Ryuichi Sakamoto: Ryuichi Sakamoto im Jahr 2022, kurz vor der Veröffentlichung seines letzten Albums "12"
Ryuichi Sakamoto im Jahr 2022, kurz vor der Veröffentlichung seines letzten Albums „12“ 

In dem Dokumentarfilm Ryuichi Sakamoto: Coda von 2017 erzählt der japanische Komponist, Pianist, Produzent und Schauspieler, wie er nach einer überstandenen Krebserkrankung wieder an die Arbeit gegangen ist. Die Ärzte hatten ihm geraten, sich zu schonen, deshalb habe er sich zunächst auf acht Stunden Musikmachen am Tag beschränkt. Sakamoto war also ein Arbeitstier, strahlte dabei jedoch die innere Ruhe eines buddhistischen Mönchs aus. Als Mensch, der die Welt, die Kunst und die Natur ganzheitlich dachte, war er aktiv in der japanischen Antiatomkraftbewegung und trat ein für eine Zivilisation, die wieder mehr Wert auf die Bedürfnisse der Menschen legen sollte. Die schönste Installation, sagte Sakamoto einmal, sei das Geräusch von fallendem Regen. Naturgeräusche flossen in die Musik seiner Spätphase ein, sie kam mit weniger Tönen aus als das Frühwerk, machte die Klangräume aber weit auf.

Viele kennen Sakamotos Musik, seinen Namen jedoch nur wenige. Soundtracks für Erfolgsfilme wie Der letzte Kaiser und Little Buddha hat der Künstler geschrieben, für Fernsehserien wie Black Mirror und für die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Barcelona, die 1992 im Fernsehen weltweit von mehr als einer Milliarde Menschen gesehen wurde. Doch es wäre falsch, Sakamotos Arbeit auf die Begleitmusik für Blockbuster und globale Massenevents zu reduzieren.

Sakamoto war ein unermüdlicher Klangforscher, immer an der Schöpfung von etwas Neuem interessiert, den Blick in den Rückspiegel verweigerte er. Mit seiner Band Yellow Magic Orchestra und als Solokünstler changierte er in mehr als vier Jahrzehnten zwischen Pop- und sogenannter Hochkultur, sprang zwischen den Genres hin und her und schuf auf diese Art ein einmaliges Werk, dessen Einfluss vor allem auf die elektronische Musik man gar nicht hoch genug einschätzen kann.

1970 begann Sakamoto an der Tokyo National University of Fine Arts and Music ein Studium der Komposition und der Musikethnologie, um später zu japanischer, indischer und afrikanischer Musik zu forschen. Während des Studiums kam er erstmals mit Synthesizern in Berührung, die den Studierenden an der Universität zur Verfügung gestellt wurden. Mit Haruomi Hosono und dem ebenfalls 2023 verstorbenen Yukihiro Takahashi folgte 1978 die Gründung der Band Yellow Magic Orchestra. Den Beruf des Musikwissenschaftlers hatte Sakamoto da schon wieder aufgegeben. Vor allem in Japan war das Yellow Magic Orchestra in seiner Frühphase sehr beliebt, mit mehreren Unterbrechungen bestand es bis 2012.

Die Band verband Einflüsse von Pionieren der elektronischen Musik wie Kraftwerk mit traditioneller japanischer Musik sowie Disco und Funk zu einer neuen Art von Electro-Pop. Dieser war stilprägend für die Entwicklung der elektronischen Musik in den Achtzigerjahren und beeinflusste Genres wie Synthiepop, House und Ambient. Nicht nur DJ und Produzenten wie Juan Atkins, der den Detroit Techno begründete, beriefen sich jedoch auf Sakamotos Band. Samples des Yellow Magic Orchestra finden sich auch in Tracks von Hip-Hop-Acts wie Afrika Bambaataa, De La Soul und J Dilla sowie in Songs von Jennifer Lopez. Das Album BGM des Yellow Magic Orchestra aus dem Jahr 1981 war das erste der Musikgeschichte, auf dem ein Roland TR-808 zu hören war – der Drumcomputer wurde in den Folgejahren zum wichtigsten Instrument für Hip-Hop, Techno und Acid House.

Sakamotos erstes Soloalbum Thousand Knives erschien bereits im Oktober 1978, einen Monat vor dem Debütalbum des Yellow Magic Orchestra. Mit der Platte deutete der Künstler jenes grenzenlose Musikverständnis bereits an, das sein Werk in den kommenden Jahrzehnten bestimmen würde. Synth-Pop-Tracks standen neben Entwürfen von musique concrète, zeitgenössische klassische Musik stand neben elektronischen Experimenten. Thousand Knives wurde jedoch außerhalb Japans kaum beachtet, erst mit dem zweiten Soloalbum B-2 Unit gelang Sakamoto 1980 ein Meilenstein, mit dem er Einfluss bis weit in die Neunzigerjahre nehmen sollte. Der Track Riot in Lagos war archaischer Electro-Funk, eine Vorform von House und Techno, die wenig später in den USA populär werden würde. Andere Stücke enthielten weitere Vorahnungen auf die Musik des folgenden Jahrzehnts: Soundtütfteleien, wie sie später für das britische Label Warp (Aphex Twin, Autechre) charakteristisch werden würden, Frühformen von Drum’n‘ Bass.

Jeder kannte die Musik, kaum jemand den Mann dahinter

Ryuichi Sakamoto 1987
Sakamoto im Jahr 1987 in Amsterdam

In der Folgezeit veröffentlichte Sakamoto zahlreiche weitere Soloalben, die neue Wege für Popmusik, Ambient, zeitgenössische Klassik, Jazz, Bossa nova und abstrakte Elektronik aufzeigten. Er schrieb Werke für Orchester, Solopiano und Installationen sowie die Opern Life (1999) und Time (2021). Zu seinen Kooperationspartnern gehörten David Byrne von den Talking Heads, Brian Wilson von den Beach Boys, Robert WyattIggy Pop und der Komponist und bildende Künstler Nam June Paik.

Am fruchtbarsten und langlebigsten waren jedoch Sakamotos Zusammenarbeiten mit dem britischen Musiker David Sylvian und dem Deutschen Alva Noto. Erstere kam 1980 zustande, als Sakamoto als Co-Autor und Musiker am Song Taking Islands in Africa von Sylvians damaliger Band Japan mitwirkte. Die Kooperation mit dem Musiker und Künstler Alva Noto, bürgerlich: Carsten Nicolai, begann Anfang der Nullerjahre und mündete bis 2019 in einer Reihe von Alben, auf denen Nicolai die Pianomusik Sakamotos mit digitaler Ambience unterfütterte.

In seinen letzten Lebensjahrzehnten verlor Sakamoto zunehmend das Interesse an Pop zugunsten von Experimentellem: Die Musikerphrase, dass jedes Album, jedes Projekt etwas Neuartiges sein müsse und keinesfalls ältere Errungenschaften wiederholen dürfe, traf auf ihn tatsächlich zu. Selbst den rund 50 Soundtracks für Spielfilme, TV-Serien, Dokumentationen und Computerspiele, die Sakamoto komponierte, hört man das an: Er schrieb sie für Regisseure wie Pedro Almodóvar, Brian De Palma, Alejandro González Iñárritu und Bernardo Bertolucci. Die Filmmusik für Bertoluccis Monumentalfilm Der letzte Kaiser brachte Sakamoto dabei 1987 einen Oscar, einen Golden Globe und einen Grammy ein. Sporadisch trat er selbst vor die Kamera, obwohl er es nicht besonders mochte, sein Gesicht auf der Leinwand zu sehen. In Nagisa Ōshimas Weltkriegsfilm Furyo – Merry Christmas, Mr. Lawrence, für den Sakamoto auch den Soundtrack schrieb, spielte er 1983 den Kommandanten eines Kriegsgefangenenlagers. Sein Gegenspieler wurde von David Bowie verkörpert.

Seit Jahren schon litt Sakamoto unter der Verschlechterung seines Gesundheitszustandes. 2014 zwang ihn der Kehlkopfkrebs zu einer kreativen Pause, nach der er als geheilt galt. Anfang 2021 kehrte die Krankheit jedoch zurück. Der Krebs hatte auf den Darm gestreut und war Mitte 2022 auch auf beide Lungen übergegangen. Sakamoto musste sich mehreren schweren Operationen unterziehen. Als im November des vergangenen Jahres das Album A Tribute To Ryuichi Sakamoto – To The Moon And Back erschien, deuteten viele Beobachter dies schon als Abschiedsgeschenk an den Künstler. Weggefährten wie Sylvian, Alva Noto und Christian Fennesz sowie jüngere Fans wie Thundercat und Blood Orange interpretierten darauf die Musik des Künstlers.

Sakamoto war aber noch nicht fertig. Mitte Dezember gab er das Onlinekonzert Playing The Piano 2022, das weltweit gestreamt wurde. Für ein reguläres Konzert vor Publikum war er da schon zu schwach, am 17. Januar 2023, Sakamotos 71. Geburtstag, veröffentlichte er jedoch noch das Album 12, seine letzte Soloplatte. Nun ist Sakamoto am 28. März in Tokio gestorben. Aus seiner Ehe mit der Sängerin und Pianistin Akiko Yano, die als Tour-Keyboarderin auch zum Yellow Magic Orchestra gehörte, ging die Tochter Miu Sakamoto hervor, heute eine populäre J-Pop-Sängerin. Der Name Sakamoto wird in der japanischen Musik also weiterhin eine entscheidende Rolle spielen.

Apr. 2023 | In Arbeit | Kommentieren

Kommentar abgeben