Am Bosporus zeigt sich, wie ein Abgleiten in den Autoritarismus ein Land mit großen Möglichkeiten nachhaltig schädigen kann

Die Türkei erlebt derzeit ihr Bevölkerungsoptimum:

Sie erlebt eine Zeit, in der Gesellschaften zu großer Produktivität auflaufen und ihre Geschicke nachhaltig zum Besseren wenden können. – Könnten. Großartige Möglichkeiten zwar. Damit sie aber Realität werden, braucht es eine gute Politik.
Man kann diese historisch einmalige Chance auch vergeben.
In der Türkei öffnete sich das demographische Fenster in den 2000er Jahren. Der Anteil der Bürger im arbeitsfähigen Alter stieg rapide. In den vergangenen Jahren erreichte dieser Wert sein Maximum:

Bis in die 2040er Jahre wird die Alterszusammensetzung auf diesem Level bleiben. Während andere europäische Gesellschaften, darunter Deutschland, rapide altern, könnte die Türkei ihr Wirtschaftswunder erleben.

Als Präsident Recep Tayyip Erdogan vor 20 Jahren erstmals ins Regierungsamt gewählt wurde, war er zunächst spektakulär erfolgreich. In den ersten zehn Jahren seiner Regierungszeit gelang es, die Wohlstandslücke gegenüber dem OECD-Durchschnitt zu halbieren. Die Türkei steuerte einen westlich orientierten Kurs, öffnete sich, proklamierte ambitionierte Ziele. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf stieg Zahlen der Weltbank zufolge um den Faktor 2,5 . Erdogan verkündete, die Türkei wolle die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt werden. Seither jedoch ist dieser Aufholprozess zum Stillstand gekommen. Die Pro-Kopf-Einkommen sind auf Dollar-Basis wieder gesunken. Ökonomisch gesehen war die zweite Hälfte von Erdogans Regierungszeit ein verlorenes Jahrzehnt. Die Türkei bleibt weit unter ihren Möglichkeiten

Armenhaus statt Powerhouse?

In einem Monat stellt sich Erdogan, inzwischen Staatspräsident gemäß einer auf ihn zugeschnittenen Verfassung, erneut zur Wahl. Umfragen zeigen, dass seine Wiederwahl keineswegs sicher ist – trotz inzwischen weitgehend regierungshöriger Medien, die der Opposition wenig Raum bieten. In der Tat würde man dem Land wünschen, aus der Autoritarismusfalle herauszufinden und auf den Erfolgspfad zurückzukehren.
Statt zum Powerhouse Europas zu werden, Investitionen anzulocken und stärker auf Integration mit der EU zu setzen – für die eine dynamische Türkei ein attraktiver Partner wäre –, hat Erdogan in den vergangenen Jahren einen eigenwilligen Kurs gesteuert: Abgrenzung nach Westen, regionale Großmachtpolitik, unklares Verhältnis zu Wladimir Putins Russland. Innenpolitische Reformen gehen nicht voran. Stattdessen hat er ohne Not ein makroökonomisches Desaster angerichtet, das die gravierenden Schwächen des System Erdogan offenlegt. Das Land hängt bei fast allen strukturellen Indikatoren hinter dem übrigen Europa her. Verkrustete Märkte, geringe Beschäftigungsquoten von Frauen, schwaches Bildungssystem – der OECD-Bericht listet in einer langen Reihe all jene Faktoren auf, die die Türkei zurückhalten.

Führend ist Erdogans System nur bei der Korruption. In Sachen Schmiergeld und Vetternwirtschaft landet die Türkei im Ländervergleich von Transparency International, einer Nichtregierungsorganisation, zwischen Kolumbien und Mexiko. Das schafft nicht nur Ungerechtigkeiten, weil Bürger abkassierenden Insidern hilflos gegenüberstehen, sondern hält auch die Produktivität zurück, weil Investitionen ausbleiben. Internationale Unternehmen, die Knowhow und moderne Technologie mitbringen könnten, machen einen Bogen um das Land. Im OECD-Vergleich ist der Bestand an Direktinvestitionen äußerst bescheiden.

Inflation, Abwertung, Vertrauensverlust

Statt goldener Zeiten erlebt die Türkei unter Erdogans Führung eine rapide Geldentwertung: Die Inflationsrate ist auf 80 Prozent gestiegen. Ein Verarmungsprogramm sondergleichen, gerade für die einst aufstrebenden unteren Mittelschichten, die nun zusehen müssen, wie ihre Kaufkraft schwindet. Das sorgt für Frust und belastet Erdogans Popularitätswerte.
Im Vorfeld der Wahlen hat die Regierung zwar Mindestlöhne, Renten, Familienzuschüsse und die Gehälter von Staatsbediensteten angehoben, um die Folgen der Geldentwertung zu mildern. Aber das ist nur eine schwache Kompensation für verlorenes Vertrauen. Es wäre wahrlich Zeit für einen Neustart.

Die Lira hat seit Anfang 2021 gegenüber dem Euro die Hälfte  ihres Wertes verloren. Die rapide Abwertung als Folge der hohen Inflation hat Erdogan kurzerhand zur ökonomischen Strategie geadelt: Billige Exporte sollen das Wirtschaftswachstum ankurbeln und das Land voranbringen. Kurzfristig hat das sogar funktioniert. Die Türkei konnte in den vergangenen Jahren von den coronabedingten Lieferengpässen in Asien profitieren und etwa als Produzent von arbeitsintensiven Vorprodukten einspringen. Dazu kommt die Angst der Sparer vor dem Wertverlust ihrer Rücklagen, die nun ihr Geld lieber ausgeben, was zu einem Konsumboom geführt hat.
Der langfristige Schaden ist immens. Inflation und Abwertung sorgen für einen Vertrauensverlust in die Institutionen des Landes, der Investoren abschreckt und Bürger außer Landes treibt – und zwar  gerade die besser Ausgebildeten. Höhere Stufen auf der Produktivitätsleiter zu erklimmen, Bedingung für fortgesetzte Wohlstandszuwächse, wird so umso schwieriger.

Wahr ist, was der Herrscher für wahr hält

An der Türkei zeigt sich, wie Populismus und Autoritarismus ein Land mit eigentlich großen Möglichkeiten nachhaltig schädigen können. Was als erfolgreiche Regierungszeit begann, die sich am Wohlergehen der Bürger orientierte, ist zu einer auf Macht Ausdehnung angelegten Cliquenwirtschaft degeneriert. Unabhängige Institutionen wurden auf Kurs gebracht, inklusive Massenmedien, Universitäten und der Zentralbank. Freiheitsrechte werden eingeschränkt, Kreativität und technologischer Fortschritt ausgebremst; die Möglichkeiten zur Selbstkorrektur einer Gesellschaft schwinden; die dauerhafte Stabilität des Landes und seiner Währung stehen in Zweifel.
Der Umgang mit der Zentralbank ist dafür ein Musterbeispiel. Seit 2018 hat Erdogans Machtapparat die Unabhängigkeit der Geldbehörde geschleift. Die Amtszeiten ihrer Führungsriege wurden verkürzt. Die Bedingungen, unter denen die Regierung einen Zentralbankgouverneur absetzen kann, wurden aufgeweicht. Folge: Binnen vier Jahren hat Erdogan vier Notenbankgouverneure verschlissen. Ihnen wurde zum Verhängnis, dass die Realität leider nicht Erdogans ganz persönlicher Geldtheorie gehorcht – wonach Zinsen prinzipiell schlecht sind, weshalb sie möglichst niedrig sein sollten.
Steigende Zinsen verursachten nach dieser Lesart Inflation. Das widerspricht zwar allen Erfahrungen sowie den Erkenntnissen der Wirtschaftswissenschaften, die einen solchen Effekt nur in sehr speziellen Konstellationen für möglich halten. Doch der türkische Präsident ist überzeugt: Die Zinsen müssen runter, dann sinkt auch die Inflation.

Verknüpfung von Religion und Wirtschaftspolitik

Er tät, was die Religion von ihm verlange, hat Erdogan mehrfacht öffentlich  bekannt. Als konservativer Muslim folgt er dem Koran. Und weil die Heilige Schrift des Islam das Erheben von Zinsen als Wucher verdammt, soll auch die Notenbank möglichst keine verlangen. Ein Argument, das auch im christlichen Mittelalter zum Glaubenskanon gehörte.
In der Realität jedoch begünstigen niedrige Zinsen gerade das Schuldenmachen. Entsprechend ist in der Türkei das Kreditwachstum stark gestiegen, was wiederum die Nachfrage anheizt und die Preise weiter steigen lässt. Während Schwellenländer rund um den Globus in den vergangenen zwei Jahren frühzeitig und entschlossen die Zinsen angehoben haben, teils drastisch und vor den USA und der Eurozone, stolpert die Türkei auf einem Sonderweg einer ungewissen Zukunft entgegen.
Im autoritär geführten Erdogan-System sind die Selbstkorrekturmechanismen des Staates so sehr geschwächt, dass ein religiöses Meta-Narrativ das Management von Geld und Währung bestimmen kann, auch wenn die messbaren Ergebnisse desaströs sind. Ausgerechnet auf einem Politikfeld, das aus guten Gründen in vielen Ländern an wissenschaftlich versierte Technokraten delegiert ist, triumphiert der Glaube über das Wissen.
Wie gesagt, man würde der Türkei und ihren Bürgern Besseres wünschen: eine vernünftige Politik, die Fortsetzung des abgewürgten Wirtschaftswunders – und eine europäische Perspektive.

 

Apr. 2023 | Allgemein, In vino veritas, Politik, Sapere aude | Kommentieren