Seinen Höhepunkt hatte es Ende Mai 2021, wenn man nach dem Google-Suchinteresse im zeitlichen Verlauf geht – dann nach etwas auf und ab – eine zweite, kleinere Spitze im November 2021, eine dritte noch kleinere Anfang 2022. Dann war die Pandemie vorbei, jedenfalls am dafür entscheidenden Ort, nämlich in den in Köpfen der großen Mehrheit.
Für die – meisten – Menschen ist die Pandemie immer noch vorbei, auch wenn sich Covid-19 gerade noch einmal durch die Gesellschaft wälzt und ein Experte von Inzidenzen zwischen 1000 und 2000 spricht. Da muss man kurz nachdenken: War das mittelviel, viel oder superviel? Auflösung: Es ist galaktisch viel, theoretisch jedenfalls, denn zeitweise wurden ab einer Inzidenz von 100 die Coronaregeln im Alltag drastisch verschärft. Christian Drosten, Deuter und Wissenschaftskommunikator der Coronapandemie, hat schon vor einer Weile gesagt, Corona werde nun endemisch.
Womit wir in der Wahrnehmung irgendwo zwischen Erkältung und Grippe angekommen sein würden
Für zwei Gruppen ist Corona aber nicht vorbei. Zum einen diejenigen, die unter Long Covid leiden. Zum anderen die Menschen, die während der Pandemie umgezogen sind in eine düstere Fantasiewelt, also Querdenker*innen, Verschwörungstheoretiker*innen, Esoteriker*innen. Ergänzt um Menschen, die sich eher nicht in diese Gruppierungen einsortieren lassen, die aber leider trotzdem beitragen zu einer besorgniserregenden Entwicklung, nämlich der komplett irrationalen Umdeutung des gesamten Pandemiegeschehens.
Es ist in der Tat so, dass im Frühjahr 2023 wieder lautstarke Stimmen in sozialen Medien erschallten, die immer noch die gleichen Lügen, Unwahrheiten und Verschwörungstheorien wie bisher weitererzählen, oder besser weiterschreien. Für sie wird die Pandemie tragischerweise mutmaßlich niemals vorbei sein, denn sie sind ausweislich der Drastik und der emotionalen Betroffenheit in ihrer Kommunikation in den tiefsten Sphären ihrer Persönlichkeit gekränkt: die Corona-Gekränkten. Die letztlich die Pandemie und alles drum herum nicht anders betrachten können oder wollen denn als Angriff auf sie selbst.
Für sie muss jemand schuld sein
Ihnen fehlt vielleicht eine Kategorie wie »Schicksal«, was auch ihr derzeitiges Aufdrehen erklärt: Jemand muss schuld sein. Irgendeine Person, irgendeine Gruppe muss die Schuld daran tragen, dass so viele Leute leiden mussten, nicht nur unter der Pandemie selbst, sondern natürlich auch unter den Maßnahmen. Alles andere, jede andere Erklärung als die Existenz von Schuldigen ist für sie unerträglich – übrigens typisch für Kränkungen, psychologisch definierbar als »Verwundung der seelisch-psychischen Integrität«. Interessanterweise unterscheidet die Psychologie zunächst nicht, ob diese Verwundung »vermeintlich oder tatsächlich« stattgefunden hat: Kränkung ist subjektiv.
Was bei den Corona-Gekränkten geschieht, kann man analog dazu als Nonpräventionsparadox bezeichnen. Sie betrachten die Tatsache, dass sie selbst trotz fehlender Impfung nicht gestorben sind, als Beweis für ihre falschen Erzählungen. Sie leiten daraus weiter ab, dass gleich alles falsch gewesen sein muss, und betrachten im gleichen Atemzug sich selbst als Inhaber*innen der einzigen Wahrheit. Was man an ihren schrillen Aufrufen erkennt, die Leute mögen »endlich aufwachen«. Wer die Welt in »Schlafende« und »Wache« unterteilt, erteilt jeder Form von Argumenten, Diskussionen und auch Beweisführungen eine Absage. Denn die Botschaft des Aufwachens lautet, dass das Gegenüber erst einmal auf die Seite der Corona-Gekränkten kommen müsse, bevor irgendeine Kommunikation stattfinden kann.
Eine Weltsicht voller aus dem Kontext gerissenen Details
In der Kommunikation der Corona-Gekränkten findet sich wiederkehrend das Muster, aus einzelnen, aus dem Kontext gerissenen Details eine ganze Weltsicht zu zimmern. Dann werden einzelne, natürlich vorhandene Fehler oder nicht eingetroffene Prognosen zum Beweis der Fehlerhaftigkeit von praktisch allem. Ebenso wird in rückwirkenden Schlussfolgerungen komplett vermischt, dass zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Varianten des Virus mit unterschiedlichen Fähigkeiten vorhanden waren, denen genau deshalb auch unterschiedlich begegnet werden musste.
Ein oft von Corona-Gekränkten verwendetes Beispiel betrifft die Impfung. Eine Zeit lang wurde kommuniziert, dass eine Impfung den Ausbruch der Krankheit sehr wahrscheinlich oder zumindest weitgehend verhindern kann. Das stimmt inzwischen nicht mehr in dieser Form, war zu dieser Zeit aber eben weder falsch noch irreführend. Denn dass auch Menschen mit Impfung krank werden können, ist im gegenwärtigen Ausmaß auch ein Produkt der Weiterentwicklung des Virus, also der Mutationen. Corona-Gekränkte fabulieren daraus die umfassende Sinnlosigkeit der Impfungen, aber selbst mit der Erkrankungsmöglichkeit für Geimpfte ist das falsch. In mehrfacher Hinsicht.
Kürzlich wurde in einer Studie von Forschern aus Paris festgestellt, dass die Impfung die Schwere der Long-Covid-Symptome zu reduzieren scheint. Zahlreiche weitere Studien haben zudem gezeigt, dass Impfungen vor einer Corona-Erkrankung das Risiko für Long Covid senken. Und es ist unter anderem aus einer Untersuchung eines Virologie-Teams der Universität Genf bekannt, dass bei mehreren Virusvarianten die Ansteckungsgefahr durch geboosterte Geimpfte geringer ist. Was die Impfungen völlig unbestreitbar zu einer sinnvollen Maßnahme gemacht hat, trotz der dokumentierten Nebenwirkungen.
Zweifel, gestützt von Scharlatanen
Dementsprechend wurde 2022 eine Untersuchung des Imperial College in London veröffentlicht, laut der die Impfung im ersten Jahr ihrer Verwendung rund 20 Millionen Menschen das Leben gerettet haben soll. Corona-Gekränkte sind so sehr auf sich selbst und ihr eigenes Leiden in der Pandemie fixiert, dass sie diese wissenschaftlichen Erkenntnisse entweder ignorieren oder pauschal anzweifeln. Gestützt nicht selten von Scharlatanen, die für ein wenig Telegram-Aufmerksamkeit noch die absurdesten Corona-Theorien mit dem vermeintlichen Glanz ihrer akademischen Titel oder eingebildeter Expertise bestätigen.
Der Versuch der Umschreibung des Pandemiegeschehens, von dem Michael Seemann spricht, wäre aber nicht halb so bedrohlich, wenn sich nicht immer wieder Journalist*innen und Entscheider*innen in den Leitmedien finden würden, die ihnen in die Karten spielen. Man muss dazu gar nicht auf das bizarre Beispiel von RTL2 referenzieren, wo der singende, antisemitische Verschwörungstheoretiker Michael Wendler eine Fernsehshow hätte bekommen sollen. Es geht dabei vielmehr um eine derzeit beliebte, rückwirkende Analyse, die mit dem Kenntnisstand von heute die politischen Entscheidungen, die Kommunikation der Wissenschaft und die publizistische Begleitung untersucht. Und dann völlig überraschend zu Erkenntnissen kommt, dass man heute im Detail anders entscheiden würde.