Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin (links) ist ein mächtiger Mann in Russland.

Der ehemalige Marineoffizier Peer de Jong hat sich intensiv mit Privatarmeen auseinandergesetzt. Es gehe deren Gründern nicht zuletzt darum, politische Macht zu bündeln, erzählt er im Interview. „Je größer die Dekadenz im Land, desto mehr blühen solche Sicherheitsfirmen“, sagt er in Hinsicht auf Russland. Wagner, einst eine dubiose russische Söldnerarmee, ist binnen kurzem ein Machtfaktor im Krieg in der Ukraine geworden. Wie ist es dazu gekommen?

De Jong: Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin verfügt nicht zuletzt wegen seiner lukrativen Aktivitäten in Afrika über gewaltige Geldmittel. Er war in der Lage, in wenigen Monaten Tausende von Männern zu rekrutieren und damit im umkämpften Bachmut in der Ostukraine einen Umschwung herbeizuführen. Die reguläre russische Armee war in Bachmut in der Defensive. Um die Initiative zurückzugewinnen, schlug Prigoschin vor, eigene Truppen ins Feld zu schicken. Das Unterfangen ist gelungen.

… was in Moskau nicht nur wohlwollend aufgenommen wurde.

De Jong: Prigoschin kommuniziert pausenlos, er kritisiert die Armee, den Kreml, auch die Armee. Auch kommt er in der öffentlichen Meinung in Russland gut an. Das sehen nicht alle gern, auch im Kreml nicht.

Auch Putin nicht?

De Jong: Putin ist natürlich froh über den Erfolg von Wagner, aber er stört sich an Prigoschins Kritik. Würde der Wagner-Chef den Mund halten, hätte ihn Putin wohl an der Front weitermachen lassen. Auch muss man sich fragen, ob Prigoschin ein politisches Projekt verfolgt und bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2024 in Russland antreten will. Seine Pläne hängen sicher vom Fortschritt der ukrainischen Gegenoffensive ab. Gelingt es Verteidigungsminister Sergej Schoigu, sie zum Stoppen zu bringen, stärkt er seine Stellung. Wenn nicht, könnte ihm Prigoschin den Rang ablaufen.

Wie muss man sich die Wagner-Truppen vorstellen? Als eine Bande von Kriminellen, die Prigoschin teils direkt in Gefängnissen anwarb?

De Jong: Es wäre sicher ein Fehler, Wagner als einen bloßen Verbund von 40.000 Barbaren zu sehen, auch wenn in seinen Reihen Rohlinge und gar Mörder kämpfen. Hingegen wirkt diese Privatarmee – wie die reguläre russische Armee – schlecht organisiert und kommandiert. Es fehlt an Berufsmilitärs. Das schafft eine Menge Führungs- und Logistikprobleme. Und es ist bekannt: Wenn eine Armee mit solchen Problemen kämpft, nimmt rasch die Gewalt überhand. Diese Gewalt ist auch im russischen Militär verbreitet – die Kriegsverbrechen in Butscha waren schließlich kein Werk von Wagner, sondern russischer Armeeeinheiten.

Experten sprechen bereits von einer Wagnerisierung des Krieges.

De Jong: Das halte ich für übertrieben. Wagner ist nicht übertragbar auf andere Länder. Prigoschin fabrizierte mit seinen Milliarden ein sehr eigenes Modell. Es ist zudem sehr russisch, kann nur in Russland funktionieren.

Wagner exportiert sich aber auch, vor allem nach Afrika. Mit Erfolg?

De Jong: In Mali unterstützen Wagner-Söldner die reguläre malische Armee. Sie haben nicht mehr oder weniger Erfolg als die französische Armee, die von der Junta aus dem Land geworfen wurde. Die Jihadisten halten sich weiter in der Wüste, auch wenn es ihnen bisher nicht gelungen ist, die Hauptstadt Bamako zu erobern.

Und wie schlägt sich Wagner im übrigen Afrika?

De Jong: Sein Einfluss geht von Mali über die Zentralafrikanische Republik und Libyen bis nach Mosambik, neuerdings sogar in die Demokratische Republik Kongo. Prigoschin beschützt die Machthaber und füllt sich die Taschen mit Rohstoffgewinnen. Er spielt Putins Afrika-Diplomatie in die Hände, auch wenn er sich als Privatfirma gibt. Wagner ist auch in Afrika ein Auswuchs des russischen Staates. Wenn Putin Prigoschin schalten lässt, dann auch aus diesem Grund. Putin bereitet zwei wichtige Gipfeltreffen vor – im Juli mit den Afrikanern, im August mit den Schwellenstaaten in Südafrika. Und Wagner ist dabei ein Werkzeug für die russische Diplomatie. Diese Privatarmee erlaubt es den Russen, alle möglichen Schandtaten zu begehen, sich aber die Hände reinzuwaschen und zu sagen: „Wagner ist ein Privatunternehmen und hat nichts mir dem russischen Staat zu tun.“

Wie entstand eigentlich der Trend zu diesen „privaten Militärfirmen“, auf Englisch „Private Military Companies“ (PMC) genannt, die Sie in Ihrem Buch beschreiben?

De Jong: Nach dem Fall der Berliner Mauer gingen die westlichen Verteidigungsetats zurück. In der Bush-Administration begannen Dick Cheney und Donald Rumsfeld, gewisse Armeetätigkeiten aus Kostengründen auszulagern. Nicht die Kriegsführung selbst, aber logistische und Sicherheitsaufgaben.

Beteiligte sich denn die einst wichtigste Unternehmung Blackwater im Irak oder Afghanistan nicht an Kampfhandlungen?

De Jong: Nicht direkt. Blackwater hat sich allerdings in der Zwischenzeit selbst erledigt. Das Unternehmen wurde schon achtzehnmal weiterverkauft!

Und „Mozart“, von einem Amerikaner in Abgrenzung zu „Wagner“ gegründet, nachdem der Krieg in der Ukraine begonnen hatte?

De Jong: Mozart galt als „smarte“ Militärfirma, die aus freiwilligen Westkämpfern bestand und auch bei Evakuierungen und dergleichen mithelfen wollte. Zu Beginn dieses Jahres musste sie aber aus finanziellen und operationellen Gründen den Betrieb einstellen. Vielleicht auch, weil die Amerikaner nicht wollen, dass irgendwelche Amerikaner in die Kämpfe verstrickt würden.

„Mozart“ war also ein Sonderfall?

De Jong: Ja. Daneben gibt es in den USA aber noch Hunderte von Sicherheitsfirmen. Die größten vier, darunter Caci, setzen Milliarden um.
Wo sind diese Firmen außerhalb der USA aktiv?
De Jong: In allen größeren Ländern, vor allem in den USA, Großbritannien oder Australien, aber auch in China oder Frankreich, dazu in Schwellenstaaten wie der Türkei …

… und natürlich in Russland?

De Jong: Ja, Putin begann ab 2013, das US-Modell zu kopieren. Er schlug dem russischen Parlament sogar vor, den Aufbau privater Söldnerarmeen zuzulassen, doch die Duma lehnte 2018 ab. Deshalb segelt Wagner unter dem Etikett einer privaten Sicherheits- und Ausbildungsfirma. Das ist umso absurder, als Wagner in Afrika vollständig unter der Kontrolle des russischen Geheimdienstes steht. In Wahrheit geht Putin dort noch weiter als die Amerikaner, die private Militärfirmen wie gesagt von den Kampfhandlungen ausschließen. Wagner mischt voll mit – aber wenn das dem russischen Außenminister Sergej Lawrow in Afrika vorgehalten wird, sagt er, sein Land habe nichts mit Wagner zu tun.

Wie viele andere russische „Privatfirmen“ gibt es abgesehen von Wagner?

De Jong: Laut einer Geheimdienststudie sind in Russland heute 30 bis 40 solcher Unternehmen tätig. Die meisten sind viel diskreter als Wagner. Sie bestehen zum Teil seit langem zur Sicherung russischer Konzerne an gefährlichen Orten Afrikas oder in Syrien. Sie schützen oft maritime oder Ölinteressen Russlands.

Nehmen diese russischen „Privatfirmen“ wie Wagner am Krieg in der Ukraine teil?

De Jong: Das ist nicht immer klar. Von Potok, einer Militärfirma des Energiekonzerns Gazprom, weiß man das nicht so genau. Die Militärfirmen Enot oder Redut mit jeweils mehreren Tausend Mann sind dagegen zweifellos beteiligt. Genauso wie kosakische Spezialeinheiten oder die tschetschenische Einheit Achmat. Sie kommen aber nicht im Ansatz an die Größe und Schlagkraft von Wagner heran. Prigoschin hat versucht, in Bachmut all diese privaten oder halbprivaten Einheiten zu bündeln.

Unter seinem Kommando?

De Jong: Natürlich. Ihm geht es nicht als Einzigem darum, eine ihm ergebene Truppe zu schaffen. Ein solches Instrument verschafft dem jeweiligen Gründer in dem verfallenden Staatswesen Russlands politisches Gewicht. Je größer die Dekadenz im Land, desto mehr blühen solche Sicherheitsfirmen. Auch Provinzgouverneure schaffen in Russland kleinere Einheiten, wenn sie das Geld dazu haben. Ihr Ziel ist zuerst, sich und ihre Familien zu schützen. Aber sie denken auch an zukünftige Auseinandersetzungen um die Macht in einem Staat, in dem die Gewalt mehr und mehr die bestehenden Strukturen ersetzt.

Keine schönen Aussichten …

De Jong: Zumal aus diesen Firmen schnell einmal Milizen werden können und aus den Lokalpotentaten Kriegsherren. Auch Verteidigungsminister Schoigu hat eine kleine Miliz namens Patriot gegründet. Ihre Größe steht in keinem Verhältnis zu Wagner. Aber sie ist ausbaubar. Und mit dem schwindenden Vertrauen in den Staat dürfte es immer häufiger vorkommen, dass einzelne Regenten oder seine Familie eine persönliche Schutztruppe aufbauen.

Wie steht Putin dazu?

De Jong: Putin sucht die Rolle dieser Firmen, Milizen oder Spezialeinheiten einzuschränken, um zu verhindern, dass sie ihm gefährlich werden könnten. Vermutlich hat er in Bolgorod aus diesem Grund nicht Wagner eingesetzt, sondern Tschetschenen, die über ihren Chef Ramsam Kadyrow zu ihm halten.

Peer de Jong war Oberst der französischen Marine. Er leistete Dienst auf Schauplätzen in Bosnien und Afrika und bildete Blauhelme aus. Von 1994 bis 1997 war er mit Unterbrechungen Adjutant der französischen Präsidenten François Mitterrand und Jacques Chirac. Seither betätigt er sich als Politologe, Autor und Berater. Zuletzt erschien von ihm (auf Französisch) „Zwischen den Linien“ über das Phänomen privater Militärfirmen wie Wagner, Blackwater oder Mozart.

Juni 2023 | Allgemein, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude | Kommentieren