Recep Tayyip Erdogan hat die Wahlen in der Türkei wieder gewonnen. Der Wahlsieger hatte sich in seiner Rede zum Wahlsieg stets mokiert über die westliche Presse – zum Beispiel der britische „The Economist“ – gegen ihn ausgesprochen hatte. Tatsächlich sieht ein wirtschaftlicher Zusammenbruch aber anders aus. Die türkische Währung kennt derzeit zwar nur eine Richtung, nämlich abwärts.  Der große Knall aber, mit dem viele gerechnet hatten, ist zunächst ausgeblieben. Der Leitindex notierte am Montag und Dienstag nach der Wahl im Plus – und zwar ordentlich: Insgesamt zehn Prozent stieg der BIST 100 (Borsa Istanbul 100 Index) seit vergangenem Freitag. Die türkische Lira verlor wie erwartet an Wert und notiert seit dem Sieg Erdogans knapp vier Prozent schwächer – allerdings ist auch das eine erwartbare Schwäche und kein Währungskollaps. Wie also geht es weiterTatsächlich könnte der Grund für die aktuelle Erholung an den Börsen das Ende der Unsicherheit sein. „Positiv muss man sehen: Man weiß, was man kriegt“, sagt Hasan Alkas, Professor für Mikroökonomie mit dem Schwerpunkt internationale Märkte an der Hochschule Rhein-Waal in Kleve. Trotz Parteimitgliedschaft in der Oppositionspartei CHP hat er einen eher unaufgeregten Blick auf die wirtschaftliche Situation in der Türkei: Erdogan werde weiterhin versuchen, das Land mit niedrigen Zinsen auf Wachstumskurs zu bringen. „Das führt zu einem halb-planwirtschaftlichen Mix aus Preisobergrenzen und Devisen-Interventionen, den man aus den vergangenen Jahren bereits kennt.“

Strukturell steckt die Türkei in einer ähnlichen Misere wie viele Schwellenländer.

Das Land importiert mehr, als es exportiert. Da diese Importe (neben Konsumgütern aus der EU geht es vor allem um Öl und Gas aus Russland) mit US-Dollar bezahlt werden müssen, steht die Lira ständig unter Abwertungsdruck. Helfen könnten hohe Leitzinsen: Diese würden das Land für internationales Kapital attraktiver machen, und dieses sogenannte „hot money“ könnte den Wert der Lira stabilisieren. Dass Leitzinsen oberhalb der Inflation liegen müssen, damit die Preissteigerungen zurückgehen, ist Konsens unter den meisten Zentralbankern der Welt.

„Erdoğan geht die Munition aus,
um die Wirtschaft weiter anzukurbeln“

Warum sich der alte und neue Präsident mit Händen und Füßen gegen höhere Leitzinsen wehrt, dafür gibt es verschiedene Erklärungsversuche. Manche meinen, Erdogan hänge islamisch beeinflussten Wirtschaftstheorien an, wonach Zinsen generell etwas Schlechtes seien, und man deswegen am besten gleich darauf verzichte. Tatsächlich gibt es im Islam (wie im Christentum) ein Zinsverbot, das allerdings stark aus der Zeit gefallen ist. Erdogan versteht es zwar, religiöse Wähler zu motivieren, gilt aber eigentlich als zu pragmatisch, um in ökonomischen Belangen dem Koran zu folgen.

Und selbst in den westlichen Wirtschaftswissenschaften gibt es – eher als abseitig geltende – Theorien, wonach hohe Zinsen nicht eine hohe Inflation bekämpfen, sondern sie verursachen. Zumindest müsste die Empirie Erdogan mittlerweile eines Besseren belehrt haben: Die Inflation erreichte im vergangenen Jahr einen Spitzenwert von 80 Prozent. Aktuell liegt sie bei knapp 40 Prozent.

Erdogan und die Türkei stecken in einem Dilemma

Wahrscheinlicher ist, dass Erdogan und mit ihm das ganze Land schlicht in einem Dilemma steckt: Erhöht die türkische Zentralbank jetzt die Zinsen, bekommen Unternehmen Zahlungsschwierigkeiten, und es werden weniger Kredite aufgenommen. Zur Inflation und schwacher Währung käme dann auch noch Arbeitslosigkeit hinzu. Die meisten Politiker wählen in diesem Dilemma lieber die hohe Inflation anstatt die Arbeitslosigkeit. Letztere führt nämlich viel schneller zu Protesten und Demonstrationen. Eigentlich hat man in funktionierenden Demokratien deswegen eine unabhängige Zentralbank, die sich der Geldwertstabilität verpflichtet fühlt und nicht politischen Weisungen folgt. Unabhängig aber ist die türkische Zentralbank schon lange nicht mehr.
In den vergangenen Monaten hat die türkische Zentralbank stets kurzfristig agiert und mit Stützungskäufen den Kurs etwas stabilisiert. Das aber hatte den Effekt, dass die Reserven nun aufgebraucht sind.

Hätte die Opposition die Wahlen gewonnen, wäre eine Rückkehr zu einer ‚orthodoxen Geldpolitik‘, sprich höhere Zinsen, und einer unabhängigen Zentralbank denkbar gewesen. Außerdem hätten vermutlich internationale Investoren die Chance ergriffen, um wieder in das Land zu investieren.

Lira: Niemand glaubt an eine Erholung

Dass die Lira stabil bleiben oder sogar steigen könnte – daran glaubt derzeit niemand. Morgan Stanley rechnet damit, dass die türkische Währung bis zum Jahresende um rund ein Drittel auf 28 pro Dollar fallen wird. In der Türkei ansässige deutsche Unternehmen sind seit Jahren an dieses Umfeld gewöhnt: „Das hat zwei wirtschaftliche Effekte“, erklärt Dr. Thilo Pahl von der deutschen Handelskammer in Istanbul. „Auf der einen Seite würde eine solche Abwertung der exportorientierten Industrie helfen, die preisliche Wettbewerbsfähigkeit ihrer Produkte zu verbessern. Auf der anderen Seite dürfte die zu erwartende Abwertung der Lira aber den Inflationsdruck wieder verschärfen, denn die Türkei ist abhängig von Energieimporten und Vorleistungsgütern.“

Nach wie vor habe das Land zahlreiche positive Faktoren für Unternehmen, betont Pahl von der AHK. „Unsere Umfragen bei den deutschen Unternehmen vor Ort zeigen, dass es grundsätzlich eine positive Investitionsbereitschaft gibt. Jedoch haben in den letzten Monaten Finanzierungsprobleme und steigende Arbeitskosten das Investitionsklima verschlechtert. Unternehmen, die neu in der Türkei investieren wollen, würden vermutlich erst einmal vorsichtiger sein und die weitere Entwicklung abwarten.“ Immer wieder aber geht es um die Geldpolitik. Nur in einem stabileren Umfeld für die türkische Lira könnten sich diese Faktoren auch entfalten.

Juni 2023 | Allgemein, Essay, In vino veritas, Politik, Wirtschaft | Kommentieren