Die Neugründung der hessischen Justiz vor 75 Jahren war auch eine Neuausrichtung des moralischen Kompasses auf den Rechtsstaat. Im Nationalsozialismus hatten viele Juristen Unrecht gestützt. Heute steht die Justiz vor anderen Herausforderungen.

Dies Argument jedoch  zieht nicht, die Praxis des Gerichts nämlich ist keineswegs auf journalistische Anfragen beschränkt, wie eine Veröffentlichung des Juraprofessors Hanjo Hamann von der EBS.Universität in Wiesbaden belegt. Er berichtete vor zwei Jahren in der „Juristenzeitung“ über einen Fall, in dem das Frankfurter OLG das Aktenzeichen des vorangegangenen erstinstanzlichen Prozesses „gezielt aus seinem veröffentlichten Beschluss herausredigiert“ und sich auf Anfrage auf „Anonymisierungsrichtlinien des Hauses“ berufen hatte.
Entscheidungen zur Anonymisierung trifft die Dokumentationsstelle des Gerichts ausschließlich nach eigenem Ermessen. Verfahrensbeteiligte sind an der Anonymisierung in keiner Weise beteiligt.

Bei bislang zumindest 60 Entscheidungen wird sogar der Ort des erst­instanzlichen Gerichts verschwiegen. Das OLG begründet diese Form der Anonymisierung unter anderem gegenüber der F.A.Z. damit, dass andernfalls ein erhöhtes Risiko der Identifizierbarkeit bestünde, „da eine regionale Eingrenzung mit der Angabe verbunden ist“. Grundsätzlich „steige bei einer möglichen Veröffentlichung mehrerer Instanzentscheidungen in derselben Sache das Risiko, dass die Verfahrensbeteiligten identifizierbar werden“, heißt es von Gundula Fehns-Böer vom Präsidialreferat.

Das Argument ist allerdings wenig valide. Wenn es eine anonymisierte Entscheidung der ersten Instanz gibt und eine weitere anonymisierte Entscheidung der zweiten Instanz, kann nicht die Kenntnis beider Entscheidungen im Zusammenspiel dazu führen, dass die Anonymisierung leide.

Darauf angesprochen, argumentiert das Gericht mit hypothetischen Sachlagen, die freilich kaum eintreten: „Wir müssen einkalkulieren, dass eine im Verbund stehende Entscheidung irgendwo anders, etwa auf der Seite eines Anwalts, veröffentlicht wurde und dort unsere Anonymisierungsstandards nicht eingehalten werden.“ Das Frankfurter Gericht argumentiert zudem, dass „Entscheidungen der Rechtsfragen wegen, die in der Entscheidung behandelt werden, veröffentlicht werden, nicht wegen des Falles an sich“.

Das steht einem Gericht nicht zu

Allerdings hat ein Gericht gar nicht darüber zu befinden, ob eine Entscheidung von öffentlichem Interesse ist oder nicht. Es kann Gründe jenseits von Rechtsfragen geben, die eine Entscheidung für die Presse interessant machen. Das zeigt auch Hamanns Studie vor zwei Jahren. Er zitierte darin den Bundesgerichtshof, der „eine Rechtspflicht der Gerichtsverwaltung zur Publikation veröffentlichungswürdiger Gerichtsentscheidungen“ anerkannt hatte – ausgerechnet im selben Verfahren, in dem das OLG noch Jahre später die Mitteilung des erstinstanzlichen Aktenzeichens verweigerte, weil das zugehörige Urteil „nicht zur Veröffentlichung vorgesehen“ sei.

Als der Wissenschaftler das Aktenzeichen anders ermittelte, habe das Gericht den Kontakt abgebrochen, statt die Vorinstanzentscheidung herauszugeben. Hamann beklagte damals einen „blinden Fleck der deutschen Rechtswissenschaft“ und bestätigt auf unsere Anfrage, dass er die erst­instanzliche Entscheidung, die den Bundesgerichtshof schließlich zur Proklamation der „Rechtspflicht zur Urteilspublikation“ bewogen hatte, auch zwei Jahre später noch nicht kenne.

Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip

Die Frankfurter Praxis ist jedenfalls mit dem Publikationsgebot, das aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet wird, nicht zu vereinbaren. Die Angabe der Vor­instanz, einschließlich des betreffenden Gerichts, ist wichtig, um zu wissen, welche Praxis bei der Vorinstanz geübt wurde. Es kann zudem sein, dass das Gericht auf Sachverhaltsangaben oder die Wiedergabe von Entscheidungsgründen unter Verweis auf die Entscheidung der Vorinstanz verzichtet. Die Angabe der Vorinstanz kann im Einzelfall zudem erforderlich sein, um festzustellen, ob das OLG überhaupt zuständig ist.

Mai 2023 | Allgemein, Essay, In vino veritas, Politik, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren