Brave Bürger wehren sich gegen Bildersturm und Agitprop. Per Wahlzettel bekämpfen sie den sogenannten «Antirassismus», der in Amerika um sich greift. Dieser schafft statt Lösungen neue Ungerechtigkeiten. Und inzwischen ist unübersehbar, dass die Critical Race Theory die Aufklärung selbst ins Visier nimmt.
BU Die Hautfarbe soll wieder zentral sein. So hatte sich das Martin Luther King nicht gedacht. So wenig wie die weissen Studenten, die in Mississippi auch ihr Leben riskierten.
Mehr «woke» als in San Francisco geht nicht. Zuletzt hat die Stadt den Ladendiebstahl bis zu 950 Dollar vom «Verbrechen» zum «Vergehen» herabgestuft , was selten verfolgt und seltener bestraft wird. Wie erwünscht, gerieten weniger Afroamerikaner in die Gesetzesmühle.
Doch hat die soziale Gerechtigkeit ihren Preis. Gerade in den ärmeren Vierteln schossen Diebstähle in die Höhe. Dutzende von Drugstores gaben auf; ab in die Notaufnahme für das heilende Medikament. 80 Prozent aller Befragten glauben nun, dass die Kriminalität unaufhaltsam steige.
Gut gemeint ist nicht gut vollbracht, und so bäumt sich im Zentrum des Wokeismus die Reaktion auf – wie in anderen links regierten amerikanischen Städten von New York bis Seattle. Per Abwahl haben die Bürger im Februar die Radikalen im School-Board gefeuert, der die Bildungspolitik bestimmt. Die Eiferer wollten sich an den Heiligtümern der Nation vergreifen. Ikonen wie Washington, Jefferson und Lincoln gehörten aus den Namen von Schulen wegradiert, weil sie irgendwie Rassismus und Kolonialismus verkörperten.
Vor lauter «wokeness» ungerecht
Richtig zornig wurden die Eltern, als es ans Eingemachte ging, an jene öffentlichen Schulen, deren guter Ruf auf Aufnahmeprüfungen beruht. Diese helfen gerade begabten Kindern aus den Armenbezirken, die pro Jahr keine 40 000 Dollar für elitäre Privatschulen aufbringen können. Doch hat das Auswahlprinzip zu viele Amerikaner ostasiatischer Herkunft in den Genuss eines fordernden Curriculums gebracht. Also weg mit den Tests. Eine der Geschassten hatte diese Schüler bezichtigt, «das Denken der weissen Oberherrschaft zu übernehmen, um per Assimilierung hochzukommen». Aus mit dem amerikanischen Traum.
Es war eine feine Absicht. Es müssen mehr Schwarze und Braune («People of Color») in die besseren Schulen; jede schwächelnde Gruppe kriegt ihre nährende Suppe per Proporz. Doch schafft Social Engineering auch neues Unrecht. Denn mehr begehrte Schulplätze für die X sind weniger für die Y. Nettogewinn gleich null.
Und ein moralisches Problem. Was hat ein chinesischstämmiger Teenie, dessen Vorfahren im 19. Jahrhundert aus Rassenhass massakriert und beim Eisenbahnbau wie Sklaven gehalten wurden, mit der Gemeinheit schwarzer Knechtschaft zu tun? Die Kids büssen so für die Schandtaten der Sklaverei, weil sie an Quoten scheitern. Die Kollektivschuld kriecht ins System. Doch böse kann nur die Tat, nicht die Herkunft sein. Wenn Leistung verdächtig ist, entsteht eine neue Ständeordnung, die Macht und Status per Ethnie und Biologie zuweist.
Nach welchem Prinzip? Die Antwort liefert die «Critical Race Theory», die sich schier unaufhaltsam durch das Bewusstsein frisst. Sie als «Kritik» und «Theorie» zu adeln, ist zu viel der Ehre. Critical Race Theory ist eine Ideologie, die den Vorteil der eigenen Gruppe als universelle Moral verbrämt. So alt wie die Menschheit, rechtfertigt jede Ideologie, warum uns mehr zusteht als euch.
Der Kern der Critical Race Theory
Ein Blick zurück. Könige beriefen sich auf das «Gottesgnadentum». Karl Marx hat das Proletariat auf den Altar gehoben; nieder mit der Bourgeoisie! Karl Mannheim, der Uronkel der Kritischen Theorie, prägte vor hundert Jahren den Begriff der «Wissenssoziologie». «Wahrheit» sei ein Konstrukt, Ausfluss des sozialen Seins, welches das Denken bestimme. Wir verkünden, was unsere Machtinteressen bedient.
Mannheim konnte den Nazis entfliehen; so gelangte die «Sociology of Knowledge» nach England, dann nach Paris, wo Pierre Bourdieu, Michel Foucault et alii die Radikalisierung unter Zungenbrechern wie «Dekonstruktivismus» und «Poststrukturalismus» durchzogen. Auch hier: «Wahrheit» ist Illusion. Es gibt nur «Perspektiven» und «Erzählungen». Die Herrschenden lullen so die Massen ein. Einen dritten Pfeiler bildet der Neomarxist Antonio Gramsci. Die «Kulturhegemonie» sei zu erobern. Denn das Wort ist die Waffe, die Denken und Wollen lenkt. Das «Wahre» ist das Nützliche, das Vorherrschaft gebiert.
Ohne den Ideologie-Export in die amerikanischen Geisteswissenschaften wären die Postmodernisten in den Sechzigern vielleicht an der Rive Gauche sitzen geblieben. Nun triumphiert die Critical Race Theory von Harvard bis in die Provinz. Die zentralen Texte sind versammelt in dem Reader «Critical Race Theory: The Key Writings That Formed the Movement» (1996). William Galston hat sie im «Wall Street Journal» zusammengefasst; hier ist der Kern:
- CRT kann nicht objektiv sein. Jedwedes «Wissen ist unvermeidlich politisch», Munition im Machtkampf.
- Rasse ist alles. Weg mit verlogener «Integration, Assimilation und Farbenblindheit».
- Statt Martin Luther King: Antonio Gramsci. Der habe uns die Augen dafür geöffnet, dass «Kulturhegemonie die soziale Ordnung festigt» – zugunsten der Machthaber.
- Die Bürgerrechtsbewegung hat nur «symbolische Gewinne» gebracht, aber die Köpfe verdreht. Die Menschen begreifen deshalb nicht, dass Diskriminierung «strukturell» ist. Folglich gehört das System zerschlagen.
- CRT verdammt das liberale Prinzip der «Chancengleichheit». «Ergebnisgleichheit» muss den People of Color geben, was ihnen zusteht, doch nicht als Leistungsprämie. «Verdienst» ist kein «neutraler Massstab», weil die «Mächtigen die Zuteilung verfügen».
- «Affirmative Action» als Aufstiegsleiter ist Augenwischerei. Was scheinbar der ausgleichenden Gerechtigkeit dient, soll bloss «weisse Privilegien kaschieren». Der «Mythos der Chancengleichheit» garantiert nur den «Fortbestand weisser Vorherrschaft».
Auf dem Kerbholz des Westens
Den giftigen Kern formuliert ein Chefideologe der CRT, Ibrahim X. Kendi, in seinem Bestseller «How to Be an Antiracist» (2019): «Nur künftige Diskriminierung kann die heutige beseitigen.» Das heisst doch: Die Sklaverei und deren Folgen fordern neues Unrecht. Gestern waren Schwarze die Opfer, nun müssen die Weissen für ihre «systemischen» Privilegien Busse tun, egal, ob Kind oder Opa, Arzt oder Arbeitsloser. Das System ist eine einzige Verschwörung gegen die schwarze Rasse.
Das Böse des Weissseins könne allenfalls unterdrückt, nicht überwunden werden. Wie wollen wir es nennen – Rassismus 2.0, bloss farbenverkehrt?
Halten wir nun das Offenkundige fest: Der Westen hat Einiges auf dem Kerbholz. 500 Jahre Eroberung und Kolonialismus, Sklaverei, Minderheitenhatz, Blutrunst im Namen des «wahren» Glaubens.
Rassistische DNA
Die historischen Belege lassen sich nicht wegretuschieren. Doch will die CRT weder vergeben noch versöhnen. Denn Rassismus sei Teil der weissen DNA. Der Weisse kann ihn nicht abschütteln, weil er nicht kapiert, wie verdorben er ist. Kein Ausweg. Sagt einer «Ich bin kein Rassist», beweise er nur, dass er einer ist. «Black Lives Matter» ist korrekt; «All Lives Matter» ist Rassismus.
CRT ist au fond eine Attacke gegen das Beste im Westen, die Fundamente des kritischen Denkens von Platon bis Planck. Die würden zum Schierlingsbecher greifen, wenn sie hörten, dass Wissen und Fakten nur in Anführungszeichen daherkämen.
Die opaken Sätze der Postmoderne können vielleicht Eingeweihte entziffern. Jenseits der löchrigen Wissenschaftstheorie stellen andere die moralische Frage: Hat nicht der Westen aus seinem eigenen Gedankengebäude heraus die Sklaverei abgeschafft, die Unterdrückung bekämpft, die Despoten vertrieben, Gleichheit und Freiheit zelebriert, die Entrechteten emanzipiert? Ist der Liberalismus nur ein Verschleierungstrick der beati possidentes, sind Demokratie und Rechtsstaat nur Scheingebilde? Wenn es keine Wahrheit gibt, sind Chemie und Atomphysik bloss «Narrative». Und Liberalismus ist Lüge.
Die Aufklärung bleibt die Messlatte
Trotz – wegen – all seinen Sünden hat der Westen die Massstäbe entwickelt, an denen er sich (wenn auch mit Verspätung) misst. Welche Zivilisationen stellen sich dergestalt selber infrage? Dagegen ist Critical Race Theory wie ein moralisches Hütchenspiel, wo der weisse Loser von vornherein feststeht. Verloren gehen hart erkämpfte liberale Werte, die entweder für alle oder keinen gelten. Die Aufklärung hat nicht das Kollektiv, sondern das Individuum mit unveräusserlichen Rechten ausgestattet: Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.
Die Rechte des Einzelnen werden nicht durch Hautfarbe, Glauben und Herkunft definiert. Solche «Sortierung» hatten wir schon einmal – von der Sklaverei bis zum industriellen Massenmord. Wenn Ergebnis- die Chancengleichheit verdrängt, Wettbewerb nur die Falschen belohnt, erstarrt die Welt. Die Regie führt dann ein übermächtiger Staat, der bestimmt, wer was kriegt, und so neue Privilegien schafft – siehe die Nomenklatura der Sowjetunion. Wir haben Jahrhunderte gebraucht, um Rassismus und Klassismus zu ächten. Und jetzt wieder Pigmentierung als Mass? So hatte sich das Martin Luther King nicht gedacht. So wenig wie die weissen Studenten, die in Mississippi ihr Leben riskierten.
Das klingt reichlich sonor. Ganz praktisch: Es hilft keinem schwarzen Kind, wenn es in der woken Schule lernt, dass Mathematik ein Komplott der Suprematisten sei und es selber das ewige Opfer. Laut CRT ist der junge Mensch kein handlungsfähiges Ich mit den Chancen, die seinen Vorfahren per Lynchen und Gesetz geraubt wurden. Es gibt keine Erlösung. Critical Race Theory ist Rückschritt und Irrweg zugleich. Sie faselt von Revolution, um Reform zu ersticken.
Josef Joffe unterrichtet Politik und Ideenlehre an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies in Washington.