Der Filmd“ taucht Nan Goldins Kampf gegen den Pharmakonzern der Sacklers in ein goldenes Licht, das an das gegenkulturelle New York der 1970er und 1980er erinnern soll. Doch die Instant-Nostalgie des Films kann nicht verschleiern, dass Goldin und Poitras weniger an politischen Auswegen aus der Opioid-Krise interessiert sind als an einer glamourösen Inszenierung von Kapitalismuskritik. Manchmal sind es vermeintliche Kleinigkeiten, die einen im Kino auf die Palme bringen.Im Fall von „All the Beauty and the Bloodshed“ und mir war es zum Beispiel das klackernde Geräusch, das Diaprojektoren beim Wechseln der Bilder produzieren. Oder eben: produziert haben, damals, als analoge Durchlichtbilder noch mithilfe von stets ein wenig unförmig anmutenden Vorführgeräten an die Wand geworfen wurden. Eine digitale Slideshow hingegen, schon gar eine, die in einen gleichfalls digital produzierten Dokumentarfilm eingebaut ist, benötigt derartige Begleitgeräusche nicht. Wenn sie dort doch auftauchen, wie, eben, in „All the Beauty and the Bloodshed“, Laura Poitras‘ filmischem Porträt der Künstlerin und Aktivistin Nan Goldin, dann ist das ungefähr dasselbe wie das künstlich erzeugte „Klicken“ digitaler Fotoapparate beim Betätigen des Auslösers: ein zumindest unterschwellig lächerlicher Substitutionseffekt, der einen Widerstand in der physischen Welt simuliert (und damit vielleicht auch unsere Kontinuität mit dieser), wo tatsächlich nur Nullen und Einsen sind.
Wie gesagt: eine Kleinigkeit. Aber vielleicht ja eine sprechende. Die Intensität des Kritikerbeifalls und Preisregens, mit der „All the Beauty and the Bloodshed“ seit seiner Premiere auf den Internationalen Filmfestspielen von Venedig im letzten Jahr überhäuft wird, irritiert mich jedenfalls nachhaltig, angesichts eines dokumentarischen Modus, der mit Hagiografie noch zu freundlich bezeichnet wäre.
Das Ganze ist durchaus geschickt konstruiert
Beauty und Bloodshed, Kunst und Aktivismus: Dass beides nicht voneinander zu trennen ist, dass Kunst aus Aktivismus entstehen und vielleicht auch wieder in Aktivismus zurückverwandelt werden kann, wenn nicht gar muss, diese Lektion scheint sich aus Goldins Leben fast wie von selbst zu ergeben. Poitras extrahiert sie in einer Doppelbewegung: Ihr Film springt hin und her zwischen einer biografischen Rückschau auf Goldins Lebensweg – die repressive Vorstadtkindheit und der Selbstmord ihrer Schwester als frühes Lebenstrauma, die prekäre Freiheit in der queeren New Yorker Gegenkultur der 1970er, die AIDS-Epidemie als Schlüsselerlebnis für eine politisch bewusste Kunstpraxis – und ihrem Aktivismus in der Gegenwart.
Letzterer nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Erkenntnis, dass nicht nur im transgressiven New Yorker Untergrund der gefährlichen Achtziger, sondern auch in der hochkapitalisierten Kunstwelt unserer Tage Beauty nicht zu haben ist ohne Bloodshed. Beziehungsweise: nicht ohne die Familie Sackler. Der milliardenschwere Sackler-Clan war lange Jahre dank seines großzügigen Mäzenatentums allgegenwärtig in den großen Museen dieser Welt. Sein Vermögen verdankt er zu weiten Teilen der Arzneimittelfirma Purdue Pharma, die, aufgrund ihrer aggressiven Marketing- und Lobbyaktivitäten rund um das von ihr vertriebene Schmerzmittel OxyContin, als mit- oder gar hauptverantwortlich gilt für die immer weiter eskalierende Opioidkrise in den USA. Auch Goldin wäre OxyContin fast zum Opfer gefallen; sie überlebte ihre Sucht und organisierte ab 2017 gemeinsam mit Gleichgesinnten spektakuläre Protestaktionen in von Sackler-Geld unterstützten Museen.
„All the Beauty and the Bloodshed“ negiert die Differenz zwischen Film und Gegenstand
Poitras identifiziert sich offensichtlich komplett mit Goldin und deren Engführung von Kunst, Aktivismus und Leben. Das ist für sich allein noch nicht das Problem des Films. Tatsächlich beruhte Poitras‘ dokumentarische Methode schon bei vorherigen Filmen auf einem durchaus strategischen Mangel an Distanz. In ihren Filmen über Edward Snowden („Citizenfour“, 2014) und Julian Assange („Risk“, 2016) zeitigte gerade diese Überidentifikation eine produktive Spannung – weil die porträtierten Herren Poitras‘ Annäherungsversuchen nie ganz auf Augenhöhe begegneten.
Goldin und Poitras sind hingegen offensichtlich ein Herz und eine Seele.
Auch das ist freilich noch nicht das Hauptproblem. Was den Film zu dem Ärgernis macht, als der er zumindest mir erscheint, ist vielmehr, dass er das totale Einverstandensein seines Publikums in jedem Moment voraussetzt. Die Begeisterungsstürme, die dieses mit allen Wassern des Manipulationskinos gewaschene Wut- und Rührstück auslöst, kann ich mir nur aus einer Kombination zweier Faktoren erklären: Das eine ist die Imago des gegenkulturellen New Yorks der 1970er und 1980er. Damals, als die Welt noch jung und wild und frei und sexy war. Oh, wie gerne wären wir dabei gewesen. Oder zumindest reden wir uns das aus sicherer zeitlicher und räumlicher Entfernung ein. Das anderere ist die Wut auf „crony capitalism“ und „big pharma“ – der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich spätestens seit Corona die Wütenden aller Lager einigen können.
Ist es wirklich nur kleingeistig und kaltherzig
Ja, ist es, manches in „All the Beauty and the Bloodshed“ ist durchaus rührend), gegen diese doppelte Projektion Einspruch anzumelden? Und zwar in der Tat gegen beide Teile? Das gefälschte Diaprojektorklappern auf der Tonspur etwa ist nur einer unter vielen Hinweisen darauf, dass das gegenkulturell befreite New York des Films in erster Linie eine filmische Konstruktion ist. Eine Retroutopie, die mit der realen Sozialgeschichte amerikanischer Großstädte weniger zu tun hat als mit der Instant-Nostalgie einschlägiger Popsongs und der Patina vergilbter Fotografien. Letztere übernimmt Poitras zu weiten Teilen Goldins Fotoserie „The Ballad of Sexual Dependency“, als deren Making of der Film streckenweise ganz gut funktioniert. Es wäre vielleicht schlauer gewesen, es dabei zu belassen.
Was die anti-Sackler-Passagen betrifft:
Dass die These von der de-facto-Alleinschuld einer einzigen Familie (mit „capitalism“ und „America“ werden gelegentlich zwei denkbar abstrakt gehaltene Erfüllungsgehilfen ins Spiel gebracht) mindestens fragwürdig ist – geschenkt. Eine Alternativerklärung kann ich hier auch nicht anbieten, und ob politischer Aktivismus auf derartige Verkürzungen verzichten kann, ist mir erst Recht ein Rätsel. Weitaus problematischer scheint mir eine dramaturgische Schwerpunktsetzung: Gegen Ende des Films geht es um ein Gerichtsurteil, das die Sacklers zur Zahlung von sechs Milliarden Dollar Schadensersatz verurteilt. Im Anschluss bezeichnet Goldin die Summe, sicherlich zurecht, als Tropfen auf den heißen Stein, und meint, man könne nur hoffen, dass das Geld wenigstens sinnvoll ausgegeben wird.
Genau hier hätten Überlegungen dazu anschließen können – und müssen,
wie die Drogenepidemie vielleicht tatsächlich hätte gestoppt werden können.
Stattdessen geht es gleich wieder zurück in die Welt der Museen. Hier und da existiert tatsächlich noch eine „Sackler Hall“ oder ein „Sackler Reading Room“. Nicht mehr lange, wenn es nach Goldin geht. Die Opioidkrise selbst bleibt hingegen eine Leerstelle im Film. Goldins Körper soll nicht nur für die Geschichte der gegenkulturellen Avantgarde, sondern auch noch für die Gegenwart eines sozialen Ausnahmezustands einstehen. Das kann nicht funktionieren, weil dadurch der Bloodshed doch wieder ins Off verschoben wird. Nicht die möglichen Auswege aus einer medizinischen Notlage bilden den Fluchtpunkt von „All the Beauty and the Bloodshed“, sondern eine kunstszeneinterne Symbolpolitik, deren versteckten Triebkraft – und genau hier wäre die politische, beziehungsweise pseudopolitische Wahrheit von Poitras‘ Film zu verorten – die imaginäre, mehr der Fantasie einer heroischen Vergangenheit als den Herausforderungen der Gegenwart verpflichtete Verschmelzung von Kunst und Aktivismus darstellt.
All the Beauty and the Bloodshed
USA 2022 – Regie: Laura Poitras
Laufzeit: 121 Minuten.