Verborgene Identität: Im März 2014 besetzten russische Truppen im Zuge der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim eine Kaserne in dem Land. Die Soldaten trugen keine Hoheitszeichen, und der Kreml leugnete deren russische Herkunft.

Lastiwka und Jan sind ukrainische Soldaten. Glaubt man Wladimir Putin, sind sie Nazis im Dienst des amerikanischen Imperialismus. Glaubt man manchen Vordenkern der deutschen Linken, sind Waffenlieferungen an sie Kriegstreiberei. Glaubt man aber ihnen und ihren Freunden, sind sie Kämpfer in einem Volkskrieg gegen imperialistischen Völkermord. Das sind Worte aus dem Vokabular der globalen Linken, und Lastiwka und Jan verwenden sie nicht zufällig. Denn sie sind beides zugleich: Soldaten der Ukraine und linke Aktivisten.

„Lastiwka“ heißt „Schwalbe“. Die junge Frau, die sich diesen Kampfnamen ausgesucht hat – dreißig Jahre alt, lustiges Gesicht und als Armaufnäher eine Granate im Comicstil –, verwendet ihn, um sich und die ihren zu schützen. Jan sind solche Sorgen egal. Er ist 32, heißt wirklich Jan, und während Lastiwka sich nur mit Maske fotografieren lassen will, zeigt er sein Gesicht.

Jetzt erzählen sie, was es heißt, ukrainischer Soldat im Krieg zu sein und zugleich Linksanarchist. Alles begann vor neun Jahren, als die Ukrainer in der Revolution des Euromajdan den autoritären Präsidenten Viktor Janukowitsch verjagten, eine Marionette Putins. Gleich danach annektierte Russland die Krim und besetzte das Industriegebiet Donbass im Osten des Landes. Lastiwka und Jan waren da Anfang zwanzig, und seither sind sie immer aktiv gewesen. Mit einigen Freunden besetzten sie einen verfallenen Altbau in der Metropole Charkiw. Die Behörden ließen sie in Ruhe, denn die linke Szene in der Ukraine ist klein, und der Staat hatte wichtigere Sorgen.

Beide hatten einen Namen in der Szene

Lastiwka, Jan und ihre Freunde benutzten das besetzte Haus zuerst als Unterkunft für Flüchtlinge aus dem Osten, dann entdeckten sie immer neue Themen. Sie setzten sich für Ökologie und Tierrechte ein, hielten Tauschmärkte ab, verteidigten Parks gegen Baulöwen und kämpften gegen Gentrifizierung. Wenn Rechtsextremisten Roma angriffen, organisierten sie Demonstrationen.
Lastiwka und Jan hatten einen Namen in der Szene. Sie schrieb einen feministischen Blog, sie gab Zeichenunterricht an einem antiautoritären Schulprojekt, und weil der antiimperialistische Befreiungskrieg gegen Russland immer noch im Gang war, ging sie auch einmal zu einem Kampfworkshop der „Solidaritätskollektive“ – eines Netzwerks zur Unterstützung anarchistischer Soldaten an der Front.
Jan wurde durch eine Aktion „unter falscher Flagge“ berühmt. Im komödiantischen Gestus des homophoben Rechtsextremisten beklagte er sich im Lokalfernsehen darüber, dass Schwule sich herausnähmen, mit Männern Sex zu haben, während er selbst sich dieses Vergnügen zum Wohl der Nation versagen müsse. Unfair sei das und eine Schweinerei. Rechte Hooligans wollten als Rache seine Wohnung angreifen, beschädigten aber aus Versehen nicht seine Tür, sondern die eines Nachbarn.

Lastiwka und Jan kämpfen gegen Russlands Invasionsarmee in der Ukraine.

Der Krieg begann für Lastiwka und Jan am 24. Februar 2022 in aller Frühe. Charkiw liegt ganz nah an der russischen Grenze, und so wachte Lastiwka noch vor dem Morgengrauen von den Bomben auf. Sie floh in den Keller und checkte die Websites der linken Szene. In einem Aufruf hieß es „Drohnenpiloten gesucht“, und weil Jan und sie früher mal mit einer privaten Drohne Landschaftsfilme gedreht haben, waren sie noch vor dem Mittag am „Kontrollpunkt Null“ vor der Stadt. Also dort, wo der Krieg gerade mit voller Wucht losbrach. Uniformen hatten sie damals noch nicht, und statt Helmen trugen sie Pudelmützen. Aber ihre Drohne flog noch am selben Tag über die Linien, und kurz darauf meldeten sie sich dann auch formell zur Armee. Später bekamen sie Schutzwesten. Die von Jan stammte von einem Toten.

Ukrainische Einheiten entstanden damals spontan, es reichte, sich mit ein paar Freunden zu registrieren. Die Kompanie von Lastiwka und Jan war ein bunter Haufen. Ein paar linke Freunde waren dabei, aber auch Leute aus der Strikeball-Szene und Fans von historischen Kriegsspielen. Anfangs waren sie sieben, nach einer Woche 15 und nach einem Monat 60 Leute.

Drohnen sind „game changer“

Sie kämpften an Orten, die seither zu Synonymen des Gemetzels geworden sind: Slawjansk, Soledar, Bachmut. An Kampftagen versteckten sie ihren ausgedienten VW-Bus voller Kabel und Monitore, aus dem sie ihre Drohne steuerten, im Gebüsch. Die Antenne zum Steuern der Drohne stand immer etwas weiter weg, damit die Russen nicht am Funksignal ihren Standort erkennen konnten. Die Türen des Busses blieben im Einsatz immer offen. So kommt man schneller in den nächsten Graben, wenn die Granaten einschlagen.

Drohnen sind „game changer“ in diesem Krieg

Die ukrainische Artillerie braucht Drohnen so dringend wie die Luft zum Atmen. Sie schießt anders als die des Feindes. Lastiwka und Jan erzählen, die Russen hätten vor allem am Anfang des Krieges noch ohne jede Zielaufklärung gefeuert – einfach nur blind „nach Planquadrat“. Die Ukrainer hatten dafür zu wenig Munition. Ihr großer Vorteil sind hochpräzise westliche Geschütze und Raketenwerfer, aber jede ihrer Hightech-Granaten ist kostbar. Deshalb feuern die Ukrainer nur, wenn die Aufklärung etwas gesehen hat, was eine Granate wert ist.

Lastiwka mit ihrer Drohne

Einmal mussten Lastiwka und Jan ihre Drohne zum Beispiel unzählige Male über einer Scheune hinter den feindlichen Linien kreisen lassen, um sicherzugehen, dass das aufgespreizte Etwas dahinter wirklich das Zelt eines russischen Gefechtsstands war und nicht nur ein Sonnenschirm. Dann erst war die Artillerie bereit, eine ihrer 40.000 Dollar teuren GPS-gesteuerten amerikanischen „Excalibur“-Granaten zu riskieren. Seither trägt Lastiwka diesen Aufnäher mit einer Comic-Granate am rechten Arm. So was kriegt nur, wer schon mal am Einsatz so eines Geschosses beteiligt war. Auf dem linken Arm hat sie einen Aufnäher mit einer Eule. Den kriegen Piloten, die schon einmal eine Killerdrohne geflogen haben – also ein selbst gebasteltes Fluggerät, das die Feinde in ihren Gräben aufspürt und dann eine Handgranate auf sie fallen lässt. Die Bordkamera kontrolliert den Erfolg, und das Netz ist voll von diesen Filmen: Unten, klein wie Ameisen, die nichts ahnenden Feinde. Dann die fallende Granate, ein Knall – und wenn die Wolke sich verzieht, liegen alle am Boden. Manche zappeln noch, manche nicht mehr.

Wie passen Armee und Anarchismus zusammen?

Für die Russen sind Soldaten wie Las­tiwka und Jan deshalb Ziele erster Priorität. Sie folgen ihrem Funksignal, um ihren Bus zu finden, und manchmal schicken sie auch selbst Drohnen aus. Las­tiwka hat das erlebt. Sie erzählt, wie sie sich einmal über endlose Minuten in einem viel zu flachen Schützengraben zusammenkauerte; wie sie über sich dieses böse Surren hörte und wie ihr der Versuch misslang, in den letzten Sekunden ihres Lebens wenigstens noch an etwas Schönes zu denken. Der einzige Gedanke war: „Scheiße, das war’s.“
Dann aber hat sie doch überlebt. Eine gute Freundin, vor dem Krieg Gitarrenlehrerin an ihrem Schulprojekt in Charkiw, hatte weniger Glück. Sie hatte sich als Sanitäterin zur Armee gemeldet und fiel im vergangenen Sommer.
Aber wie geht das zusammen: Armee und Anarchismus? – „Besser, als du glaubst“, sagt Jan, und vielleicht ist ein ganz spezieller Anarchismus auch ganz allgemein eines der Erfolgsgeheimnisse der Ukrainer. Lastiwka und Jan erzählen davon: Neben der Befehlskette gibt es in der Armee ein Netz von informellen Chatgruppen über private Handys, durch welche die Soldaten direkt kommunizieren. Wenn der Drohnentrupp zum Beispiel ein Ziel entdeckt, schickt er die Koordinaten nicht erst die Meldekette hinauf zum Kommandeur, sondern über den Gruppenchat zum Kanonier: „Habt ihr Schüsse frei?“ Und umgekehrt: Wenn eine Geschützbesatzung unter Feuer kommt, ruft sie einfach bei Lastiwka an und fragt: „Siehst du was? Wer schießt da auf uns?“

Hierarchien sind weniger wichtig

„Unser Vorteil ist, dass die Russen das nicht so machen“, sagt Jan. Die brauchten von Zielortung bis Schuss, Meldekette hoch, Befehlskette runter, oft 20 Minuten. Bis dahin sei das Ziel längst wieder weg. „Aber wir haben es manchmal schon in sechs Minuten geschafft.“ Ab und zu, sagt Lastiwka, sind solche Abkürzungen aber auch gefährlich. Es komme vor, dass Drohnenaufklärer in der Eile Freund und Feind verwechseln. Aber auch dann hilft mit etwas Glück das Netz. Denn alle lesen mit, und plötzlich ist der Chatroom voll von Alarmnachrichten: „STOPP!! Das sind unsere!!“
Ein anderer Aspekt dieses militärischen Basisanarchismus ist: Die Hierarchien sind weniger wichtig als in anderen Armeen. Viele ukrainische Einheiten sind mehr oder weniger aus wilden Freiwilligentrupps entstanden. Dort bestimmte die Mannschaft selbst, wer führte. In der Kompanie von Lastiwka und Jan gab es anfangs zwar einen offiziellen Kommandeur, aber das Sagen hatte ein Mann, der nicht einmal Unteroffizier war. Weil er schon vor der Großinvasion vom letzten Jahr im Osten gekämpft hatte, genoss er die größte Autorität unter den Kameraden. Auf der höheren Führungsebene wird das offenbar hingenommen und manchmal sogar genutzt. Jan erzählt, wie einmal ein höherer Kommandeur in einer Kompanie, die mit ihrem Chef über Kreuz lag, den Frieden wiederherstellte: Er ermunterte die Mannschaft, doch einen anderen an die Spitze zu wählen. Der Kompanieführer blieb dann zwar, aber er hatte nichts mehr zu sagen, und die Einheit funktionierte wieder.
Wie fast alle Kämpfer und Einheiten der Ukraine stützen sich Lastiwka und Jan auf ein Netz von Helfern hinter der Front. Die besorgen Drohnen, Generatoren, Stiefel, Schokolade und Zigaretten, und eines dieser Netze betreiben die linken „Solidaritätskomitees“. Aus dem Ausland kommt Hilfe – auch aus Deutschland, aber dennoch sind viele Linke in der Ukraine von ihren deutschen Freunden enttäuscht.

Hilft im Hintergrund: Xenia

Xenia und Berta zum Beispiel. Sie gehören zu den „Solidaritätskollektiven“, bei denen Lastiwka früher trainiert hat, und auch sie wollen ihre vollen Namen nicht nennen. Von den Argumenten der deutschen Linken gegen Waffenhilfe an die Ukraine sind sie entsetzt. Das beginnt schon mit der Behauptung, die Ukraine sei ein Kunstgebilde des Westens mit dem Ziel, Russland im Auftrag des imperialistischen amerikanischen Kapitals als Konkurrenten auszuschalten. Xenia hält das für eine Verdrehung der Realität. Das Gegenteil sei richtig: „Wir sind kein Werkzeug des Kapitals, sondern eine antikoloniale Bewegung“, sagt sie. Ihre Freunde kämpften nicht für den Imperialismus, sondern gegen ihn – und zwar „gegen den Imperialismus Russlands“. Deutschen Linken, die das nicht glauben können, gibt sie einen lapidaren Rat: „Schaut auf Mariupol“ – die ukrainische Stadt, die Russland im letzten Frühjahr zerstört hat. „Da ist ein echter kolonialer Völkermord geschehen.“
Und weil sie Russland als völkermörderische Kolonialmacht betrachtet, glaubt Xenia auch nicht, dass Wladimir Putin durch Gebietsabtretungen besänftigt werden könne, wie das einige deutsche Linke wollen. „Wenn wir ihm erlauben, den ersten Bissen runterzuschlucken, wird er gleich den nächsten nehmen“, sagt sie. Wer das Donbass abtrete oder die Krim, der trete Menschen ab. An Putin und seinen Völkermord aber dürfe man keine Menschen ausliefern. „Du verhandelst nicht mit jemandem, der dich gerade vergewaltigt.“

Auch die Behauptung, dass der Krieg in der Ukraine nur eine Inszenierung des westlichen „militärisch-industriellen Komplexes“ zur Maximierung seiner Gewinne sei, hat bei ukrainischen Linken keine Chance. Lastiwka glaubt davon kein Wort: „Und Russland?“, fragt sie, „hat Russland nicht auch einen militärisch-industriellen Komplex? Schlägt der nicht die meisten Profite aus diesem Krieg?“ Xenia bringt es schließlich auf den Punkt: Dieser Krieg, sagt sie, ist keine Machenschaft kapitalistischer Geldeliten, sondern ein echter „Gesellschaftskrieg“, in dem alle Schichten, vom Anarchisten bis zum hippen IT-Spezialisten und zum Banker, sich gegen einen imperialistischen Genozid wehren.

Der gemeinsame Kampf versöhnt das Unversöhnbare

Lastiwka und Jan erleben diese klassenübergreifende Einigkeit an der Front hautnah. In ihrer Einheit kämpfen einige Linke wie sie, aber eben auch Leute, die sich anders definieren. Und sie sagen: „Wir akzeptieren jeden, der Können mitbringt und bereit ist zum Dialog.“ Unlängst hätten sie in einem Gefechtsstand ein paar Soldaten getroffen, die sie von früher kannten – militante Aktivisten der rechten Szene aus ihrer Heimatstadt Charkiw, also eigentlich Gegner. „Wir kannten uns“, sagt Lastiwka, „aber wir wussten: Die haben auch Freunde verloren, genau wie wir. So gaben wir uns die Hand und tauschten Informationen aus.“

Wie der gemeinsame Kampf das Unversöhnbare versöhnt, beschreiben ein paar Episoden, von denen Jan und Lastiwka erzählen. Einmal hatten sie als Gegenüber bei der Artillerie einen offen homophoben Typen. Der nannte die Russen immer nur „Pider“. Das ist ein böses Wort für Schwule, und als einmal ein ukrainischer Helfer aus den Unterstützerkreisen im Hinterland, ein Mann mit orange gefärbtem Haar, den Soldaten Hilfsgüter brachte, schimpfte der Artillerist: „Und für diese Pider halten wir hier also unseren Kopf hin.“ Später, erzählt Lastiwka, ist dann der Laptop dieses Soldaten kaputtgegangen. Sie besorgte ihm aus ihren Netzwerken einen neuen und erzählte, er komme von schwulen Freunden in Deutschland. „Was?“, antwortete der Artillerist verwirrt, „jetzt helfen uns schon die deutschen Pider gegen die russischen Pider?“

Lastiwka lacht immer noch, wenn sie von dieser Episode erzählt …

… aber sie erzählt auch andere Geschichten – solche, aus denen hervorgeht, dass auch sie in dieser Koexistenz mit dem ideologischen Gegner im Kampf gegen Russland nicht ohne Kompromisse auskommt. Zum Beispiel, sagt sie, ist in der ukrainischen Armee das homophobe antirussische P-Wort so tief verwurzelt, dass russische Stellungen im Funkverkehr regelmäßig mit P1, P2 oder P3 bezeichnet werden. Was also tun, wenn man als Drohnenaufklärerin dort einen feindlichen Panzer sieht? – Man meldet „Panzer auf P1“.
Unlängst hatten Jan und Lastiwka einen psychologischen Test. Das hat die ukrainische Armee neu eingeführt, und sie haben, sagt Jan, „nicht schlecht abgeschnitten“. Und doch: Ein Jahr im Krieg hat sie verändert. Lastiwka stellt zum Beispiel an sich fest, dass sie sich manchmal nur noch schwer mit Menschen unterhalten kann, die nicht an der Front waren. Die Gespräche sind ihr zu banal. Auch ihre Gewohnheiten haben sich verändert. Sie isst nicht mehr vegetarisch, denn wie steht man da, wenn man im Essen rumpickt, wenn die anderen froh sind, wenn überhaupt etwas da ist? Und sie schaut sich auch keine Arthouse-Filme mehr an. Wenn es mal ruhig ist, sieht sie auf ihrem Smartphone lieber Animal Planet.

Zum Abschied sage ich: „Passt auf euch auf.“ Jan schaut mich an. „Weißt du“, sagt er dann, „ich habe keine Ahnung, was ich da draußen mit so einem Satz anfangen soll.“

Apr. 2023 | Allgemein, Essay, In vino veritas, Sapere aude | Kommentieren