Wer nun aber etwa darum oder anderer ähnlicher Gegebenheiten wegen meint Gelegenheit haben zu dürfen einen Aufschrei riskieren zu können, wird – stracks – verhalten zwar aber enttäuscht. Stattdessen werden wir mit einer – was immer genau das bedeuten möchte – „Zeitenwende“ .abgespeist: Denwürdiger Weise dürfen wir (sollen wir?) an einer solchen teilhaben. – Oder ist das Ganze vielleicht doch nur eine Grossphrase? Wie auch immer, sie oder was wir dafür halten sollen wirkt – wenn auch langsam:
Die Zeitenwende wirkt, wenn auch langsam. Allein die Tatsache beweist es, dass wir jeden Tag öffentlich über den russischen Angriffskrieg sprechen, dass es eine Schlagzeile wert ist, wenn wir in der EU über die Munitionsfrage diskutieren, was vor Monaten keinen wirklich interessiert noch alarmiert hätte. Auch die Rede des Kanzlers im Bundestag anlässlich des Jahrestages des russischen Angriffs am 24. Februar und die Form, wie er geradezu selbstverständlich von der Lieferung auch der Panzer in die Ukraine sprach, wären vor Monaten noch undenkbar gewesen. Bestenfalls wäre einmal mehr darüber gesprochen worden, dass die Bundeswehr gestärkt gehöre.
Die plötzliche Wende hat allerdings auch etwas Befremdendes:
Wenn etwa der Grünen-Politiker Anton Hofreiter, der im Ruf eines Pazifisten stand, nun plötzlich fliessend über alle Waffensysteme referiert. Die klare Ansage auch der Grünen, der Ukraine uneingeschränkt Waffen zu liefern, hat viele überrascht und wäre vor einem Jahr unvorstellbar gewesen. Zumindesr so bemerkenswert finde ich es allerdings, dass deren Basis und deren Wählerinnen und Wähler das offensichtlich uneingeschränkt mittragen.
Deutschland zögerte lange, der Ukraine substanziell Waffen zu liefern. Ist die Politik nun tatsächlich entschlossener?
Dieses Zögern und Abwarten war ein grosser Fehler. Die Bundesrepublik hätte deutlich schneller reagieren müssen. Hätten in der Ostukraine rechtzeitig Leopard-Panzer gestanden, wäre die militärische Lage heute eine andere. Es ist tragischerweise zu viel Zeit ins Land gegangen. Inzwischen haben wir einen neuen Verteidigungsminister, der Bewegung ins System bringt. Er holt als Sozialdemokrat überdies Menschen ab, die bis dato wenig bis keinen Bezug zur Bundeswehr hatten und den Einsatz und die Lieferung von Waffen vor kurzem noch abgelehnt hätten. Das wäre einer konservativen Regierung so nicht gelungen Ein konservativer Kanzler wütde perse in gewissen Kreisen, egal was er entschieden hätte, deutlich mehr Widerstand ausgelöst haben – .
Die Ukrainer jedenfalls verteidigen ihr Land und erhalten dafür den Zuspruch der meisten deutschen Politiker
Entweder oder …
Durch die dramatischen Bilder, die wir jeden Tag aus der Ukraine zu sehen bekommen, und die Wahrnehmung, wie tapfer die Ukrainer ihre Heimat verteidigen, wird uns derzeit
drastisch vor Augen geführt, was es bedeutet, wenn ein grosses Land wie Russland die Integrität des Nachbarn unverfroren infrage stellt. Die eigene Heimat entsprechend zu verteidigen, ist eben ein Wert an sich. Wir Deutschen neigen sehr dazu, auf Herausforderungen entweder euphorisch oder komplett gegensätzlich, mit grossem Entsetzen und Ängsten, zu reagieren.Der eigenen Vergangenheit wegen haben die Deutschen sehr lange gebraucht, ihre Nation anzunehmen. Es ist uns hierzulande gelungen, die eigene Geschichte über Generationen hin aufzuarbeiten. Das hat besonders meine Generation geprägt und uns gelehrt, dass es von grosser Bedeutung ist, Teil einer starken Gemeinschaft zu sein. Konkret als Teil der EU und Mitglied der Nato.
Wächst durch den Krieg in Deutschland auch das Bewusstsein, dass man selbst einen wehrhaften Nationalstaat braucht?
Ich hoffe doch sehr, dass es den meisten Menschen dämmert, dass ein friedliches Leben in Freiheit und Demokratie nicht gottgegeben ist, sondern immer gehegt und gepflegt und im Ernstfall auch verteidigt werden muss. Viele Menschen in Deutschland haben vermutlich geglaubt, dass wir nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges sicher und unbeschadet im Herzen Europas leben können, umringt von befreundeten Staaten.
Spätestens mit dem russischen Angriff dürfte klargeworden sein,
dass auch wir der Aggression Russlands ausgesetzt sind
Auf manch russischem Panzern steht „nach Berlin“, und der tschetschenische Präsident und Moskaus Verbündeter Kadyrow droht offen mit der Besetzung von Ostdeutschland.
Uns muss allen klar sein: Noch nie hat es in der Weltgeschichte eine so lange Friedensphase gegeben wie in Europa seit 1945 bis heute. Wir sollten nicht naiv sein, eine solche Phase kann jederzeit ein Ende finden. Das bedeutet nicht, dass wir ängstlich oder gar hysterisch sein sollen. Wehrwillig, wehrhaft und wehrfähig sollten wir aber schon sein.
Bedarf die Bundeswehr eines „Feindbildes“, und dieses sei Russland?
Oder warum braucht die deutsche Armee einen konkreten Feind?
Wir sollten uns der Gefahren bewusst sein, denen wir ausgesetzt sind. Die freie westliche Welt wird heute damit konfrontiert, dass es brutale Autokraten gibt, deren erklärtes Ziel es ist, der Demokratie den Kampf anzusagen: wirtschaftlich, gesellschaftlich, leider auch militärisch. Dabei kann es sich um Angriffe konventioneller Art, aber auch um Cyberangriffe oder aber auch um gezielte Destabilisierung der Demokratie von innen heraus handeln. Im Netz werden tagtäglich Fake News verbreitet, um die Gesellschaft zu destabilisieren. Es ist offensichtlich, dass sich die Sprache im Netz massiv radikalisiert hat. Bereits während der Pandemie wurde das deutlich sichtbar, und es setzt sich seit dem ÜbergallRusslands auf die Ukraine fort.
Putin hat offensichtlich mit einer geschwächten westlichen Gesellschaft gerechnet
In der Tat hat die westlichen Gesellschaft sich mehr mit sich selbst beschäftigt – die ja bereits auf die Annexion der Krim und den ersten Angriff auf den Donbass 2014 kaum reagiert. Da wurde sogar Verständnis für Russlands Vorgehen geäussert: Na ja, man müsse ja auch verstehen, die Russen wollten einen garantierten Zugang zur eigenen Schwarzmeerflotte haben. Solche Erklärungen waren verstörend. Corona hat dem Westen übrigens strategisch viele Rückschläge beschert. Probleme, die man im Griff zu haben glaubte, brachen wieder auf. Beispielsweise im Nordirak, wo der „Terrorismus“ (dwaras allerdings war eine andere unerfreuliche Baustelle, wir waren zu dieser Zeit im Irak)erfolgreich bekämpft worden war, konnte der IS wieder Erfolge verbuchen, weil westliche Soldaten wegen Corona de facto nicht präsent sein konnten. Auch der Terror hat die Schwäche des Westens genutzt. Von Putin wird übrigens berichtet, auch er habe sich in der Pandemie aus Angst vor dem Virus zurückgezogen und sich noch mehr radikalisiert.
Das Schweizer Kriegsmaterialgesetz verbietet Ländern wie Deutschland die Wiederausfuhr von in der Schweiz erworbenen Waffen. Wie beurteilen Sie als Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag die Position der Schweiz?
Es steht mir nicht zu, der Schweiz zu erklären, was zu tun ist. Aber die Frage drängt sich auf: Was tun? In der Schweiz wird in grossem Stil Munition hergestellt, unter anderem für die deutschen Kampfflugzeuge Tornado und Eurofighter, für das Flugabwehrsystem Mantis und für den Flugabwehr-Kanonenpanzer Gepard, der zurzeit in der Ukraine im Einsatz ist, um unter anderem den Hafen von Odessa vor russischen Luftangriffen zu schützen. Von Odessa aus wird Getreide weltweit ausgeführt. Abhängig davon sind 190 Millionen Menschen. Um wenigstens einen Bruchteil dessen auszuführen, hat Deutschland die Schweiz um Erlaubnis gebeten, die bereits bei uns gelagerte Munition in die Ukraine auszuführen. Das Nein der Schweiz hat in Deutschland die Frage aufgeworfen, wie zuverlässig die Lieferkette dringend benötigter Munition in Zukunft sein wird, wenn die Schweiz selbst bei der Verteidigung von Lebensmittelausfuhr nicht liefert.
Welche Konsequenzen ziehen Deutschland und die Nato daraus?
Wir haben selbstverständlich die Schweizer Haltung zu akzeptieren. Aber denken wir mal weiter und nehmen einmal an, das Baltikum würde von Russland angegriffen, Deutschland würde als Nato-Staat Litauen verteidigen, und die Schweiz würde auch in diesem Fall erklären, in ein Krisengebiet keine Munition liefern zu wollen. Die Antwort liegt auf der Hand. In Zukunft sollte die Munition ausschliesslich in Nato-Staaten eingekauft beziehungsweise in Deutschland direkt hergestellt werden. Und genau das geschieht jetzt. In wenigen Monaten wird die Gepard-Munition in Deutschland produziert werden. Wir machen uns damit unabhängig und können im Krisenfall sofort reagieren.
Auf Verteidigungspolitik spezialisiert,obgleich das 2017 ein völlig unpopuläres Thema in Deutschland war?
Damals war das ein völlig unpopuläres Thema in Deutschland. Es war jedenfalls nie ganz nachvollziehbar, warum man sich in Deutschland nicht mehr um die Sicherheit des Landes kümmern sollten. Mithin war – auch – insofern klar, dass im Bundestag auch Sicherheitspolitik gemacht zu werden habe. Dankenswerterweise hat die FDP-Fraktion das zugelassen, wohl auch in der Annahme, das Thema würde keinen wirklich interessieren.
Es kam anders.
Nach der Bundestagswahl im Dezember 2021 hat die FDP den Vorsitz des Verteidigungsausschusses übernommen. Ich wurde zur Vorsitzenden gewählt. 72 Tage später griff Russland die Ukraine an. Der Rest ist Geschichte, auch dass dieser Ausschuss dann diese mediale Aufmerksamkeit bekam.
Sie mögen das Exponierte gar nicht so gerne?
Wer in die Politik geht und mit seiner Arbeit nicht wahrgenommen werden möchte, hat den Job verfehlt. Aber die Aufmerksamkeit, die der Arbeit jetzt zuteil wird, hat in der Tat eine andere Dimension angenommen.
Mit angriffiger Bildungs- und Gesundheitspolitik gemacht haben
und nun auch Verteidigungspolitik in diesem Gremium?
Mit einem Krieg konfrontiert zu werden, ist im wahrsten Sinne des Wortes ein besonders ernstes und brutales Thema. Ich würde aber behaupten, dass ich immer so Politik gemacht habe. Ich war viele Jahre unter anderem im Stadtplanungsausschuss im Rat der Stadt Düsseldorf aktiv. Als ich heute durch Zürich lief, habe ich mir gedacht: Wieso lässt die Stadt Zürich eigentlich zu, dass eine mehrspurige Strasse quer durch die Stadt und direkt am See entlangläuft. Das schreit doch geradezu nach einem City-Tunnel. Die Autos gehören unter die Erde, die Oberfläche gehört den Menschen. Die Stadt rückt an den See heran.
Werden mit der links-grün dominierten Regierung jetzt nicht offeneo Türen eingerannt?
Wir haben das in Düsseldorf genau so umgesetzt. Wir haben Hauptverkehrsstrassen in der Innenstadt unter die Erde gelegt. Sie können sich gar nicht vorstellen, welche Aufenthaltsqualität dort entstanden ist. Stellen Sie sich mal vor, Zürich begänne unmittelbar am See. Wäre das nicht grossartig?
Jetzt weichen Sie ein bisschen aus, wir wollten über Ihre Person sprechen.
Ich wollte nicht ablenken. Aber über sich selbst zu sprechen, ist irgendwie seltsam. Durch meine Arbeit bin ich momentan in der Öffentlichkeit sehr exponiert und löse deutliche Gefühle aus, Sympathie, aber auch krasse Ablehnung.
Haben Demonstrationen für den Frieden ihre Berechtigung?
Vom Frieden zu träumen, ist zwar alleweil ehrenwert, aber wir müssen uns einfach bewusst sein: Das interessiert die Wladimir Putins dieser Erde nicht. Wehrhaftigkeit ist das zentrale Thema der nächsten Generation. Wenn wir es nicht hinbekommen, uns verteidigen zu können, dann Gnade uns Gott – oder wer oder was auch immer …