Die meisten Menschen haben eine Haltung. Sie wählen etwa die SPD oder die CDU. Sie essen Fleisch oder Gemüse. Sie mögen die Berge oder das Meer. Die interessantere Frage ist, ob Journalisten eine Haltung haben dürfen. Beziehungsweise, ob diese Haltung sich auch auf ihre Arbeit auswirken dürfen – oder sollen. Die konventionelle These dazu lautet: Nein. In den vergangenen Jahren sind gerade in konservativen und rechten Medien unzählige Texte erschienen, in denen der „Haltungsjournalismus“ und das „Gutmenschentum“ der Bewohner eines „Elfenbeinturms“ als Ursache für den Vertrauensverlust der Medien ausgemacht wurden.

Die Aufgabe der Berichterstattung habe mithin die kühl-distanzierte Beschreibung „dessen, was ist“ zu sein. Egal, worum es sich handelt. Wer nämlich Partei ergreife, sei nicht länger Journalist, sondern „Aktivist“ – und habe insofern (wie das Bier, das nicht getrunken werde) den Beruf verfehlt. Alsdann, ab in die Parteizentrale, Genosse.

Was derzeit an der Berichterstattung über den Krieg im Nahen Osten auffällt: Auf einmal haben alle eine Haltung. Vor allem diejenigen, die genau dies vorher kritisiert haben. Man muss sich nur einmal anschauen, was die Leitmedien der Haltungskritik alles so veröffentlicht. Interviews mit dem Sprecher der israelischen Armee, Kritik an der mangelnden Israelunterstützung deutscher Künstler und Intellektueller, Solidaritätsbekundungen. „Am Israel Chai“, das Volk Israel lebt, schrieb ein Readakreur auf X (the platform formely known as Twitter) und macht damit klar, wo er seinen Platz sieht: an der Seite Israels.

Damit keine Missverständnisse aufkommen:

Es spricht  – was Wunder – viel dafür, auf der Seite Israels zu stehen. Da stünde – im Zweifel – auch ich. Das Land wurde Opfer eines barbarischen Angriffs und setzt sich dagegen zur Wehr. Das ist – solange der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird – legitim, auch wenn das bedeutet, dass in Gaza sehr viele unschuldige Menschen getötet werden. Es sind auch viele unschuldige Deutsche getötet worden, als die Alliierten die Nazis besiegten. So kann man durchaus argumentieren.

Aber, wer in einem Krieg Partei ergreift, ist kein neutraler Berichterstatter mehr. Hingegen nimmt er – oder sie – eine Haltung ein. Das Ergebnis wäre dann Haltungsjournalismus. Es ist jedenfalls schon ein wenig mehr als merkwürdig, dass sich ausgerechnet diejenigen über die Enthaltung Deutschlands bei der jüngsten Abstimmung über eine Gaza-Resolution der UN empört haben, die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sonst einen Überschuss an Gesinnung und einen Mangel an Realismus vorwerfen.

Was war diese Enthaltung, wenn nicht Realpolitik?

Und, wenn das zutrifft, dann gibt es jetzt zwei mögliche Schlussfolgerungen. Erstens: Die Moralisierung der Nahostdebatte ist ein Problem. Dann wäre ein großer Teil der deutschen und gerade der konservativen Israelberichterstattung ein Problem. Oder zweitens: Es geht manchmal einfach nicht ohne Haltung. Weder im Nahen Osten noch bei anderen Themen. Auch der Klimawandel ist für einen Teil der Menschheit ein existenzielles Problem. Oder die Ungleichheit.

Manchmal geht es nun mal nicht ohne eine Haltung

Es spricht viel dafür, dass die zweite Schlussfolgerung näher an der Realität ist als die erste. Denn so wichtig Fakten sind: Sie müssen interpretiert werden dürfen. Und das, das geht nun mal oft nicht ohne Rückgriff auf weltanschauliche Grundüberzeugungen. Jedenfalls bei den wirklich wichtigen Fragen: Mehr Sozialstaat oder weniger? Flüchtlinge rein oder raus? Steuern rauf oder runter? Kohlekraftwerke anschalten oder ausschalten?
Die Wissenschaft kann dabei helfen, Entscheidungen zu strukturieren. Sie kann Zielkonflikte aufzeigen und mögliche Folgen aufzeigen. Aber in den seltensten Fällen ist der Sachstand so eindeutig, dass es eigentlich nichts mehr zu entscheiden gibt. Und dann kommt die Moral ins Spiel. Ob man will oder nicht.

Deshalb ist die Kritik am Haltungsjournalismus in Wahrheit häufig keine Kritik an zu viel Haltung im Journalismus – sondern an der vermeintlich falschen Haltung des „Anderen“. Dazu passt dann auch, dass der Vorwurf der Moralisierung selten aus dem eigenen Lager kommt. Vielmehr werfen das die Rechten den Linken vor. Und (seltener) die Linken den Rechten. Oder anders formuliert: Haltungsjournalisten sind diejenigen, die meine Meinung nicht teilen. Alle anderen reden Klartext – um noch einen Kampfbegriff eingeführt zu haben.

Ein Vorschlag zur Versachlichung der Debatte:

Es führt nicht weiter, der Gegenseite Haltung zu unterstellen und gleichzeitig die eigene Haltung zu verleugnen. Menschen haben unterschiedliche Vorlieben. Deshalb gibt es Kleinwagen und Geländewagen. Und – was Wunder –  liberale Zeitungen und konservative Zeitungen. Man kann über alles streiten – aber nicht, um den Gegner unlauterer Motive zu unterstellen.

Wir sind alle Bewohner des Elfenbeinturms

Groß ist die Empörung, weil Deutschland sich bei einer UN-Resolution zu Gaza enthalten hat. Doch möglicherweise war es einfach die richtige Reaktion.

Schande, Verrat – vielleicht aber auch nur solidarisch

Was sich vor einigen Tagen bei den UN in New York abspielte, war ein Vorgeschmack auf das, was Israel und seinen Partnern in den kommenden Wochen, Monaten, ach was: Jahren bevorsteht. Der größte Teil der Welt steht nicht an der Seite der Israelis und die von Jordanien eingebrachte Resolution A/ES-10/L.25 zeigt das ziemlich deutlich. Von den 193 Mitgliedsstaaten stimmten 121 für die Resolution, die eigentlich eine Waffenruhe in Gaza fordert, aber, freundlich gesagt, hochumstritten formuliert ist und die jüngsten Massaker an den Israelis nicht erwähnt. Nur 14 Länder stimmten dagegen. 44 enthielten sich, darunter die Deutschen (die übrigens nicht anwesend waren).

Ausgerechnet Deutschland, das Israels Sicherheit zur Staatsräson erklärt hat!

Schnell war denn gleich nach der Abstimmung die Rede davon, Deutschland habe Israel im Stich gelassen, der israelische Botschafter in Deutschland drückte seine Enttäuschung über das Verhalten aus. Kommentar:

„Diese Enthaltung ist eine Schande“

Schande ist ein großes Wort, das keinen zweiten Blick zulässt. Und doch lohnt es sich, hinter die Kulissen zu schauen. Die Deutschen haben nämlich durchaus nachvollziehbare Gründe für ihr Abstimmungsverhalten gehabt.
Man könnte das, was in der UN passiert, leicht abtun – ist doch ohnehin alles unbedeutend! Auch die verabschiedete Resolution zu Gaza ist ja rechtlich nicht bindend. Und auch moralisch hat die UN in der Vergangenheit durchaus danebengegriffen, als sie zum Beispiel in der Resolution 3379 den Zionismus als eine Form des Rassismus bezeichnete und damit indirekt Israels Gründungsakt infrage stellte. Bei schwergewichtigen politischen Fragen ist der Sicherheitsrat ohnehin schon lange handlungsunfähig. Entschieden wird also wenig in der UN, was also scheren Israel irgendwelche Beschlüsse?
Kalt und geschichtsvergessen.

UN-Vollversammlung:
„Diese Enthaltung ist eine Schande“ – Doch so einfach ist es nicht

Die UN mag mehr Bühne als Politik sein, aber auf dieser Bühne wird um die Deutungshoheit der Weltereignisse gerungen, vor allem dieser Tage, da Russland und China recht aggressiv die Weltordnung zu verändern suchen. Wäre die UN unbedeutend, dann hätte die deutsche Außenministerin nicht die vergangenen anderthalb Jahre damit verbracht, bei jeder ihrer Reisen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu erwähnen. Ob in Addis Abeba, in Neu-Delhi oder Astana: Jedes Mal ließ Annalena Baerbock einfließen, welch ein Verbrechen dieser Krieg sei. Sie hat auf diese Weise Stimmen gesammelt.

So läuft es hinter den UN-Kulissen:

Als über die UN-Resolutionen abgestimmt wurde, die den Angriff auf die Ukraine verurteilten, hatten Diplomaten zuvor schon monatelang um jede einzelne Stimme gerungen. Wer gilt als Unterstützer, wer als Wackelkandidat? Sie telefonierten, überzeugten – oder auch nicht. Als die Ukrainer im vergangenen Winter eine scharfe Resolution einbringen wollten, waren es die Verbündeten und Partner, die ihnen hinter den Kulissen davon abrieten: Viele Staaten würden da nicht mitziehen. Und eine gescheiterte Resolution wäre am Ende ein diplomatischer Erfolg der Russen gewesen. Also wurde der Text deutlich verändert und sowohl im Ton als auch in den Forderungen abgemildert – und der Beschluss mit 141 Stimmen angenommen, ein diplomatischer Erfolg.
Dieser Tage hat sich in New York ein globales Stimmungsbild offenbart, das für Israel verheerend ist. Vor allem (aber nicht nur!) jene Staaten, die als Globaler Süden gelten, sehen in Israel eine repressive Kolonialmacht. Selbst jetzt wird das Land nicht als Opfer anerkannt, sondern ausschließlich als Täter. Als Besatzungsmacht, die Zivilisten tötet.

Diese Außenwahrnehmung Israels ist nicht neu, aber in seiner geschichtsvergessenen Kälte dann doch, angesichts des Leids, das dem Land seit dem 7. Oktober widerfährt. Nicht nur sind 1400 Israelis umgebracht worden, noch immer werden Raketen auf Israel geschossen, droht die Hisbollah an der Nordgrenze Israels, werden über 200 Geiseln von der Hamas gefangen gehalten. Die Resolution A/ES-10/L.25, die Jordanien für die Palästinenser eingebracht, steht für diese Kälte.

Manchmal ist entscheidend, was nicht gesagt wird

Der Text dieser letztlich verabschiedeten Resolution ist in der Tat beschämend. Nicht so sehr aufgrund dessen, was drinsteht – es ist richtig, an das Leid der Zivilisten in Gaza zu erinnern und für die Einhaltung des internationalen humanitären Rechts einzutreten. Es ist allerdings auf eine schreckliche Art falsch, auszulassen, was am 7. Oktober 2023 in Israel geschehen ist. Der Tag wird beiläufig erwähnt und nicht als die Zäsur vorgestellt, die jener Tag für Israel markiert: Mindestens 1400 Juden wurden an diesem Datum massakriert; Babys, Frauen, Kinder und Alte wurden verstümmelt, verbrannt, niedergemetzelt, hingerichtet oder entführt – überwiegend Zivilisten wohlgemerkt und nicht israelische Soldaten. Sie werden nicht erwähnt in der Resolution. Genauso wenig wie die Hamas, die diese Verbrechen begangen hat.
Auch wenn es dieser Tage nicht einfach ist, sich auf grundlegende Dinge zu einigen – darauf sollte man sich doch verständigen können: Eine Resolution, die von der Hamas ausdrücklich gelobt wurde, kann keine gute Resolution sein

Nahost-Glossar: Den Nahostkonflikt verstehen

Und damit zurück zur Rolle Deutschlands: Wenn es nicht möglich ist, von palästinensischen Opfern zu sprechen, ohne die israelischen zu erwähnen; wenn die verabschiedete Resolution in ihrer Kälte so beschämend ist, ist es die deutsche Enthaltung dann nicht zwangsläufig auch ?

Deutschland hat für Kanadas Ergänzungsvorschlag gestimmt

Eben nicht – Denn die Jordanier hatten zunächst einen anderen, noch viel inakzeptableren Text eingebracht. Darin war nicht von der „Sorge über die jüngste Eskalation“ die Rede, sondern lediglich von der Eskalation, die so gesehen seit vielen Jahren andauert. Das größte nationale Trauma Israels seit seiner Gründung, der 7. Oktober 2023, wurde nicht erwähnt. Das Wort Terror fehlte. Eine sofortige Waffenruhe wurde gefordert.

Deutschland hat – zusammen mit anderen Staaten – darauf gedrungen, dass diese Formulierungen überarbeitet wurden. Aus der Forderung nach einer sofortigen Waffenruhe wurde die nach einer nachhaltigen humanitären Waffenruhe, die zu einer Beilegung der Feindseligkeiten führen soll. Es gelang zwar nicht, das Wort „Geiseln“ zu platzieren – noch immer sind mehr als 200 Menschen in den Händen der Hamas – aber immerhin wurde der Zusatz eingefügt, dass alle illegal festgehaltenen Zivilisten bedingungslos freigelassen werden müssten. Und auch der Ruf nach Frieden innerhalb einer Zweistaatenlösung taucht nun auf, in dem ersten Entwurf fehlte er noch.

Man muss sich keine Illusionen machen: Auch der ursprüngliche Text, in dem die israelischen Opfer genauso wenig auftauchen wie eine Zweistaatenlösung, hätte in den UN seine Mehrheit gefunden. Aber, zu guter Lezt deutscher Intervention wegen konnten einige Verbesserungen durchgesetzt werden, die auch im Sinne Israels sind. Wie glaubwürdig hätte es da gewirkt, wenn die Deutschen sich gegen das, was in Kleinem erreicht worden war, öffentlich mit einem Nein gestellt hätten? Für einen kanadischen Ergänzungsvorschlag, der eiligst eingebracht wurde, um doch noch sehr klar den Terror der Hamas zu verurteilen, hatte nämlich auch die deutsche Delegation gestimmt – aber der scheiterte bei der UN-Abstimmung.

Oft genung war und ist nicht entscheidend, was gesagt wird, sondern was nicht gesagt wird. Manchmal bedeuten Solidarität und Unterstützung, Schlimmeres verhindert zu haben. Und das, wahrlich das ist keine Schande.

Jan 2023 | Allgemein, Essay, In vino veritas, Sapere aude, Die Hoffnung stirbt zuletzt, Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch | Kommentieren