Eine Befindlichkeit geht um in Deutschland, die German Angst. Die Diagnose, dass wir ein besonders kleinmütiges, sicherheitsbedürftiges, furchtsames Volk von Fahrradhelm-Fetischisten seien, ist nicht ganz neu. Doch seit Russland im Februar 2022 die Ukraine überfallen hat, taucht der Befund nicht nur mit ungewohnter Häufigkeit auf, sondern hat – Stereotyp hin oder her – einiges an Plausibilität gewonnen. Die zögerlichen oder verspäteten Waffenlieferungen, die offenen Briefe, in denen für sofortige „Verhandlungen“ mit dem Aggressor plädiert wird, oder das Manifest für Frieden unter der Schirmherrschaft von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, das online inzwischen über 770.000-mal unterzeichnet wurde, wurden von Leitartiklern und politischen Kommentatoren im In- und Ausland als Ausdruck einer spezifisch deutschen Hasenfußmentalität gewertet.
Auch für die Philosophin Bettina Stangneth steht fest, dass sich Deutschland mit seinem „Zögern und Zaudern“ in Sachen Ukraine-Krieg vor der Weltöffentlichkeit eine schauerliche Blamage geleistet hat. Überforderung – Putin und die Deutschen, so der Titel des jüngst erschienenen Essays, in dem Stangneth nach den Entstehungsbedingungen für das „ängstliche Denken“ fragt, das hierzulande – keineswegs nur in Kriegszeiten, aber in diesen nun mal ganz besonders – das Selbst- und Weltverhältnis maßgeblich präge. Sie findet diesen mentalitätsgeschichtlichen Schlüsselmoment dort, wo ihn der Leser durchaus vermutet: in der deutschen Geschichte, im Nationalsozialismus und in den unmittelbaren Nachkriegsjahren.
Dass die Schuld, welche die Deutschen von einst auf sich geladen haben, in den Deutschen von heute nachwirkt – auch das hat man so oder ähnlich schon häufiger gehört. Doch ist man deswegen zunächst kein bisschen weniger gespannt, was Stangneth dazu zu sagen hat. Schließlich handelt es sich hier nicht um irgendeine thesenfreudige Volksküchenpsychologin, sondern um eine Autorin, die auf den Themengebieten „Deutsche“ und „Denken“ bereits mehrfach Analysefähigkeit und akribischen Spürsinn bewiesen hat. 2011 erschien Eichmann vor Jerusalem, ihre viel beachtete, preisgekrönte Recherche über den sich als Biedermann tarnenden NS-Massenmörder Adolf Eichmann – ein Buch, das die Debatte über die Banalität des Bösen neu entfachte. Stangneth schrieb originell und unaufgeregt über Immanuel Kant, über Antisemitismus, über Lügen und zuletzt über Sex als Kulturleistung.
Thesengewitter ohne Beispiele
Der neue schmale Band nun beginnt mit dem Satz: „Es ist eine Enttäuschung.“ Wenn man die folgenden 140 Seiten hinter sich hat, denkt man leider genau das. Denn Stangneths Überforderung fällt erstaunlich weit hinter die positiven Erwartungen zurück. Das liegt zunächst an dem selbstverliebten essayistischen Überschwang, mit dem hier von Metapher zu Wortspiel zu hintersinnig daherkommendem Seitenhieb geprescht wird. Ein sich permanent an sich selbst berauschendes Bällebad der Assoziationen, in dem jeder kurz aufblitzende Gedanke umgehend an Kontur verliert. Es wird noch nicht einmal nachvollziehbar, was genau Stangneth nun meint, wenn sie das Verhalten Deutschlands gegenüber der Ukraine (oder gegenüber Putins Russland) in Grund und Boden kritisiert. „Dieses Land bietet ein geradezu exzessiv widersprüchliches Bild“, heißt es. „Forsches Vorpreschen neben bedenklichen Empfehlungen zur Vorsicht. Kurz: schamfreies Scheitern zwischen Aktionismus und Schockstarre“.
Könnte sich „die Philosophie“, als die Stangneth ihre Ausführungen so nachdrücklich labelt, hier vielleicht zu ein paar Beispielen herablassen? Geht es vielleicht etwas konkreter und weniger pauschal? Nein, geht es nicht. Denn allein schon die Frage nach Beispielen oder die mögliche Forderung, das Thesengewitter zu sortieren und ein wenig durch Fakten zu illustrieren, ist Stangneth zufolge ein typisch „deutsches Lesen“. Das heißt, „ein erstaunlich ängstliches, folglich nicht selten auch ein aggressives Lesen“. So zumindest die „Beobachtung einer Autorin, die“ – jetzt wird’s beeindruckend – „auch in anderen Ländern und Kulturen gelesen wird“. Gut, dann lassen wir das an dieser Stelle mit der teutonischen Krämerseelen-Quengelei und versuchen uns vielleicht an der Lesart, die Stangneth als ideale Rezeptionshaltung für ihr Werk empfiehlt, nämlich: „dem Denken eines Anderen einfach folgen, so wie man einer Melodie folgt, die aus dem Nichts auftaucht und wieder ins Nichts verklingen wird, wenn niemand etwas an ihr findet“.
Denkmechanismen made in Germany
Zwischendurch keimt kurz die Hoffnung auf, dass man es vielleicht doch mit ein wenig Erkenntnisgewinn aus der Lektüre heraus schaffen könnte. So wirkt Stangneths Skizze der Nachkriegsgesellschaft, in der diese beängstigend ängstliche „deutsche Denkungsart“ von heute entstanden sein soll, zunächst keineswegs abwegig: Die Schicksalsgemeinschaft des besiegten Terrorregimes, heißt es, „denkt man sich am besten im Plural“, also eben nicht als homogene Gruppe. Täter trafen auf Opfer und Siegermächte, Opfer trafen auf Denunzianten, Peiniger und Mitläufer. Jeder wusste, was geschehen war. Aber man tat, als wüsste man nichts. So habe sich ein „abgesicherter Modus des Denkens“ etabliert, eine „Kultur der Unverfänglichkeit“, eine Furcht vor den eigenen Gedanken und den Gedanken der anderen. Dies habe zwar zunächst befriedend gewirkt und das Leben in der Gemeinschaft erst wieder ermöglicht, sei aber bis heute auf fatale Weise prägend.
Doch auch hier bleibt Stangneth im Vagen stecken, was ernsthaften Widerspruch gar nicht erst aufkommen lässt. Allzu naheliegende Einwände greift sie manchmal kurz auf, um sie möglichst beiläufig wieder abzutun. So heißt es mit Blick auf die transgenerationale Weitergabe der gestörten Kommunikations- und Denkmechanismen made im Germany der Stunde Null: Diese „Erbmasse“ wirke inzwischen „seltsamerweise auch in Zugewanderten“. Nicht nur angesichts der Tatsache, dass heute fast jeder Vierte in Deutschland einen Migrationshintergrund hat, wirkt vor allem diese Behauptung seltsam.
Ihr passioniert ausgetragenes Selbstgespräch unterbricht Stangneth hin und wieder, um kurz jenen zu winken, die sie zu den happy few unter ihren Lesern zählt. Diesen wird nämlich reichlich herablassend empfohlen, vielleicht „noch mal in Tr. Dial. 2.B 1.H“ nachzuschauen. Es gibt keine weiteren Erläuterungen zu diesem Kürzel. Vermutlich meint die Kant-Expertin Stangneth hier das „Erste Hauptstück“ aus dem „Zweiten Buch“ der „Transzendentalen Dialektik“ aus der Kritik der reinen Vernunft. Ob ihre Leser „in anderen Ländern und Kulturen“ diese verdruckste Autoritätsgeste sonderlich souverän finden werden?
Anderseits gibt es auch Passagen, Kant-Anspielung inklusive, denen man folgen kann, ohne je ein Proseminar zur Erkenntnistheorie besucht zu haben. Dafür muss man allerdings eine wohlfeile Spitzzüngigkeit in Kauf nehmen. So heißt es über den titelgebenden Antihelden Putin: „Ein Präsident, der im Goldpalast lachend das Glas in die Kamera hebt, weil zur gleichen Zeit seine Raketen auf ein Nachbarland fallen, weiß zwar erschreckend viel von Dekadenz und Zerstörung, aber er ist alles andere als ein vertrauenswürdiger Weltweiser.“ Wer würde da widersprechen wollen. Und noch eines muss man diesem Werk lassen. In seiner Mischung aus Selbstzentriertheit, Unverständlichkeit und offenkundiger Überforderung angesichts des Gegenstands, den es zu behandeln vorgibt, handelt es sich, zumindest nach Stangneths Kriterien, um ein sehr deutsches Buch.
Bettina Stangneth: Überforderung – Putin und die Deutschen
; Rowohlt, Hamburg 2023,
144 Seiten, 16 Euro