Ryuichi Sakamoto: Ryuichi Sakamoto im Jahr 2022, kurz vor der Veröffentlichung seines letzten Albums "12"
Ryuichi Sakamoto im Jahr 2022, kurz vor der Veröffentlichung seines letzten Albums „12“ 

In dem Dokumentarfilm Ryuichi Sakamoto: Coda von 2017 erzählt der japanische Komponist, Pianist, Produzent und Schauspieler, wie er nach einer überstandenen Krebserkrankung wieder an die Arbeit gegangen ist. Die Ärzte hatten ihm geraten, sich zu schonen, deshalb habe er sich zunächst auf acht Stunden Musikmachen am Tag beschränkt. Sakamoto war also ein Arbeitstier, strahlte dabei jedoch die innere Ruhe eines buddhistischen Mönchs aus. Als Mensch, der die Welt, die Kunst und die Natur ganzheitlich dachte, war er aktiv in der japanischen Antiatomkraftbewegung und trat ein für eine Zivilisation, die wieder mehr Wert auf die Bedürfnisse der Menschen legen sollte. Die schönste Installation, sagte Sakamoto einmal, sei das Geräusch von fallendem Regen. Naturgeräusche flossen in die Musik seiner Spätphase ein, sie kam mit weniger Tönen aus als das Frühwerk, machte die Klangräume aber weit auf.

Viele kennen Sakamotos Musik, seinen Namen jedoch nur wenige. Soundtracks für Erfolgsfilme wie Der letzte Kaiser und Little Buddha hat der Künstler geschrieben, für Fernsehserien wie Black Mirror und für die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Barcelona, die 1992 im Fernsehen weltweit von mehr als einer Milliarde Menschen gesehen wurde. Doch es wäre falsch, Sakamotos Arbeit auf die Begleitmusik für Blockbuster und globale Massenevents zu reduzieren.

Sakamoto war ein unermüdlicher Klangforscher, immer an der Schöpfung von etwas Neuem interessiert, den Blick in den Rückspiegel verweigerte er. Mit seiner Band Yellow Magic Orchestra und als Solokünstler changierte er in mehr als vier Jahrzehnten zwischen Pop- und sogenannter Hochkultur, sprang zwischen den Genres hin und her und schuf auf diese Art ein einmaliges Werk, dessen Einfluss vor allem auf die elektronische Musik man gar nicht hoch genug einschätzen kann.

1970 begann Sakamoto an der Tokyo National University of Fine Arts and Music ein Studium der Komposition und der Musikethnologie, um später zu japanischer, indischer und afrikanischer Musik zu forschen. Während des Studiums kam er erstmals mit Synthesizern in Berührung, die den Studierenden an der Universität zur Verfügung gestellt wurden. Mit Haruomi Hosono und dem ebenfalls 2023 verstorbenen Yukihiro Takahashi folgte 1978 die Gründung der Band Yellow Magic Orchestra. Den Beruf des Musikwissenschaftlers hatte Sakamoto da schon wieder aufgegeben. Vor allem in Japan war das Yellow Magic Orchestra in seiner Frühphase sehr beliebt, mit mehreren Unterbrechungen bestand es bis 2012.

Die Band verband Einflüsse von Pionieren der elektronischen Musik wie Kraftwerk mit traditioneller japanischer Musik sowie Disco und Funk zu einer neuen Art von Electro-Pop. Dieser war stilprägend für die Entwicklung der elektronischen Musik in den Achtzigerjahren und beeinflusste Genres wie Synthiepop, House und Ambient. Nicht nur DJ und Produzenten wie Juan Atkins, der den Detroit Techno begründete, beriefen sich jedoch auf Sakamotos Band. Samples des Yellow Magic Orchestra finden sich auch in Tracks von Hip-Hop-Acts wie Afrika Bambaataa, De La Soul und J Dilla sowie in Songs von Jennifer Lopez. Das Album BGM des Yellow Magic Orchestra aus dem Jahr 1981 war das erste der Musikgeschichte, auf dem ein Roland TR-808 zu hören war – der Drumcomputer wurde in den Folgejahren zum wichtigsten Instrument für Hip-Hop, Techno und Acid House.

Sakamotos erstes Soloalbum Thousand Knives erschien bereits im Oktober 1978, einen Monat vor dem Debütalbum des Yellow Magic Orchestra. Mit der Platte deutete der Künstler jenes grenzenlose Musikverständnis bereits an, das sein Werk in den kommenden Jahrzehnten bestimmen würde. Synth-Pop-Tracks standen neben Entwürfen von musique concrète, zeitgenössische klassische Musik stand neben elektronischen Experimenten. Thousand Knives wurde jedoch außerhalb Japans kaum beachtet, erst mit dem zweiten Soloalbum B-2 Unit gelang Sakamoto 1980 ein Meilenstein, mit dem er Einfluss bis weit in die Neunzigerjahre nehmen sollte. Der Track Riot in Lagos war archaischer Electro-Funk, eine Vorform von House und Techno, die wenig später in den USA populär werden würde. Andere Stücke enthielten weitere Vorahnungen auf die Musik des folgenden Jahrzehnts: Soundtütfteleien, wie sie später für das britische Label Warp (Aphex Twin, Autechre) charakteristisch werden würden, Frühformen von Drum’n‘ Bass.

Jeder kannte die Musik, kaum jemand den Mann dahinter

Ryuichi Sakamoto 1987
Sakamoto im Jahr 1987 in Amsterdam

In der Folgezeit veröffentlichte Sakamoto zahlreiche weitere Soloalben, die neue Wege für Popmusik, Ambient, zeitgenössische Klassik, Jazz, Bossa nova und abstrakte Elektronik aufzeigten. Er schrieb Werke für Orchester, Solopiano und Installationen sowie die Opern Life (1999) und Time (2021). Zu seinen Kooperationspartnern gehörten David Byrne von den Talking Heads, Brian Wilson von den Beach Boys, Robert WyattIggy Pop und der Komponist und bildende Künstler Nam June Paik.

Am fruchtbarsten und langlebigsten waren jedoch Sakamotos Zusammenarbeiten mit dem britischen Musiker David Sylvian und dem Deutschen Alva Noto. Erstere kam 1980 zustande, als Sakamoto als Co-Autor und Musiker am Song Taking Islands in Africa von Sylvians damaliger Band Japan mitwirkte. Die Kooperation mit dem Musiker und Künstler Alva Noto, bürgerlich: Carsten Nicolai, begann Anfang der Nullerjahre und mündete bis 2019 in einer Reihe von Alben, auf denen Nicolai die Pianomusik Sakamotos mit digitaler Ambience unterfütterte.

In seinen letzten Lebensjahrzehnten verlor Sakamoto zunehmend das Interesse an Pop zugunsten von Experimentellem: Die Musikerphrase, dass jedes Album, jedes Projekt etwas Neuartiges sein müsse und keinesfalls ältere Errungenschaften wiederholen dürfe, traf auf ihn tatsächlich zu. Selbst den rund 50 Soundtracks für Spielfilme, TV-Serien, Dokumentationen und Computerspiele, die Sakamoto komponierte, hört man das an: Er schrieb sie für Regisseure wie Pedro Almodóvar, Brian De Palma, Alejandro González Iñárritu und Bernardo Bertolucci. Die Filmmusik für Bertoluccis Monumentalfilm Der letzte Kaiser brachte Sakamoto dabei 1987 einen Oscar, einen Golden Globe und einen Grammy ein. Sporadisch trat er selbst vor die Kamera, obwohl er es nicht besonders mochte, sein Gesicht auf der Leinwand zu sehen. In Nagisa Ōshimas Weltkriegsfilm Furyo – Merry Christmas, Mr. Lawrence, für den Sakamoto auch den Soundtrack schrieb, spielte er 1983 den Kommandanten eines Kriegsgefangenenlagers. Sein Gegenspieler wurde von David Bowie verkörpert.

Seit Jahren schon litt Sakamoto unter der Verschlechterung seines Gesundheitszustandes. 2014 zwang ihn der Kehlkopfkrebs zu einer kreativen Pause, nach der er als geheilt galt. Anfang 2021 kehrte die Krankheit jedoch zurück. Der Krebs hatte auf den Darm gestreut und war Mitte 2022 auch auf beide Lungen übergegangen. Sakamoto musste sich mehreren schweren Operationen unterziehen. Als im November des vergangenen Jahres das Album A Tribute To Ryuichi Sakamoto – To The Moon And Back erschien, deuteten viele Beobachter dies schon als Abschiedsgeschenk an den Künstler. Weggefährten wie Sylvian, Alva Noto und Christian Fennesz sowie jüngere Fans wie Thundercat und Blood Orange interpretierten darauf die Musik des Künstlers.

Sakamoto war aber noch nicht fertig. Mitte Dezember gab er das Onlinekonzert Playing The Piano 2022, das weltweit gestreamt wurde. Für ein reguläres Konzert vor Publikum war er da schon zu schwach, am 17. Januar 2023, Sakamotos 71. Geburtstag, veröffentlichte er jedoch noch das Album 12, seine letzte Soloplatte. Nun ist Sakamoto am 28. März in Tokio gestorben. Aus seiner Ehe mit der Sängerin und Pianistin Akiko Yano, die als Tour-Keyboarderin auch zum Yellow Magic Orchestra gehörte, ging die Tochter Miu Sakamoto hervor, heute eine populäre J-Pop-Sängerin. Der Name Sakamoto wird in der japanischen Musik also weiterhin eine entscheidende Rolle spielen.

Apr. 2023 | In Arbeit | Kommentieren
Unendlichkeit ist schwer zu begreifen. Eine Idee davon liefern verspiegelte Räume wie dieser im Urwelt-Museum in Bayreuth.

 

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Apr. 2023 | In Arbeit | Kommentieren

Am Bosporus zeigt sich, wie ein Abgleiten in den Autoritarismus ein Land mit großen Möglichkeiten nachhaltig schädigen kann

Die Türkei erlebt derzeit ihr Bevölkerungsoptimum:

Sie erlebt eine Zeit, in der Gesellschaften zu großer Produktivität auflaufen und ihre Geschicke nachhaltig zum Besseren wenden können. – Könnten. Großartige Möglichkeiten zwar. Damit sie aber Realität werden, braucht es eine gute Politik.
Man kann diese historisch einmalige Chance auch vergeben.
In der Türkei öffnete sich das demographische Fenster in den 2000er Jahren. Der Anteil der Bürger im arbeitsfähigen Alter stieg rapide. In den vergangenen Jahren erreichte dieser Wert sein Maximum:

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Apr. 2023 | Allgemein, In vino veritas, Politik, Sapere aude | Kommentieren

Mit Trawlern und Forschungsschiffen versucht Russland sich Medienberichten zufolge ein Bild von der Unterseeinfrastruktur in Nord- und Ostsee zu machen. Bei einer Annäherung tauchte an Bord schwer bewaffnetes Personal auf.
Laut einem Medienbericht wird das Forschungsschiff »Admiral Wladimirsky« wohl für das Ausspionieren von kritischer Infrastruktur eingesetzt

 

Russland führt unter dem Deckmantel der zivilen Schifffahrt offenbar Spionageaktivitäten in größerem Umfang durch als bislang bekannt. Das legt ein Bericht der öffentlich-rechtlichen Sender in Dänemark (DR), Norwegen (NRK), Schweden (SVT) und Finnland (Yle) nahe. In der Dokuserie »The Shadow File« berufen sich die Medien auf Geheimdienstinformationen aus den jeweiligen Ländern.

Demnach versucht Russland derzeit mit einem Spionageprogramm, einen Überblick über Offshore-Windparks, Gaspipelines sowie unterseeische Strom- und Internetkabel in den Gewässern um die nordeuropäischen Staaten zu erhalten. Zum Einsatz kommen demnach neben militärisch ausgeflaggten Schiffen auch verschiedene zivile Schiffe.

Ziel der Spionage ist dem Bericht zufolge, mögliche Sabotageakte gegen die nordischen Staaten durchzuführen, etwa eine Zerstörung der Unterseekabel nach Europa oder Nordamerika. Im Fall eines Konflikts mit dem Westen wisse Russland, wie sich die dänische Gesellschaft paralysieren lasse, zitierte der dänische Sender DK einen Mitarbeiter des dänischen Inlandsnachrichtendienstes PET. Ein norwegischer Geheimdienstler äußerte sich ebenfalls alarmiert.

»Admiral Wladimirsky« im Fokus

Im Zentrum der Recherche von DR, NRK, SVT und Yle steht das russische Schiff »Admiral Wladimirsky«, das offiziell der Ozeanforschung nachgehen soll. Wie die Sender unter Berufung auf ihre Quellen berichten, fuhr das fast 150 Meter lange Schiff im vergangenen November jedoch anders als üblich ohne aktivierten Positionstransmitter (AIS) durch den Kattegat. Dabei schickte das Schiff laufend Funknachrichten mit der eigenen Position an eine Marinebasis in Russland.

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Anhand der Angaben konnte ein Journalist des Senders DR die »Admiral Wladimirsky« orten und sich ihr mit einem Schlauchboot nähern. An Bord erschien daraufhin offenbar mindestens ein schwer bewaffneter Mann. Videoaufnahmen zeigen, wie das Forschungsschiff vor Anker liegt und mehrere Menschen an Deck das Schlauchboot beobachten.

Den Angaben zufolge soll sich die »Admiral Wladimirsky« insgesamt mehrere Wochen in der Ostsee, im Großen Belt, im Kattegat und in der Nordsee in der Nähe bereits gebauter oder geplanter Windparks aufgehalten haben. Ein mögliches Ziel für Sabotageakte könnten demnach etwa Seekabelstränge sein, mit denen sich ganze Windparks vom Netz nehmen ließen.

Russlands Botschafter in Norwegen reagiert

Wie die Sender bereits zuvor berichtet hatten, sollen in den vergangenen zehn Jahren insgesamt 50 russische Schiffe in verdächtige Aktivitäten in den Nordmeeren verwickelt gewesen sein. Zuletzt hatten etwa Belgien und die Niederlande mitgeteilt, russische Marineaktivitäten in der Nähe von Nordseewindparks registriert zu haben.
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Auf Anfrage der Medien war nur Russlands Botschafter in Norwegen zu einer Stellungnahme bereit. Die Arbeit der Forschungsschiffe erfolge vollständig im Rahmen internationalen Rechts, teilte Teimuraz Ramishvili demnach mit.

Apr. 2023 | In Arbeit | Kommentieren

Gerade startet im ORF die mehrteilige TV-Serie „Der Schwarm“. Die Natur schlägt darin in einer Art akkordierter Aktion zurück. Dabei handelt es sich um Fiktion – aber zugrunde liegt der Geschichte die Idee der Schwarmintelligenz. Warum bestimmte Lebewesen im Schwarm besser überleben können: Im Schwarm geht es weniger darum, dass man gemeinsam stärker ist – sondern dass man schlauer ist – man kann tatsächlich beobachten, dass Schwärme ihre Mitglieder in die Lage versetzen, kognitive Probleme zu lösen, die ein einzelnes Tier alleine nicht so gut oder garnicht bewältigen kann: einen Räuber zu entdecken oder Futter zu finden.

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Apr. 2023 | Allgemein, Essay, Sapere aude | Kommentieren

Auf Bambusstelzen: das Green Women’s Centre in Darya Khan Sheikh von Yasmeen Lari (Bild)
Mal dauert ein Video 8 Minuten und 22 Sekunden, mal 5 Minuten und 55 Sekunden. Auftakt macht stets ein simples Grafikdesign. „Earth Lime Brick Making“ steht dort dann etwa in blockförmigen Lettern. Daneben ist eine Frau im bunten Sari vor den grünen Hintergrund collagiert.

 

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Apr. 2023 | Allgemein, Essay, In vino veritas | Kommentieren

Ein Mann wurde in Texas schuldig gesprochen, weil er einen Anti-Rassismus-Demonstranten erschossen hatte. Keine 24 Stunden später springt der republikanische Gouverneur dem Verurteilten bei – und schrieb gegen den »progressiven Staatsanwalt«. Derzeit diskutieren im US-Bundesstaat Texas Politiker und die Bevölkerung über die mögliche Begnadigung eines gerade verurteilten Mörders. Der Mann war gerade des Mordes an einem Demonstranten bei einem Black-Lives-Matter-Protest für schuldig befunden worden – keine 24 Stunden später setzte sich der republikanische Gouverneur Greg Abbott für seine Begnadigung ein.

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Apr. 2023 | Allgemein, In vino veritas | Kommentieren

Eigentlich hat die Cannabis-Industrie in Deutschland mit Rekord-Umsätzen gerechnet. Aber das überarbeitete Eckpunktepapier zur Legalisierung begräbt diese Hoffnung. Im Interview erzählt swe Unternehmer Finn Hänsel, ob sein Geschäftsmodell darunter leidet, und wie es jetzt weiter geht.

Der ursprünglich geplante freie Verkauf von Cannabis für Erwachsene in Fachgeschäften ist derzeit im aktuellen Eckpunktepapier gerade gestrichen.  Wie finden Sie das?

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Apr. 2023 | Allgemein, Essay, Gesundheit, In vino veritas | Kommentieren

Im ZDF iskutierten bei „Markus Lanz“ der „Versandhaus-König“ Michael Otto, der gerade seinen 80. Geburtstag feiert und noch immer einer internationalen Konzerngruppe mit rund 16 Milliarden Euro Umsatz vorsteht, unter anderem mit Klimaaktivistin Carla Reemtsma über die Nachhaltigkeits-Bemühungen seiner Firma sowie den Gedanken des Verzichts.
Zunächst lenkte Markus Lanz das Gespräch jedoch auf den deutschen Atomausstieg. Am 15. April sollen die drei letzten Kernkraftwerke abgeschaltet werden.
Ein Fakt, der auch bei Unternehmer Michael Otto durchaus „eine gewisse Zufriedenheit“ auslöste:

 

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Apr. 2023 | Allgemein, Essay, In vino veritas, Senioren | Kommentieren
Die Klimakrise hat längst direkte Auswirkungen auf die Wirtschaft. Auch die gesellschaftliche Verantwortung großer Unternehmen rückt hierbei immer mehr in den Vordergrund. Bei „Markus Lanz“ ging es um Konsum, Verzicht und die wahren Verursacher der Klimakrise.

Weltweit wird im Rekordtempo immer mehr produziert, immer mehr konsumiert. Doch wie schädlich sind die Folgen des Wachstumswahnsinns für unsere Gesellschaft und die Umwelt?

Bei „Markus Lanz“ diskutierte der „Versandhaus-König“ Michael Otto, der heute seinen 80. Geburtstag feiert und noch immer einer internationalen Konzerngruppe mit rund 16 Milliarden Euro Umsatz vorsteht, unter anderem mit Klimaaktivistin Carla Reemtsma über die Nachhaltigkeits-Bemühungen seiner Firma sowie den Gedanken des Verzichts.

Zunächst lenkte Markus Lanz das Gespräch jedoch auf den deutschen Atomausstieg. Am 15. April sollen die drei letzten Kernkraftwerke abgeschaltet werden. Ein Fakt, der bei Unternehmer Michael Otto Zufriedenheit auslöste: „Grundsätzlich ist der Atomausstieg eine richtige Entscheidung.“ Dennoch warnte er, dass der Ausstieg etwas zu früh komme, denn: „Die Monate, in denen die Brennstäbe noch gehen, sollte man sie noch ausnutzen.“

 
Dem entgegnete Klimaaktivistin Carla Reemtsma entschieden: „Wir könnten auf die Erneuerbaren viel schneller umsteigen, wenn die Politik engagierter wäre.“ Michael Otto ergänzte zustimmend: „Das bedeutet, dass wir mit Hochdruck die erneuerbaren Energien voranbringen müssen. Die sind heute schon günstiger als die fossilen Energien.“

Lanz zu Klima-Zahlen: „Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen“

Lanz ließ sich sich in diesem Zusammenhang noch schnell Zahlen von Reemtsma bestätigen, wonach 71 Prozent der weltweiten Emissionen von nur 100 Konzernen verursacht werden würden – rund zehn Prozent allein vom Mineralölkonzern Shell. „Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen“, staunte Lanz.

Die Klimaaktivistin kommentierte nüchtern: „Das zeigt, dass wir ein systematisches Problem haben, das eine systematische Lösung braucht.“ Zudem würden derartige Zahlen den neoliberalen Irrglauben entlarven, wonach „wir alle ganz allein die Klimakrise aufhalten können, indem wir noch eine Bambuszahnbürste kaufen.“

Journalistin: „Gibt heute mehr Sklaven als zu Zeiten des Sklavenhandels“

Daraufhin fokussierte sich der Moderator auf den weltweit ansteigenden Konsum und die damit einhergehenden umweltschädlichen Produktionsprozesse – auch in der Kleidungsindustrie, die jährlich rund 120 Milliarden Kleidungsstücke herstellen soll. Eine gigantische Zahl, die mit Unmengen an Plastik, Pestiziden und vielen weiteren Schadstoffen einhergeht.

Journalistin Kathrin Hartmann ergänzte: „Es kommen noch die unglaubliche Wasserverschwendung und noch 4 Millionen Tonnen Altkleider hinzu. Es wird alles in immer schnellerer Geschwindigkeit hergestellt und weggeworfen. Es ist insgesamt eine sehr, sehr schädliche Industrie.“ Die Journalistin weiter: „Es reicht, sich klarzumachen, dass es heute mehr Sklaven gibt als zu Zeiten des Sklavenhandels.“

Journalistin stichelt gegen Handelsgiganten Otto

Markus Lanz schaltete sich daraufhin mit ein und warf dem Unternehmer Otto vor: „Sie sind doch in gewisser Weise ein Teil dieser Maschinerie. Sie leben doch davon, dass Menschen Dinge konsumieren und auch wegwerfen!“ Als der Ehrenbürger Hamburgs zunächst versuchte, sich zu verteidigen und zu erklären, dass sein Versandhaus schon seit Jahren den Fokus auf eine faire Produktion und Nachhaltigkeit lege, stichelte Kathrin Hartmann: „Es ist oft so, dass umweltfreundliche Projekte von Unternehmen nur einen kleinen Teil des Sortiments ausmachen, während alles andere zu herkömmlichen Bedingungen hergestellt wird.“

Der Unternehmer wollte dies nicht unkommentiert lassen und behauptete bei „Markus Lanz“: „Wir wollen keine Discount-Billig-Produkte produzieren, die man wegwirft. Wir müssen weg von der Wegwerfgesellschaft. Wir wollen nicht davon leben, dass man schlechte Produkte hat, die man häufig ersetzen muss.“ Otto weiter: „Wirtschaft und Werte gehören zusammen.“

 

Aktivistin Reemtsma warnt bei Lanz: 'Die Klimakrise ist das größte Wohlstandsrisiko, das wir haben'

ZDF / Cornelia Lehmann Aktivistin Reemtsma warnt bei Lanz: ‚Die Klimakrise ist das größte Wohlstandsrisiko, das wir haben‘

Kathrin Hartmann: „Verzicht ist ein sehr vergiftetes Wort“

Lanz wollte daraufhin vom Arbeitsmarkt-Ökonom Simon Jäger wissen: „Kapitalismus und Nachhaltigkeit – ist das zu schaffen?“ Der Chef des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit antwortete wenig optimistisch: „Ich glaube, das ist eine riesige Herausforderung.“

Der ZDF-Moderator hakte nach: „Müssen wir irgendwann eine Verzichts-Debatte führen?“ Kathrin Hartmann reagierte verhalten und erklärte: „Verzicht ist ein sehr vergiftetes Wort.“ Die Vorstellung, wie wir unsere Lebensgrundlage schützen, sei letztlich zu einem „Kampfbegriff“ und „Bedrohung für Wohlstand“ umgedeutet worden geworden, Hier werde bewusst eine fatale Täter-Opfer-Umkehr betrieben. „Wir müssen eher darüber sprechen, wie wir von diesem Wachstums-Diktat wegkommen. Ökologische und soziale Gerechtigkeit sind dabei ganz wichtig.“ Klimaaktivistin Carla Reemtsma sprang zur Seite: „Selbst Christian Lindner hat kürzlich das Wort Verzicht positiv in den Mund genommen. Menschen aus meiner Generation oder jünger werden aufgrund der Klimakrise auf extrem viel verzichten müssen. Die Klimakrise ist das größte Wohlstandsrisiko, das wir gerade haben.“

„Wären Sie heute eher bei Fridays for Future oder würden Sie sich auf die Straße kleben?“

Michael Otto stimmte der Argumentation der jungen Klimaaktivistin zu und wurde deshalb innerhalb der Sendung von Markus Lanz gefragt: „Wären Sie heute eher bei Fridays for Future oder würden Sie sich auf die Straße kleben?“ Die Antwort des Unternehmers folgte prompt: „Ich wäre bei Fridays for Future, weil ich der Meinung bin, dass durch aggressive Aktionen die Aufmerksamkeit eher auf die Aktion als auf das Thema Klimaschutz gelenkt wird. Das dient der Sache überhaupt nicht. Fridays for Future hat durch friedliche Proteste schon jetzt unheimlich viel Veränderung gebracht.“

Carla Reemtsma reagierte mit Blick auf die Letzte Generation zwar ähnliche skeptisch, fügte jedoch hinzu: „Ich finde es erschreckend, dass es Menschen gibt, die das Gefühl haben, sie müssen das tun“ – und damit ihre eigene Gesundheit gefährden und sich „auf jeden Fall viel Hass und Ärger aussetzen“ würden. Dabei verwies Reemtsma auf das Frauenwahlrecht, die Bürgerrechte von Afroamerikanern, den Atomausstieg: „All das gab es nur durch breiten Protest, der auch nicht immer nur freudestrahlend hingenommen wurde.“ – „Das muss auch weh tun, gar keine Frage“, gab es unerwartete Zustimmung von Lanz, der in einer früheren Sendung einer klebenden Klimademonstrantin noch vorgeworfen hatte: „Sie erpressen das Land.“

Apr. 2023 | In Arbeit | Kommentieren

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