine ganz andere Weise als vor 100 Jahren.
Damit ist die kritische Theorie also nicht vom Tisch?
Nein, wie auch. Es geht mal wieder auch darum, die Niederlagen der Linken zu verstehen. Es gilt zu verstehen, warum im Angesicht der offensichtlich notwendigen Transformation konservative bis reaktionäre, teils auch proto-faschistische Akteure und Bewegungen die Oberhand haben.

In den 1920er Jahren gibt es starke Konflikte zwischen der politischen Linken und der Rechten.
Das sieht man heute kaum noch.

 

Das Ende und auch die Form des Endes des Systemwettbewerbs dürften da durchaus bis heute eine Rolle spielen. Der Real- oder Staatssozialismus ist für alle linken Positionen, nicht in Detailfragen, aber in Bezug auf die große Frage, was nach dem Kapitalismus für eine Gesellschaftsform kommen könnte, eine Riesenhypothek. Dass sozialistische Vorstellungen von gesellschaftlichem Zusammenleben, von Produktion und Arbeit, so stark delegitimiert in der öffentlichen Meinung und in der Sichtweise von breiten Bevölkerungskreisen im Westen sind, ist ein gewaltiger Startnachteil für nach-sozialistische Positionen im Hinblick auf die Gestaltung gesellschaftlicher Umgestaltung. Rechte politische Bewegungen sind überraschender Weise nicht in gleicher Weise delegitimiert, das muss man erstmal zur Kenntnis nehmen.
Nach der Wende hörte man von links erst einmal nichts mehr.

Die Linke, der westliche Marxismus war in eine tiefe Krise geraten und hat sich ein oder zwei Jahrzehnte mit Überlegungen,
wie gesellschaftliche Transformationen praktisch-politisch zu gestalten seien, zurückgehalten.

 

Ja, in den ersten beiden Dekaden nach dem Fall der Mauer wird man der Linken wohl eine schlechte Performanz vorhalten können, die freilich historisch nachvollziehbar ist. Und heute fällt es durchaus schwer, das nicht Geleistete nachzuholen. Und das in einer Zeit, in der die Krisenphänomene so vielfältig und so akut sind, wo linke Positionen unbedingt gefordert sind. Rechte Akteure und Akteurinnen haben immer nur die gleichen Angebote, sie verfangen jedoch politisch: Abschottung nach außen, Homogenisierung nach innen. Das sind offensichtlich gesellschaftlich akzeptable Vorstellungen, wie man krisenhaften Momenten begegnet.
Von welcher Krise sprechen Sie?
Ich habe Krisenerscheinungen aus den letzten anderthalb Jahrzehnten vor Augen, die vielleicht teilweise als bewältigt gelten, die aber zweifellos fortleben und darin auch immer wieder in den öffentlichen Blick geraten. Das fängt mit der Finanzmarktkrise an. Erst jüngst haben wir in den Vereinigten Staaten gesehen, dass diese als Bankenkrise keineswegs beendet ist und jederzeit wieder aufflammen kann. In Deutschland hat sich die Finanzmarktkrise weniger ins Kollektivgedächtnis eingebrannt, sie war hingegen im Süden Europas sehr akut, beispielsweise im Immobiliensektor, in den Wohnverhältnissen der Leute oder auch im Gesundheitswesen für breite Bevölkerungskreise existenziell spürbar. Das hat auch für die Frage, wen man in der jeweils nächsten Runde wählt, einen ganz starken Effekt gehabt. Für die Bundesrepublik hat sich eher die Migrationsfrage als eine strukturelle Krise herausgestellt, was man gegenwärtig ja am auch von Deutschland gestützten europäischen Asylkompromiss sieht. Man will der Migration mit Festungskapitalismus, mit der Verlagerung der Grenzen nicht nur an den Rand der EU, sondern weit weg bis auf den asiatischen und afrikanischen Kontinent begegnen.

Man schottet sich ab.

Gewiss, sich unerwünschte Zuwanderung möglichst weit vom Leib entfernt zu halten, erfreut sich großer Beliebtheitswerte, auch jenseits des rechten Milieus. Auch unter Grünen akzeptiert man diesen Asylkompromiss, um Europa irgendwie noch am Laufen zu halten, sogar in dem Wissen, dass man seine humanitären Grundsätze elementar verletzt. Und zugleich natürlich für die „richtige“ Zuwanderung von Fachkräften votiert. Von der Klimakrise müssen wir kaum reden, sie ist nicht akut, aber sie wird gewaltig kommen, und alle wissen das. Und nicht zuletzt durch die Entwicklung des Krieges in der Ukraine wird klar, dass die Dinge nicht mehr so sind, wie sie einmal waren.
Die Rechten sprechen Emotionen stark an: Was hat die linke Theorie dem Programm der Rechten entgegenzusetzen?
Der Erfolg von rechten Angeboten liegt nicht nur darin, dass sie ausbeutbare Emotionen und Affekte wecken, sondern es werden auch knallharte Interessen angesprochen. Eine Bevölkerungsmehrheit in den reichen Industrieländern weiß, was sie zu verlieren hat durch die „falsche“ Migration oder durch wirklich durchgreifende Maßnahmen gegen den Klimawandel, durch ein radikal anderes Energieregime dieser Gesellschaft oder ein Ende des Wachstumskurses und die Forderung nach Verzicht. Seinen eigenen Lebensstandard zu verlieren, kann rationaler Weise niemand wollen. Wenn sich dann jemand anbietet, diesen zu schützen, wie die politische Rechte, ist das erst einmal ein attraktives Angebot. Jene politische Linke, die in Deutschland den größten Anklang findet, ist eine Position nach Art von Wagenknecht, die genau diese Karte spielt: Die nach Selbsteinschätzung berechtigten Interessen der gesellschaftlichen Kern-Milieus zu wahren und ihnen zu vermitteln, dass sich diese mit einer linken Position gut vereinbaren lassen. Eine davon sich abgrenzende linke Position müsste zeigen, wie unsere alltägliche Lebensführung und unsere gesellschaftliche Normalität abhängig sind von Voraussetzungen, die anderswo erbracht werden müssen, und von Folgen, die wir entweder nicht wahrhaben wollen oder immer noch einigermaßen von uns fernhalten können. Wir leben in einer Gesellschaft, deren Freiheiten davon abhängig sind, anderen Unfreiheit zuzumuten. Das kann man nicht oft und klar genug sagen.

Jul 2023 | Allgemein, Essay, Feuilleton, Junge Rundschau, Senioren, Wissenschaft | Kommentieren