Julian Assange schmort weiter im Gefängnis, während Amnesty International ihn weiterhin nicht als „Prisoner of Conscience“ anerkennt
02. Februar 2023 um 11:19 Ein Artikel von Moritz Müller

Während Julian Assange mittlerweile seit über zwölf Jahren, genauer gesagt seit 4437 Tagen, seiner Freiheit beraubt ist und es weltweit Tausende von Unterstützern gibt, tut sich die größte Gefangenenhilfsorganisation auffällig schwer mit ihm. Dies gilt sicher nicht für alle Schichten im Apparat von Amnesty International (AI). Seit dem ersten Tag gibt es Mitbürger, Journalistenkollegen und unbeugsame Politiker, die zu ihm halten und das Interesse der Öffentlichkeit an seiner prekären Lage wachhalten, und auch AI-Mitglieder und Gruppen sind beteiligt. Allerdings hat sich die Führung von AI bis heute nicht dazu durchringen können, ihm mit der Anerkennung als „Gewaltlosem politischen Gefangenen“ (Engl. „Prisoner of Conscience“) zu helfen. Von Moritz Müller.

Eindrücke aus Deutschland
In Deutschland sind lokale Amnesty-International-Gruppen an manchen Aktionen der Assange-Unterstützer beteiligt oder beteiligen sich an bestimmten Veranstaltungen, wie zum Beispiel dieser Vorführung des Films „Ithaka“. Die Vorführung in Köln war nach Angaben von Assange-Unterstützern ein voller Erfolg. „Wir hatten ein überfülltes Kino und auch die Amnesie-Leute (sic) waren sehr erstaunt.“ Dies ist vielleicht auch ein Ansporn für die lokale AI-Gruppe, Druck auf höhere Ebenen von AI auszuüben, damit von dort mehr Aktionen für Assange gestartet werden oder er zum „Prisoner of Conscience“ erklärt wird.
In den letzten Tagen und Wochen sind einige Personen aus dem Umkreis der Assange-Unterstützer und teilweise mit Verbindungen zu AI mit der Bitte an uns herangetreten, dies in einem Artikel zu thematisieren.
Nachfolgend eine lose Sammlung der Erfahrungen mit AI, eher generell gehalten, anonymisiert und etwas „entschärft“. Der Konsens scheint zu sein, dass AI immer noch eine wichtige Organisation mit guten Zielen und Aktionen ist, der man aber wenn nötig gutmütig auf die Sprünge helfen kann.
„Also bei uns in [….] sind die paar Hansel insgesamt inaktiv und gefühlt überfordert. Haben uns aber wenigstens 2021 bei Julians Geburtstags Demo unterstützt.“
„In Erfurt, Wiesbaden, Bochum, Münster, Halle, Hirschberg, Düsseldorf, Göttingen lief und läuft bzgl „Ithaka“ mit Amnesty bisher alles prima. Es sind teils Hochschulgruppen und teils Lokalgruppen. In Bonn lief es gut mit der Hochschulgruppe, jedoch hat die Lokalgruppe sie angewiesen nicht als offizieller Kooperationspartner genannt zu werden. Wenn ich es richtig verstanden habe …“
Hier wäre ich gespannt auf eine Stellungnahme.
„In Düsseldorf haben wir immer mal wieder Unterstützer von AI auf den Mahnwachen, und letztes Jahr hat AI Düsseldorf sogar eine eigene Free Assange Mahnwache organisiert. Bei der Ithaka-Vorführung am 31.1. in Düsseldorf ist ein gemeinsamer Infotisch geplant zusammen mit AI und PEN Düsseldorf.“
„ … Wahrscheinlich lebt das Engagement der unterschiedlichen Ortsgruppen von den Menschen, die dort aktiv sind. Auf der anderen Seite passt es zu dem, was […] schrieb, dass die Lokalgruppe in Bonn nicht als offizieller Kooperationspartner genannt werden möchte. Amnesty hat in all der Zeit (spätestens seit 11.04.2019) Julian auch immer noch nicht als „Prisonor of conscience“ anerkannt, obwohl imhO alle bis auf Punkt 4 („Secret detention“) von den 7 Punkten, welche sie als Kriterien dafür auslegen, auf Julian zutreffen (amnesty.org/en/what-we-do/detention/). Es gibt für Julian bisher leider keine öffentliche Kampagne durch Amnesty. Die Meldungen über ihn auf ihrer Webseite sind überschaubar und meiner Meinung nach nicht einmal „empörend“. So hat z.B. eine Meldung diese Überschrift: ‚UK: Certifying Assange’s extradition puts him at great risk and „would pose grave threat to press freedom‘“. Alle bisherigen Meldungen auf Amnestys Webseite über ihn findet man hier: amnesty.org/en/search/assange/?sort=date-desc … Insofern ist ein kritischer Artikel von Moritz Müller, welcher zumindest die Führungsebene von Amnesty diesbezüglich kritisch durchleuchtet, durchaus angebracht (auch wenn einige Ortsgruppen sicher bisher gute Arbeit geleistet haben und das weiterhin tun). Navalny wird von Amnesty International übrigens (trotz ihrer anfänglichen „Skepsis“) seit dem 07.05.2021 als „Prisonor of Conscience“ gelistet: en.wikipedia.org/wiki/Criticism_of_Amnesty_International#Alexei_Navalny … Hier auch noch eine interessante Info: „Der Großteil der Recherchearbeiten (des Researchs) zu Menschenrechtsverletzungen wird vom Internationalen Sekretariat, mit Hauptsitz in London, übernommen. (amnesty.de/amnesty-ist-international)“
Da dieser Artikel die mögliche Hilfe von AI für Julian Assange im Vordergrund hat und konstruktiv sein soll, spare ich mir die „kritische Durchleuchtung der Führungsebene von Amnesty“ für einen späteren Artikel auf. Beim kurzen Einlesen konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es in der Welt der Nichtregierungsorganisationen ein Karussell gibt, mit dem das Führungspersonal von einer Organisation zur anderen, dann in Regierungsämter und wieder zurück wechselt, und das den Rahmen dieses Artikels sprengen würde.
Viele dieser am Personalkarussell Beteiligten sind wahrscheinlich davon überzeugt, etwas Gutes zu tun, während Andere gut dotierte Posten nicht aufgeben wollen oder können, weil sie sich schon an den Lebensstandard gewöhnt haben, der mit dem Ansehen und der Bezahlung einhergeht.
Es ist schwer bis unmöglich, wirklich unabhängig zu sein, bzw. es erfordert Kraft und Risikobereitschaft. Dies hat z.B. der ehemalige UN-Sonderbeauftragte für Folter, Nils Melzer, eindrucksvoll gezeigt. Er hat immer wieder betont, dass ihm seine und die Integrität seines Mandats wichtiger sind als seine Karriere.
Artikel von Mohamed Elmaazi auf the dissenter
Ein sehr interessanter Artikel von Mohamed Elmaazi zu diesem Thema erschien im letzten Mai auf the dissenter. Nachfolgend eine kurze Zusammenfassung mit von mir übersetzten Passagen aus dem leider immer noch aktuellen Artikel:
„Amnesty International widersetzt sich der Forderung, Assange als „Prisoner of Conscience“ zu bezeichnen, während Auslieferung droht
Die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty International widersetzt sich Forderungen, den WikiLeaks-Gründer Julian Assange als „Prisoner of Conscience“ zu bezeichnen, obwohl die Organisation einräumt, dass er das Ziel einer „politisch motivierten Verfolgung“ durch die Vereinigten Staaten ist.
Obwohl die Menschenrechtsorganisation die Strafverfolgung als „verheerend für die Pressefreiheit und die Öffentlichkeit“ bezeichnet, ist nicht klar erkennbar, warum Amnesty Assange nicht den Status eines „Gewaltlosen politischen Gefangenen“ zuerkannt hat.
Amnesty wurde wiederholt die Möglichkeit geboten, sich zu diesem Artikel zu äußern. Niemand, der mit Amnesty verbunden ist, hat geantwortet.
Inoffiziellen Gesprächen zufolge gibt es Amnesty-Mitglieder, die ihre Organisation dazu gedrängt haben, Assange als „Prisoner of Conscience“ zu bezeichnen und die Kampagne für seine Freiheit zu verstärken.
Aus einer kürzlich veröffentlichten Mitteilung zur bevorstehenden Hauptversammlung von Amnesty UK, die für den 25. Juni geplant ist, geht hervor, dass sich der Vorstand der Gruppe gegen eine Resolution der Mitglieder aus Richmond und Twickenham ausspricht. Die Mitglieder haben eine „stärkere Unterstützung der Kampagne für Julian Assange, die Pressefreiheit und das Menschenrechtsgesetz“ gefordert. (Anmerkung: Die regierende konservative Partei unterstützt die Aufhebung des Menschenrechtsgesetzes und hat versprochen, es durch eine „British Bill of Rights“ zu ersetzen.)
„Der Vorstand lehnt diese Resolution ab, weil wir zwar die ernste Menschenrechtsfrage anerkennen, es sich aber bereits um eine gut ausgestattete und öffentlichkeitswirksame Kampagne handelt, bei der zusätzliche Kampagnen von AIUK wahrscheinlich nur begrenzte Auswirkungen haben werden“, heißt es in der Mitteilung.
„Es ist nicht klar, ob die Fragen, die mit dem Fall Julian Assange verbunden sind, eine breitere Kampagne zur Verteidigung des [Menschenrechtsgesetzes] ergänzen oder davon ablenken würden“, fügt der Vorstand von Amnesty UK hinzu.
Die britische Amnesty-Lokalgruppe in Richmond und Twickenham hat ebenfalls eine Resolution vorgelegt, in der sie „Klarheit über das Verfahren zur Ernennung von ‚Prisoners of Conscience‘“ fordert. In der Entschließung der Zweigstelle wird ausdrücklich auf das Versäumnis verwiesen, die US-Armee-Whistleblowerin Chelsea Manning und Assange als Gewissensgefangene zu bezeichnen.
Wenn Amnesty den Status eines „Prisoner of Conscience“ verleiht, wird die Situation einer Person in den Medien und im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit deutlich aufgewertet.
Dies kann dazu führen, dass mehr Mittel für die Unterstützung dieser Person bereitgestellt werden, dass zusätzlicher Druck auf Politiker und Regierungen ausgeübt wird und dass sich die Chancen verbessern, dass die Person letztendlich freigelassen wird.
Amnesty nutzte den Welttag der Pressefreiheit 2016, um auf die Notlage und die Arbeit von Journalisten in neun verschiedenen Ländern hinzuweisen, von denen viele während ihrer Inhaftierung als „Prisoners of Conscience“ bezeichnet wurden. In den vergangenen Jahren haben sie (AI) Pressemitteilungen mit Variationen dieses Themas herausgegeben.
Assange, der seit 2019 im Belmarsh-Gefängnis inhaftiert ist, hat seitdem vier Welttage der Pressefreiheit hinter sich, während er gegen seine Auslieferung kämpft. Er hätte von der zusätzlichen Nachrichten- und Medienberichterstattung profitiert, die ein Status als „Prisoner of Conscience“ mit sich bringt.
Doch seit seiner Verhaftung und Ausweisung aus der ecuadorianischen Botschaft in London hat Amnesty ihn in keinem ihrer Beiträge zum Welttag der Pressefreiheit erwähnt.
Ein Interview aus dem Jahr 2002 mit dem ehemaligen Amnesty-Vorstandsmitglied und Professor für internationales Recht, Dr. Francis A. Boyle, bietet einige Einblicke in die innere Arbeitsweise der Organisation.
„Wenn man sich mit einer Menschenrechtssituation in einem Land befasst, das mit den Vereinigten Staaten oder Großbritannien verfeindet ist, bekommt man eine Menge Aufmerksamkeit, Ressourcen, Männer und Frauen, Publicity, was auch immer, sie (AI) setzen alles Mögliche in Bewegung“, so Boyle.
„Aber wenn es um Menschenrechtsverletzungen durch die Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Israel geht, dann ist es, wie jemandem die Zähne zu ziehen, um sie (AI) dazu zu bringen, wirklich etwas in dieser Situation zu tun.“
Amnesty International hat die Regierung von Präsident Joe Biden aufgefordert, die Anklagen fallenzulassen, aber ein Großteil von AIs Fürsprache kam erst spät und nach umfangreicher Lobbyarbeit von Basisaktivisten.
Diese Änderung ihrer Position zeigt aber, dass die Menschenrechtsorganisation in der Lage ist, ihre Positionen und Ansichten zu ändern, wenn dies für ihre Glaubwürdigkeit notwendig ist.
Amnesty ist sich darüber im Klaren (und sagt dies auch leise, Anmerkung MM), dass die strafrechtliche Verfolgung von Assange politisch motiviert ist, dass die Anklagen fallengelassen werden sollten und er freigelassen werden muss, dass seine fortgesetzte Inhaftierung willkürlich ist, dass ihm im Falle einer Auslieferung Folter droht und dass die strafrechtliche Verfolgung von Assange eine ernsthafte Bedrohung für die Pressefreiheit und das Recht der Öffentlichkeit auf Information darstellt.
Es ist ganz offensichtlich. Julian Assange erfüllt alle Kriterien, die Amnesty anwendet, um jemanden als Gewissensgefangenen zu bezeichnen.“
Soweit Mohamed Elmaazi.
Der Satz, der mir am meisten ins Auge springt, ist die Weigerung von AI, zu dem Artikel Stellung zu beziehen.
Die Position von AI, dass sich schon viele Menschen und Organisationen um Assange kümmern und deswegen keine großangelegte Kampagne ihrerseits nötig ist, ist insofern unverständlich, als dass es sich bei Julian Assange um den politischen Gefangenen der „westlichen Demokratien“ handelt.
Die USA, das Vereinigte Königreich und Schweden haben keinen Mühen und Kosten gescheut, um an Julian Assange ein Exempel zu statuieren. Es ist mir vordergründig unverständlich, warum AI hier nicht alles in die Waagschale wirft, damit hier kein Präzedenzfall geschaffen wird. „Vordergründig“ deshalb, weil es den Anschein hat, dass bei AI auch noch andere Kräfte am Werk sind, aber das wäre wie gesagt Thema eines weiteren Artikels.
Brief von NachDenkSeiten-Lesern an Amnesty International UK
Vor einigen Wochen haben uns zwei engagierte Leser diese Vorlagen für Briefe an AIUK zukommen lassen und hier folgt ein von mir übersetzter Auszug aus der Antwort von AIUK auf das weniger freundliche der beiden Schreiben:
„Aktuelle Pläne von Amnesty: Wir erhalten viele Anfragen für Kampagnen zu bestimmten Personen und müssen schwierige Entscheidungen treffen, die auf einer Bewertung des Mehrwerts von AIUK beruhen. Julian Assange ist einer ungeheuerlichen Bedrohung seiner Menschenrechte ausgesetzt, und Amnesty fordert, dass die USA die Anklage gegen ihn fallenlassen und er nicht an die USA ausgeliefert wird. Sein Fall wird jedoch von wirksamen Kampagnengruppen gut unterstützt und unserer Einschätzung nach ist AIUKs Fähigkeit, in seinem Fall etwas zu bewirken, geringer als im Fall anderer weniger bekannter Personen, für die Amnesty eine der wenigen, wenn nicht sogar die einzige Stimme zu ihrer Verteidigung ist. Eine kürzlich durchgeführte externe Evaluierung unserer „Brave“-Kampagne zu Menschenrechtsverteidigern (HRDs) ergab, dass AIUK darauf achten sollte, weniger bekannte HRDs in künftige Kampagnen einzubeziehen.
Wir bereiten dieses Jahr eine größere Kampagne vor, da wir erwarten, dass die Regierung neue Gesetze vorschlägt, um den Human Rights Act zu untergraben. Wir haben schon früher mit Menschen zusammengearbeitet, die den Human Rights Act genutzt haben, um seine Bedeutung für das tägliche Leben aufzuzeigen, zum Beispiel mit den Familien der Opfer von Hillsborough. Es ist nicht klar, ob die mit dem Fall Julian Assange verbundenen Fragen die breitere Kampagne zur Verteidigung des HRA ergänzen oder beeinträchtigen würden.“
Das vollständige englischsprachige Original (1) findet sich am Ende dieses Artikels.
Der letzte Satz ist interessant, weil es sich um fast den gleichen Wortlaut, wie im Artikel von Mohamed Elmaazi zitiert, handelt. Als gäbe es in dieser Organisation festgelegte Formeln zur Beantwortung von Fragen. Noch dazu wird der Human Rights Act in dem Schreiben unserer Leser gar nicht erwähnt.
Hier, nur zur Information, eine sehr viel ungeschminktere Sicht der Dinge bei AI.
Das Thema Assange auf der Webseite von Amnesty International UK
Dazu passt vielleicht die Tatsache, dass, wenn man auf der AIUK-Webseite „Assange“ in die Suchmaschine eingibt und die Ergebnisse in der Grundeinstellung nach „Relevanz“ geordnet werden, als Drittes ein Post vom 13. Mai 2019, einen Monat nach seiner Verschleppung aus der ecuadorianischen Botschaft, erscheint. Die Überschrift lautet: „Julian Assange: Rape allegations must be treated with utmost seriousness“ („Julian Assange: Vergewaltigungsvorwürfe müssen mit größter Ernsthaftigkeit behandelt werden“).

Der 13. Mai 2019 war der Tag, an dem die schwedischen Ermittlungen offiziell zum 3. Mal wieder aufgenommen wurden. AI ließ hier also höchstens Stunden verstreichen, um diesen Eintrag zu posten, während man sich in über 12 Jahren nicht zu einer Kampagne für ihn durchringen konnte.
Damals war dieser Eintrag vielleicht noch verständlich oder zumindest vertretbar. Heute, nachdem das schwedische Verfahren seit über drei Jahren eingestellt ist, ist ein solcher Eintrag an dritter Stelle nach Relevanz geordnet einfach nur schäbig. AI sollte diesen Eintrag aus Gründen der Dokumentation zeitlich einordnen, relevant ist er so unkommentiert allemal nicht mehr.
Der folgende Eintrag zu den schwedischen Vorwürfen und Ermittlungen findet sich auf Wikipedia, welche ich hier der Übersichtlichkeit halber heranziehe, auch weil es sich mit meinen Eindrücken aus vielfältigen Publikationen deckt:
„Nils Melzer zu dem Vergewaltigungsvorwurf
Ende Januar 2020 sprach UN-Sonderberichterstatter Melzer in einem Interview mit dem schweizerischen Online-Magazin Republik über die Erkenntnisse seiner Untersuchung im Fall von Julian Assange. Er stellte die Frage, weshalb sich ein Mensch neun Jahre lang in einer strafrechtlichen Voruntersuchung zu einer Vergewaltigung befunden habe, ohne dass es je zur Anklage gekommen sei. Polizei und Staatsanwaltschaft in Schweden hätten den Vorwurf der Vergewaltigung gegen Assange konstruiert und die falschen Verdächtigungen unmittelbar der Presse gesteckt. Die betroffene Frau S. W. habe demnach nie ihre nachträglich durch die Polizei manipulierte Aussage unterschrieben. Melzer erhob schwere Vorwürfe gegenüber den US-amerikanischen, britischen, ecuadorianischen und schwedischen Behörden. Sie hätten den Fall durch Formalismen vorsätzlich bald zehn Jahre hinausgezögert, um Assange durch lange Isolierung und psychische Folter denkunfähig und durch eine Schmutzkampagne angreifbar zu machen. Melzer, der die Sachverhalte aufgrund seiner Schwedischkenntnisse anhand der Originalunterlagen prüfte, erklärte: „Wir müssen aufhören zu glauben, dass es hier wirklich darum gegangen ist, eine Untersuchung wegen Sexualdelikten zu führen.“ Anfang Februar 2020 erklärte Melzer – auch in einem Interview im ZDF –, die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Assange seien erfunden. Laut der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) gibt es für Melzers Theorie, dass die Anklage konstruiert war, Puzzleteile, die zusammenpassen. Doch diese und auch weitere Umstände des Ablaufs sowie gewisse personelle Verflechtungen in Schweden seien Indizien und nicht stringente Beweise. Nach Meinung der Rechtswissenschaftlerin Tatjana Hörnle reicht Melzers öffentliche Beweisführung für die gravierenden Vorwürfe nicht aus. Melzer wies diverse Ausführungen von Hörnle zurück. Die Frau, die Assange vorwarf, sie sexuell bedrängt zu haben und mit der Melzer direkten Kontakt hatte, warf Melzer unter anderem vor, sie persönlich zu verleumden und teilweise die Unwahrheit über die Ermittlungen verbreitet zu haben, etwa über die Bereitschaft Assanges, zu den Vorfällen auszusagen. Melzer veröffentlichte eine Stellungnahme, in der er versuchte, Missverständnisse aufzuklären, und der Hoffnung Ausdruck gab, dass diese nicht von den eigentlichen Problemen im Fall Assange ablenken. Später sagte die Frau, dass Assanges Verhalten für sie keine Straftat gewesen sei und sie Assange „lange verziehen“ habe.“
Meine eigenen Begegnungen mit Amnesty International
Die vorgenannten Schilderungen haben mich dazu gebracht, auch meine eigenen Anstrengungen bezüglich Assange und AI noch einmal Revue passieren zu lassen. Im Grunde bestätigen sich diese Erfahrungen mit dem Eindruck, der sich aus Obigem ergibt.
Am 5. Februar 2019 hatte ich, damals noch nicht so mit dieser vertrackten Situation vertraut, bei der britischen Sektion von AI angefragt, wann die Kampagne zugunsten von Julian Assange startet. Heute würde ich meine Fragen etwas diplomatischer formulieren.
„Liebe Mitarbeiter von Amnesty International,
mein Name ist Moritz Müller, ich lebe seit 25 Jahren in Skibbereen/Irland und arbeite für einen deutschen Nachrichtenblog, die NachDenkSeiten, und durch diese Arbeit bin ich wieder auf die Lage von Julian Assange aufmerksam geworden.
Ich bin dieses Jahr zweimal nach London gereist und habe einige Artikel zu diesem Thema geschrieben. Zurzeit versuchen ein paar Freunde und ich, eine internationale Unterstützungsgruppe für meinen Kollegen zu gründen, und wir sind auf der Suche nach Unterstützung von verschiedenen Seiten.
Das hat mich dazu veranlasst, mir Ihre Website anzuschauen, um zu sehen, wie Ihre Kampagne für Julian Assange aussieht, aber zu meiner Überraschung war die letzte Erwähnung von Julian Assange, die ich finden konnte, von Ende 2012, und in einem früheren Blog nannten Sie ihn einen Heuchler, weil er Ecuador um Hilfe bat. Aber keine Kampagne für ihn und seine Freilassung. Warum ist das so? Wollen Sie eine Kampagne ins Leben rufen?
Das Folgende scheint Ihr Grundsatzmanifest zu sein:
„Erst wenn der letzte „Gewaltlose politische Gefangene“ freigelassen wurde, wenn die letzte Folterkammer geschlossen wurde, wenn die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen für die Menschen auf der Welt Wirklichkeit geworden ist, ist unsere Arbeit getan.“
Zählt Julian Assange nicht als Gewissensgefangener? Haben sich die Vereinten Nationen nicht für ihn eingesetzt und gefordert, dass seine willkürliche Inhaftierung beendet wird und er entschädigt wird?
Fragen über Fragen … Soweit ich das beurteilen kann, hat er für uns alle eine Menge Arbeit geleistet, indem er Verbrechen verschiedener Regierungen aufgedeckt hat.
Julian Assange war sehr mutig, und jetzt scheint er das Opfer dieses Mutes zu sein.
In diesem Artikel auf Ihrer Website über Chelsea Manning loben Sie ihre Arbeit. Gilt das nicht auch für Julian Assange?
Ihr Hauptsitz in einem Gebäude mit dem treffenden Namen Human Rights Action Centre ist 4,5 km von der Botschaft Ecuadors entfernt. 30 Minuten mit dem Fahrrad, eineinhalb Stunden zu Fuß, 10 U-Bahn-Stationen. Ist das eine unkomfortable Nähe?
Es tut mir leid, wenn meine Fragen ein bloßes Versehen behandeln und Sie sich dieser Situation einfach nicht bewusst sind. Ich bin bereit, Ihnen beim Aufbau einer Kampagne zu helfen. Ich habe Ihre Organisation immer bewundert und dass Sie sich für die Schwachen in dieser Welt einsetzen.
Julian Assange scheint gesundheitlich angeschlagen zu sein, er hat die Sonne seit 6,5 Jahren nicht mehr gesehen. amp.washingtontimes.com/news/2019/feb/1/julian-assange-lawyers-appeal-to-wikileaks-publish/
Haben Sie gehört, dass Mairead Maguire Julian Assange für den Friedensnobelpreis nominiert hat?
Ich freue mich darauf, von Ihnen zu hören!
Mit freundlichen Grüßen,
Moritz Müller“
Schon am 6. Februar bekam ich die folgende, erstaunliche Antwort:
„Lieber Moritz,
vielen Dank für Ihre Anfrage bezüglich der Position von Amnesty International zu Julian Assange.
Der Fall von Julian Assange ist ein Fall, den wir genau beobachten, an dem wir aber nicht aktiv arbeiten. Die Einstellung der schwedischen Ermittlungen zu den Vergewaltigungsvorwürfen gegen Julian Assange ändert nichts an unserer Position zu den anderen Aspekten des Falles von Julian Assange, die darin besteht, dass Amnesty International (AI) Julian Assange nicht als Gefangenen aus Gewissensgründen betrachtet. AI ist jedoch nach wie vor der Ansicht, dass er nicht an die USA ausgeliefert werden sollte, wo ihm aufgrund seiner Arbeit für Wikileaks ein reales Risiko schwerer Menschenrechtsverletzungen droht, auch in Bezug auf die wahrscheinlichen Haftbedingungen (obwohl unseres Wissens derzeit kein formelles Auslieferungsersuchen vorliegt).
Wir haben die folgenden Erklärungen zu diesem Thema abgegeben:
amnesty.org/en/latest/news/2010/12/preguntas-respuestas-wikileaks-y-libertad-expresion/
amnesty.org/en/latest/news/2012/09/sweden-should-issue-assurance-it-won-t-extradite-assange-usa/
Wir hoffen, dies erklärt unseren Standpunkt.
Mit freundlichen Grüßen,
Kommunikationsteam für Unterstützer
Amnesty International Sektion Großbritannien“
Die originale, englischsprachige Version dieser Korrespondenz (2) befindet sich am Ende dieses Artikels.
Ich habe dann nochmals nachgefragt, ob dies ihr Ernst sei, aber die zuständige Sachbearbeiterin bedeutete mir, dass sie zum Thema Assange leider nicht mehr sagen könne.

02. Februar 2023 um 11:19 Ein Artikel von Moritz Müller

Feb 2023 | In vino veritas | Kommentieren

Ist da der Teufel am Werk? Papst Franziskus jedenfalls sprach oft vom personifizierten Bösen, zuletzt angesichts der massenhaften
Fälle sexueller Gewalt in der Kirche.
Diese Rede ist anschaulich und naheliegend, aber nicht ganz unproblematisch (Bild: Die Versuchung Christi, Pacher-Altar in St. Wolfgang (1471–1479). Von allen Seiten schreit die Not der Welt uns an: die Not des Krieges und der brutalen Gewalt; die Not der sozialen Ungerechtigkeit, der Armut und des Hungers; die Not der Krankheit, die Not des Zweifels, der Anfechtung und der Enttäuschung. Aber letztlich findet sich auf dem Grund aller dieser Nöte eine Not: die Not des Bösen, des Bösen in der Welt und des Bösen in unseren eigenen Herzen.“ Fünfzig Jahre ist es her, dass der liberale Alttestamentler Herbert Haag (1915–2001) diese Sätze geschrieben hat. Sie stehen am Anfang seiner kleinen, aber wichtigen Schrift „Abschied vom Teufel. Vom christlichen Umgang mit dem Bösen“.

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Feb 2023 | Senioren | Kommentieren
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Hallo Mittelalter, wir sind noch da! Von solcherlei Puppenspielern ist nicht zu erwarten, dass sie ihren Protagonisten etwas gegen den (Strafgesetzbuch) § 166 sagen lassen …

Hallo, geliebtes Mittelalter, wir sind noch da! Von solchen Puppenspielern ist freilich – was Wunder – nicht zu erwarten, dass sie ihren Protagonisten etwas gegen den § 166 (Strafgesetzbuch) sagen lassen …

Der Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo hatte eine Debatte über den Umgang mit Blasphemie ausgelöst. Die Ermordeten waren noch nicht bestattet, da war man bei der CSU bereits der Meinung, dass der deutsche Gotteslästerungsparagraph nicht etwa abgeschafft sondern verschärft werden müsse. Die Mörder und einige CSU-Funktionäre sind sich also offenbar darin einig, dass „Gotteslästerung“ bestraft werden soll. Lediglich das Strafmaß ist zwischen den Terroristen und der CSU noch strittig. Der Alibri-Verlag und wir lassen uns von dieser Allianz der Religioten jedoch nicht einschüchtern und haben daher einen Titel gewählt, der auf (u. a.) lächerliche Aspekte zielt:

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Feb 2023 | Allgemein, Feuilleton, Junge Rundschau, Kirche & Bodenpersonal, Politik, Zeitgeschehen | Kommentieren
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Jeder Leopard-Panzer, auch die alten Leopard 1, seien besser als alle russischen Panzer, meint der frühere US-General Ben Hodges. Es komme vor allem darauf an, gut ausgebildete Mannschaften zu haben, so der Amerikaner im Interview.

 

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Feb 2023 | In vino veritas | Kommentieren

Rechter Seitenflügel des Triptychons „Der Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch

„Die Wokeness-Illusion – Wenn Political Correctness die Freiheit gefährdet“ heißt ein gerade erschienenes Buch, in der sich die Autoren mit verschiedenen Aspekten der Identitätspolitik und der Wokeness beschäftigen.
Im zurückliegenden Bundestagswahlkampf überraschte der SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz mit der Feststellung, er verstehe sich als „intersektionaler Feminist“. Hätte er sich lediglich dazu bekannt, konsequent für die Gleichberechtigung der Frauen einzutreten und sich als künftiger Regierungschef etwa dafür stark zu machen, geschlechtsspezifische Gehaltsunterschiede zu überwinden  –  jedem wäre seine Botschaft verständlich gewesen. Aber es reichte ihm offenbar nicht, Scholz erweiterte seine feministische Agenda um den Begriff der „Intersektionalität“.

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Feb 2023 | Allgemein, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude | Kommentieren

 

Personaler greifen auf die Hilfe von Algorithmen zurück – wenn sie Mitarbeiter suchen, aber auch vor Kündigungen.

Künstliche Intelligenz (KI) wird vielleicht nicht so bald euren Job übernehmen, aber Unternehmen nutzen sie schon jetzt, um zu entscheiden, wer entlassen werden soll. Das geht aus einer Capterra-Umfrage unter 300 US-amerikanischen Personalleitern aus dem vergangenen November hervor. Sie ergab, dass 98 Prozent der Befragten planen, im Jahr 2023 Software und Algorithmen zur Unterstützung bei Entlassungen einzusetzen.

Während viele Unternehmen Zugang zu einer großen Menge an Mitarbeiterdaten haben – einschließlich Informationen über Anwesenheit, Gehalt und Erfahrung –, gaben die Personalleiter an, dass sie Daten zu „Fähigkeiten“ und „Leistung“ am ehesten bei Entlassungsentscheidungen heranziehen. 70 Prozent der Führungskräfte gaben an, dass jeder dieser Bereiche berücksichtigt werde.

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Obwohl das in der Umfrage nicht spezifiziert wird, können die Daten zu Fähigkeiten und Leistung von eher traditionellen Messwerten – wie den Verkaufszahlen eines Mitarbeiters – bis zu komplizierteren „Produktivitätswerten“ reichen, die so kleine Details abbilden können wie die Zeit, die Mitarbeiter für ihre E-Mails nutzen oder wer während der Besprechungen seine Kamera eingeschaltet hat.

Auch wenn es sich bei dieser Umfrage nur um eine kleine Stichprobe unter Personalfachleuten handelt, so ist sie doch Teil einer breiteren Diskussion darüber, wie Unternehmen neue KI-Tools annehmen und welche Rolle sie in Zukunft bei Personalentscheidungen spielen werden. In einigen Fällen haben Personalabteilungen tatsächlich damit begonnen, KI sowohl für Einstellungen als auch für Entlassungen zu nutzen.

„Seit der Großen Rezession sind Personalabteilungen unglaublich datengesteuert“, sagte Brian Westfall, leitender HR-Analyst bei Capterra, einer Softwarebewertungsseite, der „Washington Post“. Aber jetzt, sagt er, seien diese Abteilungen „datengesteuerter als jemals zuvor“.

Seit der Markteinführung im November haben Chat GPT und ähnliche Tools die Welt im Sturm erobert und zu Spekulationen darüber geführt, ob Künstliche Intelligenz Menschen im Job ersetzen und die Arbeitsplatzsicherheit bedrohen wird. Es ist unklar, wie viele Unternehmen KI-Tools bei Leistungsbeurteilungen und Beförderungen einsetzen. Aber Mitarbeiter sagen, dass sie darüber besorgt seien. Und da viele Unternehmen in den vergangenen Monaten Entlassungen vorgenommen haben, werden diese Tools nun möglicherweise zur Unterstützung beim Stellenabbau herangezogen.

Auch wenn die Unternehmen Chat GPT nicht fragen, wen sie entlassen sollen, ist KI in vielen Personalabteilungen bereits etabliert. Das Einbeziehen von Algorithmen bei schwierigen Entlassungsentscheidungen kann auch für Personalleiter „besonders beruhigend“ sein, so Westfall.

KI wird für Einstellungen und Entlassungen eingesetzt, aber Experten haben Bedenken

Seit vielen Jahren setzen Unternehmen KI ein, um Lebensläufe zu bearbeiten, Vorstellungsgespräche zu führen und Bewerber zu bewerten. Im vergangenen Jahr – als es aufgrund des Arbeitskräftemangels in den USA zeitweise schwierig war, Talente zu finden – suchten viele Personalabteilungen nach jedem Vorteil, den sie bekommen konnten.

Amazon und Goldman Sachs haben beispielsweise die Einstellungsplattform HireVue genutzt, um mehr Videointerviews zu führen. Die KI der Plattform wurde auch eingesetzt, um Bewerber auf der Grundlage von Problemlösungs- und Kommunikationsfähigkeiten zu beurteilen und zu bewerten.

„Das Ergebnis ist, dass wir die Qualität der Bewerber verbessern und die Anzahl der Vorstellungsgespräche und Einstellungen, die ein Unternehmen durchführen kann, verdoppeln können, während wir die Zeit halbieren“, sagte Patrick Morrissey, Chief Growth Officer bei HireVue, zuvor zu Business Insider.

Unternehmen setzen KI auch zur Leistungsbewertung und Überwachung von Mitarbeitern ein. Die Bank JP Morgan hat beispielsweise ein internes Unternehmenssystem eingesetzt, das Daten über die Aktivitäten der Mitarbeiter am Arbeitsplatz liefert, einschließlich der Zeit, die sie mit Zoom-Anrufen verbringen und was sie auf ihren vom Unternehmen zur Verfügung gestellten Mobiltelefonen tun.

Und nachdem es US-Unternehmen im Allgemeinen erlaubt ist, Mitarbeiter zu überwachen, wurde die Rechtmäßigkeit einiger Praktiken infrage gestellt. Anfang Februar brachten drei demokratische Gesetzgeber den „Stop Spying Bosses Act“ ein, der es Unternehmen verbieten würde, „sensible Daten“ über Arbeitnehmer zu sammeln, und sie dazu verpflichten würde, „rechtzeitig und öffentlich bekannt zugeben“, welche Daten sie sammeln.

Während einige Experten argumentieren, dass KI-Tools dazu beitragen könnten, Voreingenommenheit während des Einstellungsverfahrens zu verringern, haben andere Bedenken geäußert. Im Jahr 2017 stellte Amazon Berichten zufolge die Nutzung eines KI-Einstellungstools ein, das eine Voreingenommenheit gegenüber weiblichen Bewerbern erkennen ließ.

KI wurde sogar für die „prädiktive Fluktuation“ eingesetzt, um Unternehmen dabei zu helfen, vorherzusagen, welche Mitarbeiter am ehesten kündigen werden. Es gibt jedoch einige Möglichkeiten, wie die Nutzung dieser Daten schiefgehen kann, so Westfall von Capterra im Gespräch mit der „Washington Post“. Wenn ein Unternehmen zum Beispiel Mitarbeiter, die einer Minderheit angehören, nicht gut behandelt und viele von ihnen kündigen, könnte die KI vorhersagen, dass andere Minderheiten ebenfalls kündigen werden. Dies könnte dazu führen, dass diese Mitarbeiter bei der nächsten Entlassungsrunde einem höheren Risiko ausgesetzt sind – also quasi doppelt schlecht behandelt werden.

„Man kann sehen, wie die Lawine ins Rollen kommt“, sagte Westfall, „und plötzlich führen diese Datenpunkte, von denen man nicht weiß, wie sie entstanden sind oder wie sie beeinflusst wurden, zu schlechten Entscheidungen.“

Unter anderem aufgrund dieser Bedenken gaben nur 47 Prozent der von Capterra befragten Personalleiter an, dass sie sich mit dem Einsatz von KI bei Entlassungsentscheidungen „völlig wohlfühlen“. Die Mehrheit gab an, dass sie kein „volles Vertrauen“ in die Qualität der Daten ihrer Arbeitgeber hätten.

In dem Maße, wie Unternehmen neue KI-Tools einsetzen, werden die Verantwortlichen auch weiterhin mit der Frage konfrontiert sein, inwieweit KI bei wichtigen Entscheidungen eine Rolle spielen sollte. Einige äußern sich jedoch optimistisch, dass das richtige Gleichgewicht gefunden werden könne.

„KI ist in der Lage, durch Mustererkennung Erkenntnisse zu gewinnen, um bessere Entscheidungen treffen zu können“, sagte Amy Wright, Managing Partner of Talent and Transformation bei IBM Global Business Services, im Jahr 2021. „Sie trifft keine Entscheidungen für uns.“

 

Feb 2023 | Senioren | Kommentieren

? Brian Greene, Sie behaupten in Ihrem neuen Buch, dieser Raum hier verrate etwas über den Urknall?
Greene: Verblüffend viel sogar. Die bloße Tatsache, dass hier Ordnung herrscht …
? … mehr als – nota bene – in den meisten Physikerbüros  …
Greene: … oh, danke. Aber ich meine nicht nur die Ordnung in meinem Zimmer. Ich spreche von jeder Art Ordnung, von biologischen Systemen wie Ihnen und mir zum Beispiel, oder von geordneten Objekten wie dieser Ledercouch oder diesem Tisch. Wie ist solche Ordnung möglich?
? Und das soll etwas mit dem Urknall zu tun haben?
Greene: Ja. Letztlich hängt das mit dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zusammen. Er sagt aus, dass die Unordnung jedes abgeschlossenen Systems im Lauf der Zeit ansteigt. Auch die Welt als Ganzes hat folglich eine Neigung von der Ordnung weg, hin zur Unordnung. Wenn wir aber heute noch solch erstaunliche Ordnung beobachten, dann muss die Welt früher noch viel, viel geordneter gewesen sein. Beim Urknall selbst muss folglich eine kaum vorstellbare Ordnung geherrscht haben, sonst könnten wir hier 14 Milliarden Jahre später nicht in diesem Raum zusammensitzen.
? Das Betrachten dieses Raumes lässt sich also als Experiment betrachten, das uns etwas über die Eigenschaften des Urknalls erzählt?
Greene: Über die Eigenschaften des Urknalls, aber auch über die Eigenschaften der Zeit. Seit Jahrhunderten fragen sich die Leute: Warum geht Zeit nur in eine Richtung? Im Raum kann man sich nach rechts oder links bewegen, nach vorn oder hinten, oben oder unten. Warum geht dann die Zeit nur vorwärts und nie rückwärts? Auch das hat mit der Neigung von Systemen zu tun, sich vom Zustand der Ordnung in einen Zustand der Unordnung zu bewegen.
? Weiß die Physik denn inzwischen zu beantworten, was Zeit eigentlich ist?
Greene: Letztlich nicht. Schon Newton kämpfte ja mit einer Definition. Als er seine Bewegungsgleichungen aufschrieb, um die Bahn von Kanonenkugeln zu beschreiben oder vom Mond, wie er sich um die Erde dreht, da merkte er, dass diese Gleichungen gar keinen Sinn ergeben, solange er nicht zuvor definierte, was eigentlich Zeit und Raum sind. Er gab eine Definition – aber eine nicht sehr befriedigende. Er sagte einfach: „Zeit ist, und sie tickt gleichmäßig von Moment zu Moment.“
? Gibt es denn Zweifel daran, dass die Zeit existiert?
Greene: Die gab es schon damals. Leibniz etwa war anderer Meinung als Newton. Er glaubte, dass Zeit nichts ist als eine Sprache, die es uns ermöglicht, Ereignisse miteinander in Beziehung zu setzen. In einer Welt ohne Veränderung gäbe es seiner Vorstellung zufolge keine Zeit.
? Und der zweite Teil von Newtons Definition, dass nämlich die Zeit gleichmäßig fließe …
Greene: … ist schlichtweg falsch, sogar in zweierlei Hinsicht: Weder fließt die Zeit überhaupt, noch tut sie es gleichmäßig.
? Was heißt: Sie fließt nicht?
Greene: Es ist äußerst verstörend, dass wir in der Tat das Gefühl haben, das Verb „fließen“ beschreibe höchst genau, was die Zeit tut. In den Gleichungen der Physik jedoch gibt es nicht den allergeringsten Hinweis darauf. Wie schnell soll die Zeit denn fließen? Eine Sekunde pro Sekunde? Und was wäre, wenn sie doppelt so schnell fließt? Wir würden es gar nicht merken – eine solche Behauptung ergibt gar keinen Sinn. Aber das Dilemma ist weit mehr als nur ein semantisches.
? Sondern, was noch?
Greene: Einsteins Relativitätstheorie hat uns gelehrt, dass, wenn wir beide uns relativ zueinander bewegen, die Zeit für uns unterschiedlich schnell tickt. Newtons Vorstellung einer absoluten Zeit, die genau die gleiche ist für jedermann, für Sie, für mich, auf Erde, Jupiter, Alpha Centauri und in der Andromeda-Galaxie, ist damit vollständig zerstört.
? Und was folgt daraus?
Greene: Nun, wenn wir zu unterschiedlichen Ergebnissen darüber kommen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt geschieht, dann stimmen wir auch nicht darin überein, was Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind. Was Zukunft für Sie ist, kann Vergangenheit für mich sein oder umgekehrt. Dass es ein „Jetzt“, ein „Vergangen“ und ein „Zukünftig“ gibt, ist nichts als Illusion. Das Universum nimmt nicht teil an dieser unserer Idee vom „Jetzt“.
? Und unser Glaube daran, dass die Vergangenheit festgelegt, die Zukunft aber offen sei – auch dies nur eine Illusion?
Greene: Einstein jedenfalls hat es so gesehen. Unser Geist scheint zwar unfähig, sich die Welt vorzustellen, ohne ihr diese Struktur von Zukunft und Vergangenheit überzustülpen. Aber diese Begriffe sind so subjektiv, dass es schwer fällt, eine fundamentale Bedeutung darin zu erkennen.
? Wollen Sie wirklich sagen: Der US-Präsident des Jahres 2100 liegt ebenso unverrückbar fest wie der des Jahres 1900?
Greene: Einige Physiker zumindest gehen so weit. Intuitiv haben wir ja das Gefühl: Zukunft ist die Richtung der Zeit, in der die Dinge noch offen sind; in Richtung Vergangenheit dagegen sind sie entschieden oder festgelegt. Es ist jedoch äußerst schwierig, für dieses Konzept von „festgelegt sein“ irgendeine Heimat innerhalb der Gesetze der Physik zu finden. Sosehr Sie auch suchen: Sie finden keinen Zeitpfeil in den fundamentalen Gesetzen der Physik. Deshalb ist ja auch der freie Wille so ein problematisches Phänomen: Im Grunde lässt die Physik dafür keinen Platz.
? Auch die Quantenmechanik hilft nicht heraus aus diesem Dilemma?
Greene: Leider nicht wirklich. Richtig ist: Die Gleichungen der Quantenmechanik sagen nicht eindeutig vorher, was in der Zukunft geschehen wird; sie geben nur Wahrscheinlichkeiten dafür an, dass etwas passieren wird. Deshalb liegt es nahe zu fragen: Hat sich die Unbestimmtheit der Zukunft vielleicht in diesen Gleichungen versteckt? Kommt also da der freie Wille ins Spiel? Das Problem ist nur: Sie dürfen nicht nur nach der Zukunft, Sie müssen auch nach der Vergangenheit fragen. Und da stellen Sie fest: Die Gleichungen der Quantenmechanik geben auch darüber nur Wahrscheinlichkeiten an.
? Sind wir also wieder so klug als wie zuvor?
Greene: Sie sagen es. Das Kardinalproblem besteht darin, dass die Gleichungen der Physik – die klassischen, aber auch die quantenmechanischen – in keiner Weise zwischen Zukunft und Vergangenheit unterscheiden. Deshalb ist es extrem schwierig zu erklären, warum Zukunft und Vergangenheit verschieden sind – es sei denn, wir könnten erklären, warum es einen Moment gegeben hat, zu dem das Universum sehr speziell, nämlich extrem ordentlich war, und alles, was wir heute sehen, ist die Folge dieser Ordnung.
? Sie reden vom Urknall. Aber nun erklären Sie doch bitte, was daran so wahnsinnig ordentlich ist. Eine heiße Suppe von Teilchen, die chaotisch durcheinander flitzen – was könnte unordentlicher sein?
Greene: Sie haben Recht. Das widerspricht der Intuition. Wenn Tinte in ein Glas Wasser tropft, wird sie sich gleichmäßig verteilen – und damit die Unordnung maximieren. Genau so scheint es auch im ganz frühen Universum auszusehen: ein heißes ganz gleichmäßig verteiltes Gas – also, wie bei der Tinte im Wasser, ein Zustand extrem hoher Unordnung? Die Antwort lautet: Nein. Denn wir haben die Schwerkraft vergessen. Bei der Tinte im Wasser spielt sie keine Rolle – im gesamten Universum dagegen sehr wohl.
? Und wie wirkt sich die Schwerkraft aus?
Greene: Sie bedingt, dass jedes Stück Materie an jedem anderen Stück zieht. Deshalb neigt die Materie dazu, Klumpen zu bilden. Die Schwerkraft wirkt also einer gleichmäßigen Verteilung entgegen. Der heiße See aus Materie und Strahlung, wie er am Anfang existierte, ist folglich viel, viel geordneter, als das Universum wäre, wenn man der Welt erlaubte, in ihren natürlichen Zustand zu finden.
? Und wie hätte der ausgesehen?
Greene: Wie ein See aus lauter Schwarzen Löchern, also aus extrem dichten Materieklumpen. Warum die Welt anfangs nicht so ausgesehen hat, ist eines der zentralen Rätsel, die wir Physiker knacken müssen.
? Und dazu müssen sie den Big Bang verstehen. In Ihrem Buch behaupten Sie, eines der großen Probleme sei, dass es sich um einen Urknall ohne Knall handelt.
Greene: In der Tat. Die meisten Leute glauben ja, die Urknalltheorie erkläre, wie das Universum begann – mit einem Knall, einer Art Explosion. Aber wenn Sie die Gleichungen sorgfältig studieren, dann stellen Sie fest, dass sie genau am Anfang, zum Zeitpunkt null, kollabieren. Über den Moment der Schöpfung sagen sie nichts aus. War da wirklich ein Knall? Oder was sonst? Und was war die Ursache? Angesichts dieser Fragen bleiben die Formeln stumm. Das heißt: Die Theorie vom Big Bang lässt das Wichtigste aus: den Bang.
? Gibt es denn Ideen, was den Bang ausgelöst haben könnte?
Greene: Das Problem dabei ist wiederum die Schwerkraft. Sie ist eine anziehende Kraft. Sie zieht die Dinge zusammen. Im Urknall jedoch bewegt sich alles voneinander weg. Welche Kraft also könnte es sein, die die Dinge auseinander trieb?
? Und, haben Sie eine Antwort?
Greene: Es gibt eine Lösung: die so genannte inflationäre Kosmologie. Sie geht davon aus, dass die Schwerkraft nicht immer eine anziehende Kraft gewesen sein muss. Sie kann vielmehr auch abstoßend sein, sie kann die Dinge auseinander treiben – allerdings nur unter extrem exotischen Umständen, wenn nämlich das Universum anfangs mit einem so genannten Inflatonfeld ausgefüllt war. Dann nämlich tritt in Einsteins Gleichungen eine Anti-Gravitation auf. Und diese wiederum könnte den Urknall angestoßen haben. Das fügt der Big-Bang-Theorie also den Bang hinzu, eine Kraft, die Raum und Zeit auseinander treibt und so das sich ausdehnende Universum gebar, das wir heute beobachten.
? Mit anderen Worten: Sie zaubern dieses Inflatonfeld her, und schon zündet der Urknall?
Greene: Korrekt.
? Und woher kommt dieses seltsame Inflatonfeld?
Greene: Wir brauchen es eben, damit der Urknall startet …
? … sehr befriedigend klingt diese Erklärung nicht.
Greene: Zugegeben. Aber eine befriedigendere haben wir nicht. Immerhin aber scheint mir der gegenwärtige Stand unserer Theorie faszinierend genug: Alles, was Sie brauchen, ist ein winziges Körnchen, gefüllt mit einem Inflatonfeld …
? Was heißt winzig?
Greene: Etwa 10 hoch minus 30 Zentimeter groß, das entspricht etwa einem Milliardstel eines Milliardstel eines Atomkerndurchmessers. Und dieses Körnchen füllen Sie mit einem Feld, dessen Energie vielleicht einigen Pfund Masse entspricht – und schon bekommen Sie eine wunderbar robuste Theorie unseres Universums!
? Wie soll man sich das vorstellen? Was passiert denn mit Ihrem Inflatonfeld-gefüllten Körnchen?
Greene: In den Einstein-Gleichungen tritt eine enorme Anti-Schwerkraft auf, die unser Körnchen wachsen lässt, und zwar unglaublich schnell: Binnen eines Milliardstels eines Milliardstels einer Milliardstel Sekunde schwillt es um einen gigantischen Faktor an. Am Ende dieser rasanten Ausdehnung – dieser „Inflation“, wie wir es nennen – ist unser Körnchen dann mindestens so groß wie eine Grapefruit.
? Und dann?
Greene: Dann zerfällt die Energie des Inflatonfeldes in normale Materie: in Elektronen, Quarks und Neutrinos, wie wir sie heute kennen. Dieses mit Materie gefüllte Universum wird sich nun immer weiter ausdehnen. Andererseits wirkt die Schwerkraft von jetzt an anziehend und beginnt, die Materie zu verklumpen – zu Galaxien, Sternen und Planeten. So entsteht ein Universum mit genau den Eigenschaften, die wir mit unseren Teleskopen beobachten.
? Das ganze klingt nach Taschenspielertrick: Am Anfang steht ein Feld, das nur die Energie weniger Pfunde enthält, am Ende ein ganzes Universum. Gibt es nicht so etwas wie Energieerhaltung?
Greene: O doch. Und das Verblüffende ist: Sie wird keineswegs verletzt. Denn da ist nicht nur die Energie des Inflatonfeldes. Da ist auch die Energie der Schwerkraft, und die ist normalerweise negativ. Deshalb können Sie sozusagen Energie aus der Schwerkraft saugen: Je mehr negative Energie in Gestalt von Schwerkraft gebunden ist, desto mehr positive Energie kann die Gestalt von Materie annehmen. Und genau das ist es, was während der Inflation geschieht: Die Menge positiver Energie in Form von Strahlung und Materie wächst, aber die Menge negativer Energie in Form von Schwerkraft auch.
? Trotzdem drängt sich der Eindruck auf, dass Sie da etwas aus dem Nichts schaffen.
Greene: Aber genau das wollen Sie doch, wenn Sie Kosmologie treiben. Es geht ja darum, zu erklären, warum das Universum überhaupt da ist, warum es Energie enthält. Die Schlüsselfrage lautet: Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts?
? Nun starten Sie aber nicht aus dem Nichts, sondern nur aus dem Fast-Nichts. Am Anfang war offenbar Ihr kleines Körnchen. Wie darf man sich das denn vorstellen? Befand es sich schon in Raum und Zeit?
Greene: Ich wünschte, ich könnte Ihnen die Antwort sagen. Das Universum könnte sich auch in einem Zustand befunden haben, in dem unsere Begriffe von Raum und Zeit noch keinen Sinn hatten. In diesem Urchaos könnte das winzige, mit einem Inflatonfeld gefüllte Körnchen spontan entstanden sein. Alles, was wir kennen – Raum, Zeit, Materie, Energie -, wäre dann erst während der Phase der Inflation entstanden. Aber was, so werden Sie fragen, war dann dieses komische raumlose, zeitlose Chaos? Ich kann leider nur sagen: Ich weiß es nicht.
? Aber Ihre Hoffnung besteht darin, dereinst eine Theorie zu finden, aus der die Zeit quasi von selbst hervorgeht?
Greene: Wir arbeiten daran. Das könnte uns zum Beispiel auch eine Antwort auf eine andere der großen Fragen liefern: In der Relativitätstheorie sind Raum und Zeit extrem nahe Verwandte, sie sind geradezu miteinander verschmolzen zur vierdimensionalen Raumzeit, und trotzdem erscheinen sie uns so gänzlich verschieden. Warum nur? Warum gibt es ein Ding namens Zeit, das ganz ähnlich ist wie der Raum und doch so gänzlich anders? Der Traum eines Physikers wäre es, mit seiner Theorie in einem Bereich zu beginnen, wahrscheinlich noch vor dem Urknall, wo es noch keinen Unterschied gab zwischen Raum und Zeit. Und dann, durch irgendeine Form der Evolution – wobei natürlich noch unklar ist, was Evolution ohne Zeit überhaupt sein soll -, müsste man in den Gleichungen ablesen können, wie Raum und Zeit von selbst entstanden. Das wäre ein grandioser Triumph menschlichen Verstehens.
? Hätte eine solche Theorie auch Konsequenzen für die Zeit, wie wir sie heute erleben?
Greene: Durchaus möglich. Ich bin zum Beispiel fest davon überzeugt, dass wir, wenn wir zu ganz, ganz winzigen Abständen vorstoßen, eine neuartige Bühne in unsere Theorien einführen sollten, die keinen Gebrauch macht von der uns vertrauten Zeit. Ich nehme an, dass wir ein viel fundamentaleres Prinzip finden müssen. Raum und Zeit sollten sekundäre Ideen sein, die aus einer tieferen Ebene hervorgehen.
? Gibt es irgendwelche Vorstellungen, wie eine solche tiefere Ebene aussehen könnte?
Greene: Allenfalls in ersten Ansätzen. Einige Forscher zum Beispiel arbeiten mit etwas, das sie Quantenschaum nennen. Aber das ist noch ziemlich unerforschtes Terrain.
? Und was ist dieser „Schaum“?
Greene: Er enthält nur eine Ahnung von der uns vertrauten Raumzeit. Er ist so turbulent, dass man allenfalls Splitter und Scherben von Raum und Zeit in diesem Schaum sieht. Mit größerem Abstand jedoch erscheinen diese Splitter und Scherben wie eine schöne, glatte Raumzeit.
? Klingt ziemlich verrückt. Nachdem die moderne Physik also erst die Atome in immer kleinere und kleinere Teilchen zerlegt hat, fängt sie nun auch noch an, Raum und Zeit zu zersplittern. Kommt dieser Prozess, hinter dem Fundamentalen immer das noch Fundamentalere zu suchen, eigentlich irgendwann an ein Ende?
Greene: Unbedingt. Irgendwann wird man die fundamentalen Bestandteile und die fundamentalen Gesetze der Wirklichkeit finden. Denn jeder Schritt zu einer tieferen Etage – von Newton zu Einstein zur Quantenmechanik und so weiter – war ein Schritt zu größerer Einfachheit …
? … mal so gesagt, scheint „einfach“ nicht ganz der richtige Begriff zu sein für das, was Sie hier so ausführen.
Greene: Es mag für den Außenseiter so aussehen, als würde alles immer komplizierter. Aber entscheidend ist, dass wir auf eine immer geringere Zahl fundamentaler Ideen und Prinzipien angewiesen sind. Und wer diesen Fortschritt zu wachsender Einfachheit betrachtet, der kann sich kaum gegen den Gedanken sperren, dass die Suche irgendwann an ein Ende kommen wird.
? Werden Sie es überhaupt erkennen, wenn Sie beim fundamentalsten aller Prinzipien angekommen sind?
Greene: Wenn wir es einmal gefunden haben, dann wird das offensichtlich sein. Das befriedigendste aller denkbaren Ergebnisse der 3000-jährigen Reise auf der Suche nach der Wahrheit wäre die pure logische Konsistenz: der Nachweis, dass die Welt gar nicht anders sein kann, als sie ist. In vierzehneinhalb Minuten: Zurück zum Urknall

* „Die Auflösung der Erinnerung“ von Salvador Dalí, 1952 bis 1954. ** Brian Greene: „Der Stoff, aus dem der Kosmos ist“. Siedler Verlag, München; 640 Seiten; 28 Euro.

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