Wir wollen nicht schreiben über das Europa selbstzerstörerischer Kriege mit den Köpfen voller Hass, falscher Nationalismen und egoistischer politischer Tricks, sondern über das Europa der Vernunft, der Humanitas, der Kultur und Künste und der fruchtbaren interkontinentalen Begegnungen. Um es geographisch zu umreißen: Das Europa von Paris bis Kuibyschew, von den Shetlandinseln bis zum Ural, von Amsterdam über Budapest bis Bukarest und von Berlin bis Sewastopol oder von Hammerfest, Uppsala und Riga bis Belgrad und Odessa.
Es läßt sich auch sinnenhafter und bildlicher ausdrücken: Ich meine das Europa des Wunders der gotischen Kathedrale zu Chartres aus dem 12. bis zum Wunder des Kiewer Höhlenklosters Petscherskaja Lawra aus dem 11. Jahrhundert. Von der Rosette in der Fassade des Straßburger Münsters bis zu den großformatigen Ikonen aus der Zeit des Zaren Boris Godunow. Von den Mysterien der Farbfenstermosaike im Dom zu Köln, bis hin zu jenen der Fresken auf den Außenmauern der Klöster Voroneţ und Suceviţa in der Moldau. Oder vom Escorial Philipps II. in Kastilien bis zum Palast des Fürsten Grigorij Potjomkin in Jekaterinoslaw, vom phänomenalen Moses des Michelangelo in San Pietro in Vincoli bis zu den sassanidischen und by- zantinischen Schätzen in der Eremitage. Aber auch von der Jenseitigkeit der Musik Johann Sebastian Bachs bis zur Abgründigkeit der altslawischen Li- turgiegesänge. Doch nicht zu vergessen von der Magna Carta Libertatum, dem Grundgesetz aus dem 13. Jahrhundert der Engländer, bis hin zur Rus- kaja Prawda, dem Corpus iuris civilis des Großfürsten Jaroslaw des Weisen aus dem 11. Jahrhundert. Nicht zuletzt muss in dieser willkürlichen Reihung die Rede sein von der Handelsroute der deutschen Hanse im 15./16. Jahrhundert aus Lübeck an der 0stsee über Krakau an der Weichsel und Bacău an der Bistritz bis zum Schwarzen Meer.
Fassen wir näher gelegene Jahrhunderte ins Auge, so darf der Hinweis auf den Austausch der innereuropäischen Ideenbewegungen, die den geistigen Atem unseres Kontinents seit jeher bestimmen, erst recht nicht unterbleiben. Abgesehen von den Unternehmungen, sich durch immer zahlreiche Übersetzungen einander mitzuteilen – es sind mehr als auf jedem anderen Kontinent – etwa das Literaturgespräch zwischen Paris und Moskau, die ge- genseitige Befruchtung der deutschen und österreichischen mit den tschechi- schen, russischen und ukrainischen Musikzentren,die florentinischen Archi- tekturimpulse in Sankt Petersburg, aber ebenso schon die Präsenz der italienischen Baumeister Ferovanti oder Selario in Moskau im 16. Jahrhundert. „Die Kultur Europas“, schrieb der ehemalige Präsident der Föderation Europäischer Schriftsteller Jochen Kelter gerade, „ist seit zweitausend Jahren auf der Wanderschaft.“ Und der niederländische Schriftsteller Geert Mak ergänzte dieser Tage: „Europa (…) ist ein Kontinent, auf dem man mühelos in der Zeit hin und her reisen kann.“
Natürlich konkretisierte sich diese Wanderschaft der Ideen und Impulse im Lebensweg herausragender Europäer, deren Namen bis heute Glanz behielten. Einige Beispiele aus den letzten Jahrhunderten: Um die Mitte des 18. Jahrhunderts lebte der Pariser Voltaire am Hof des Preußenkönigs Friedrichs II. des Großen in Potsdam – der Berliner Alexander von Humboldt hingegen ein Dreivierteljahrhundert später mehrere Jahre in Paris, wie kurz danach auch der Pole Chopin. Die in Sankt Petersburg residierende Zarin Katharina II. die Große wiederum war eine Deutsche aus der Familie Anhalt Zerbst. Hatte jedoch nicht schon vorher der moldauische Fürst und Gelehrte Dimitrie Cantemir– seit 1714 Mitglied der Berliner Akademie – als Freund des Zaren Peters des Großen in Rußland gelebt, wo er auch starb.
Als symbolisch für diese innereuropäischen Ideenflüsse sei schließlich der Hinweis erlaubt, dass der katholische Österreicher Rainer Maria Rilke sein berühmtes dreiteiliges Stunden-Buch im morgenländisch-orthodoxen Rußland zu schreiben begann, während der gläubige orthodoxe Christ und Russe Dostojewskij seinen großen Roman Die Brüder Karamasow im abendländischen Baden-Baden und im protestantischen Berlin schrieb bzw. entwarf.
Die Beispiele dieser Art andauernden Revirements europäischer Geistespo- tenz zwischen den jeweiligen Kulturzentren ließen sich endlos weiter führen. Wir sind auf Beschränkung angewiesen, und es geht zunächst um die Skizzierung der Fähigkeit der Europäer, sich trotz ihrer Polarisierungen und unabhängig von ihnen gegenseitig anzuregen, es geht darum, hier Europa als Einheit in Erinnerung zu rufen – oder, nach einem Wort von Thomas Sterns Eliot, als „Einheit in der Vielfalt“: Europa als ein Kosmos des aus allen und in alle Himmelsrichtungen strömenden Gebens und Nehmens.
Dass die Dynamik, mit der dies geschah, Wirkungen auch über Europa hinaus erzielte, die bis in unsere Epochen lebendig sind, gehört ebenfalls hierher. Ist es doch schließlich so, dass Vision, Plan und Erarbeitung der mathematischen Voraussetzungen für die Weltraumflüge nicht weit von hier ausgingen – vom siebenbürgischen Physiker Hermann Oberth, den die Historiker den „Vater der modernen Raumfahrt“ nennen, und fast gleichzeitig von einem zweiten Europäer, dem russischen Astrodynamiker Konstantin Ziolkowsky. Die beiden genialen Männer hatten sich trotz der strengen politischen Grenzen einander mitgeteilt. Und noch lange nicht zu guter Letzt daran, dass es ein Europäer – der Ukrainer Sergej Koroljow – war, der den ersten künstlichen Erdsatelliten,„Sputnik“, zu deutsch „Reisegefährte“, entwickelte und ins Weltall aufsteigen ließ; vier Jahre später war es dann der 24jährige Russe Juri Gagarin, der, 1961, als erster Mensch die Erde in einer Raumkapsel umrundete, dass es, weiter, der Deutsche Wernher von Braun war, der den US- Amerikanern die „Apollo 11“ baute, die 1969 zum ersten Mal Astronauten auf den Mond brachte.
Zu nennen wäre schließlich noch einen Europäer vergleichbaren Formats: den Bukarester Henry Coandă – er schuf 1910 das erste strahlgetriebene Flugzeug, 1911 die erste zweimotorige Flugmaschine und baute 1919 das erste Luftkissenboot. Coandăs Nachfolgemodelle fliegen und schwimmen heute über allen Kontinenten, auf allen Meeren des Globus. Coandă wurde 1886 hier geboren und starb – nach Aufenthalt in Frankreich und den USA – ebenfalls hier.
Der Élan vital, von dem der Franzose Henry Bergson in den Jahren vor dem I. Weltkrieg schrieb, erhielt sich den Europäern also bis in unsere Epochen. Es sei nicht unsere Absicht, hier die Frage nach dem Grund zu stellen, wieso Europa zur Gedankenquelle von globaler Ergiebigkeit wurde.
Aber der Kern der europäischen Kulturpotenz liegt
in der Vitalität seiner Regionen
Dies, sofern wir unter Region eine gesellschaftliche Gruppe verstehen, die – auch abgesehen von ihrer Nationszugehörigkeit – in geschichtlichem Wachstum erkennbare Spezifika entwickelte; Region demnach als in sich geschlossener Kulturraum. Sollte Europa die Vielfalt an regional definierter Ausdrucksfähigkeit verlieren, wird es aufhören, dasjenige Europa zu sein, das wir, unabhängig von unserer Nationalität, im Sinne des uns angemessenen Kulturklimas als Heimat empfinden. Das ist nur bedingt, nur abstrakt und ideologisch in der nationalen, es ist allein in der überschaubaren regionalen Dimension als persönliches Ereignis möglich.
Alle an Regionen gebundenen Erscheinungen bedeuten in der Summe
sowohl kulturellen Reichtum als auch historische Information.
Wer Gelegenheit hatte, in Südtirol aus Anlass der Himmelfahrt Marias am Pilgergang einer Dorfgemeinde in einem Tal der Dolomiten oder der Stubaier Alpen zu einer Anhöhe hinauf teilzunehmen, wird über die berühmte Burgen- und Festungsarchitektur der Grafen von Tirol hinaus erfahren, wo das Herz dieser einzigartigen Region schlägt: wo ihre Lebenskraft und deren Orientierung liegen. Mitten zwischen den Menschen in Festtracht vom fünften bis zum neunzigsten Lebensjahr unter den Fahnen den Segen der Pfarrer für die Anwesenden und für die Welt erbittet, macht den uralten sakralen Pilgerakt als Erlebnis im Sinne des Wortes aus den Römerbriefen spürbar: Si Deus pro nobis, quis contra nos?
Im gleichen Sinne müsste auch von jenen Bauern der bayerischen Hallartau-Region die Rede sein, die seit der vorkarolingischen Zeit – seit dem frühen 8. Jahrhundert – Hopfen anbauen und zur Erntezeit Wahllfahrten unter großer Beteiligung vornehmen, ein Ritual, das sich bei genauem Hinsehen wie der Text eines aufgeschlagenen Buches über zurückgelegte historische Wege liest. Es könnte genauso über jene Lieder und Tanzweisen finnischer Waldarbeiter gesprochen werden, in denen sich Elemente der Pentatonik aus den germanischen Runen-Melodien – c-d-e-g-a – nicht nur in musealer Aufzeichnung, sondern als immer noch gesungenes Musikgut erhielten. Oder über den rund eintausend Jahre alten Brauch des Abrollens von Feuerrädern im Friaul, im Odenwald, Sauerland, Spessart, im Tessin und Weserbergland.
Es wäre mutatis mutandis Gleiches über die Provence, über Kastilien, Burgund, die ungarische Puszta, die Zips und Böhmen oder östliche Landschaften wie etwa die polnische Wojewodschaft Tarnóv mitzuteilen – regionale Zentren, deren Potenz die Potenz der Völker Europas ergibt.
Wozu aber den Blick auf Kastilien oder die Provence richten, befinden wir uns doch hier in einem Land, dessen Regionen in ihrem Kulturgepäck all dies in exemplarischer Fülle besitzen? Gehen Sie z.B. in die Maramuresch und erleben Sie die Ernsthaftigkeit der halb sakralen, halb profanen Umzüge der Bauernjungs von den Berghöfen am Heiligdreikönigstag mit überlieferten Sprüchen, mit festgelegter Rede und Gegenrede. Nach viereinhalb atheistischen Kommunismusjahrzehnten erfuhr der Brauch eine Auferstehung in nicht geahnter Lebendigkeit – er war stärker als die Diktatur. Gehen Sie in eine Siedlung in den moldauischen Ostkarpatenwäldern und wohnen Sie einem Osterfest mit sonst nirgendwo anzutreffenden Festgewändern und Kulthandlungen bei. Oder erinnern Sie sich der von der genialen Maria Tănase gesammelten und gesungenen Volkslieder, Klagegesänge, Freudenrufkadenzen …
Wissen die Menschen dieses Landes, welche Schätze sie besitzen?
Alle diese Feste von Sizilien bis in die Moldau, von Kreta bis in die Puszta, sei es in den Glanzfarben italienischer Renaissancekostüme, sei es in peloponnesischen Hirtentrachten, dazu die regionalen Idiome und die seit ungezählten Generationen weitergegebenen Tänze oder Lieder etc. ergänzen das Bild unserer Persönlichkeit über das plakativ repräsentative Kulturzeugnis hinaus substantiell – sofern wir, freilich, Wert darauf legen, über den Tag hinaus uns selber wahrzunehmen und wissen wollen, wer wir sind, woher wir kommen, in welchem Boden wir wurzeln.
Und überlegen Sie schließlich, wie viel etwa aus der Musik der Völker in die europäische Kunstmusik einfloss – von Bach über Beethoven bis Verdi, Bartók und Enescu, wie stark Märchen und Sagen in die Literatur der Europäer hinein wirkten. Ließ sich nicht Mihail Sadoveanu von der Volksballade Mioriţa zum Roman Baltagul, Goethe vom Volksbuch Faust zu seiner zweiteiligen Tragödie, Shakespeare von der Sage über den britannischen Herrscher zu König Lear anregen?
In den Ländern Ost- und Südosteuropas deutete die herrschende Kulturideologie nicht allein das gesamte geistige Erbe in ihrem Sinne um, sie degradierte zugleich den gesamten Komplex der Volkskultur und -kunst zur Attrappe. Die Aushöhlung ging nach der Losung des Lenin-Wortes „National in der Form, sozialistisch im Inhalt“ vor sich, die Individualität der Regionen wurde aufgelöst im uniformen „Neuen Menschen“. Nicht mehr der historisch entwickelte Wesenskern war ihr Inhalt, sondern die Absicht der Allerweltsideologie.
Aber um nichts anderes in der Auswirkung sieht sich heute der Wille zur Behauptung regionaler Eigenstämmigkeit einem geschichtlich angelegten und ebenfalls gegen ihn gerichteten Prozess ausgesetzt: der von ökonomischen Interessen und Ansprüchen ausgehenden Vereinheitlichung der Gesellschaft – der Globalisierung.
Es entspricht der Logik dieser Situation, dass sich der 1949 geschaffene Europa-Rat – Conseil de l’Europe– vor rund zwei Monaten in einem Papier mit dem Schutz der Regionen in den Staaten der Europäischen Union befasste; die Institution in Straßburg erkannte die kulturelle Verödungsgefahr nicht allein in den Ländern ihrer Verantwortung, sondern in ganz Europa – und damit die der Schädigung der kontinentalen Kulturpotenz. Die Erkenntnis hat mit der immer heftigeren Reaktion von immer mehr Regionen in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Niederlande, Österreich auf die weltweite Vereinheitlichungstendenz, d. h. auf die Niederwalzung ihrer Eigenart zu tun,sie ist die zwangsläufige Antwort auf die Bedrohung ihrer Individualität. Unter dem Druck mächtiger transnationaler Vorgänge in der Finanz-, Inves- titions- und Industriepolitik macht sich, wie Soziologen feststellen, der Widerstand vor allem besonders profilierter und kulturell eigenwüchsiger Regionen bemerkbar; sie haben das als „reaktives Bedürfnis nach Selbstbesinnung“ bezeichnet. Ihre Sprecher weisen dabei auf die seit jeher europabe- stimmenden Kulturstrukturen der Regionen hin, auf die, wie sie sagen, im Tausch gegen falsch interpretierte Fortschrittlichkeit ohne kollektiven Schaden auf Dauer nicht verzichtet werden könne, und ohne die – wie der Bundespräsident Deutschlands, Joachim Gauck, anmerkte – „Europa nicht Europa sein kann“.
nnereuropäischer Kulturdialog. Lückenhafte Marginalien zu einem großen Thema
heute zumindest zum Vokabular aller Staaten und dient ihren Regierungen als wichtigste Legitimation.
Es ist nicht meine Absicht, hier die Frage nach dem Grund zu stellen, wieso Europa zur Gedankenquelle von globaler Ergiebigkeit wurde. Es ist jedoch meine Absicht, Sie auf ein Charakteristikum hinzuweisen, das nicht allein Substanz und Struktur, sondern auch den Reichtum der Bekundungs- und Erscheinungsformen Europas ausmacht. Ich meine dies: Der Kern der euro- päischen Kulturpotenz liegt in der Vitalität seiner Regionen – sofern wir un- ter Region eine gesellschaftliche Gruppe verstehen, die – auch abgesehen von ihrer Nationszugehörigkeit – in geschichtlichem Wachstum erkennbare Spezifika entwickelte; Region demnach als in sich geschlossener Kulturraum. Sollte Europa die Vielfalt an regional definierter Ausdrucksfähigkeit verlie- ren, wird es aufhören, dasjenige Europa zu sein, das wir, unabhängig von un- serer Nationalität, im Sinne des uns angemessenen Kulturklimas als Heimat empfinden. Das ist nur bedingt, nur abstrakt und ideologisch in der nationa- len, es ist allein in der überschaubaren regionalen Dimension als persönliches Ereignis möglich „Ohne Tradition ist der Mensch doch ein Fremder im eigenen Land“, antwortete mir ein Italiener in Garda erstaunt auf die Frage nach dem Grund der außerordentlichen Beteiligung an der seit Jahrhunder- ten als Volksfest – als Festa popolare – ausgetragenen Regatta aller Ort- schaften der Garda-See-Landschaft.
Sehen Sie, ich kann mir z. B. nicht vorstellen, dass die Toskana ohne ihre alten und bis heute vor Lebenslust überbordenden regionalen Bräuche die Toskana wäre. Natürlich ist die Toskana die Landschaft der florentinischen Kunstschätze – der David-Gestalt in Bronze des Donatello, der späteren in Marmor des Michelangelo, des Palazzo Strozzi, des Ponte Vecchio etc. Aber sie ist zumindest im gleichen Maße die Heimat z. B. des seit dem Mittelalter ungebrochen lebendigen Volksfestes des Calcio in costume auf der Piazza della Signoria, des Scoppio del carro oder vieler anderer vergleichbarer Ma- nifestationen von La Spezia im Norden bis Arezzo im Süden. Oder können Sie sich Andalusien vorstellen ohne den bis ins 16., wenn nicht gar ins 15. Jahrhundert zurückreichenden Flamenco-Tanz mit seinen Variationen wie Alegria, Fandanguillo, Farruca, Milonga? Auch hier wie im Fall der Toska- na: Selbstverständlich sind Architekturen wie die Mezquita in Córdoba und das Minarett La Giralda in Sevilla herausragende Wahrzeichen der Region Andalusien. Doch von nicht minderer Präsenz ist es der hier entstandene Kastagnettentanz, der dazu gehörende Gesang – der Flamenco cante – und die Gitarrenbegleitung – der Toque. Usw.
Alle diese an die Region gebundenen Erscheinungen bedeuten in summa so- wohl kulturellen Reichtum als auch historische Information. Wer z. B. die Gelegenheit hatte, in Südtirol aus Anlass der Himmelfahrt Marias am Pilger- gang einer Dorfgemeinde in einem Tal der Dolomiten oder der Stubaier Al- pen zu einer Anhöhe hinauf teilzunehmen, wird über die berühmte Burgen- und Festungsarchitektur der Grafen von Tirol hinaus erfahren, wo das Herz dieser einzigartigen Region schlägt: wo ihre Lebenskraft und deren Orientie- rung liegen. Mitten zwischen den Menschen in Festtracht vom fünften bis zum neunzigsten Lebensjahr unter den Fahnen der Muttergottes zu stehen, deren Segen der Pfarrer für die Anwesenden und für die Welt erbittet, macht den uralten sakralen Pilgerakt als Erlebnis im Sinne des Wortes aus den Rö- merbriefen spürbar: Si Deus pro nobis, quis contra nos? Erst von dieser si- cheren Glaubensgestimmtheit her werden auch die Kunstschätze Tirols, die Klöster, Schlösser und ihre Bibliotheken, in ihrem geistigen Impetus ver- ständlich.
Im gleichen Sinne müsste auch von jenen Bauern der bayerischen Hallartau- Region die Rede sein, die seit der vorkarolingischen Zeit – seit dem frühen 8. Jahrhundert – Hopfen anbauen und zur Erntezeit Wahlfahrten unter großer Beteiligung vornehmen, ein Ritual, das sich bei genauem Hinsehen wie der Text eines aufgeschlagenen Buches über zurückgelegte historische Wege liest. Es könnte genauso über jene Lieder und Tanzweisen finnischer Wald- arbeiter gesprochen werden, in denen sich Elemente der Pentatonik aus den germanischen Runen-Melodien – c-d-e-g-a – nicht nur in musealer Auf- zeichnung, sondern als immer noch gesungenes Musikgut erhielten. Oder über den rund eintausend Jahre alten Brauch des Abrollens von Feuerrädern im Friaul, im Odenwald, Sauerland, Spessart, im Tessin und Weserbergland. Usw. Es wäre mutatis mutandis Gleiches über die Provence, über Kastilien, Burgund, die ungarische Puszta, die Zips und Böhmen oder östliche Land- schaften wie etwa die polnische Wojewodschaft Tarnóv mitzuteilen – regio- nale Zentren, deren Potenz die Potenz der Völker Europas ergibt.
Wozu aber den Blick auf Kastilien oder die Provence richten, befinden wir uns doch hier in einem Land, dessen Regionen in ihrem Kulturgepäck all dies in exemplarischer Fülle besitzen? Gehen Sie z.B. in die Maramuresch und erleben Sie, wie ich, die Ernsthaftigkeit der halb sakralen, halb profanen Umzüge der Bauernburschen von den Berghöfen am Heiligdreikönigstag mit überlieferten Sprüchen, mit festgelegter Rede und Gegenrede. Nach vierein-
14 ZGR 1 (43) / 2013
Innereuropäischer Kulturdialog. Lückenhafte Marginalien zu einem großen Thema
halb atheistischen Kommunismusjahrzehnten erfuhr der Brauch eine Aufer- stehung in nicht geahnter Lebendigkeit – er war stärker als die Diktatur. Ge- hen Sie in eine Siedlung in den moldauischen Ostkarpatenwäldern und woh- nen Sie einem Osterfest mit sonst nirgendwo anzutreffenden Festgewändern und Kulthandlungen bei. Oder erinnern Sie sich der von der genialen Maria Tănase gesammelten und gesungenen Volkslieder, Klagegesänge, Freuden- rufkadenzen … Wissen die Menschen dieses Landes, welche Schätze sie hier besitzen?
Alle diese Feste von Sizilien bis in die Moldau, von Kreta bis in die Puszta, sei es in den Glanzfarben italienischer Renaissancekostüme, sei es in pelopon- nesischen Hirtentrachten, dazu die regionalen Idiome und die seit ungezähl- ten Generationen weitergegebenen Tänze oder Lieder etc. ergänzen das Bild unserer Persönlichkeit über das plakativ repräsentative Kulturzeugnis hin- aus substantiell – sofern wir, freilich, Wert darauf legen, über den Tag hin- aus uns selber wahrzunehmen und wissen wollen, wer wir sind, woher wir kommen, in welchem Boden wir wurzeln.
Und überlegen Sie schließlich, wie viel etwa aus der Musik der Völker in die europäische Kunstmusik einfloss – von Bach über Beethoven bis Verdi, Bar- tók und Enescu, wie stark Märchen und Sagen in die Literatur der Europäer hinein wirkten. Ließ sich nicht Mihail Sadoveanu von der Volksballade Mio- riţa zum Roman Baltagul, Goethe vom Volksbuch Faust zu seiner zweiteili- gen Tragödie, Shakespeare von der Sage über den britannischen Herrscher zu König Lear anregen?
Nun, in den Ländern Ost- und Südosteuropas deutete die kommunistische Kulturideologie nicht allein das gesamte geistige Erbe in ihrem Sinne um, sie degradierte zugleich den gesamten Komplex der Volkskultur und -kunst zur Attrappe. Die Aushöhlung ging nach der Losung des Lenin-Wortes „National in der Form, sozialistisch im Inhalt“ vor sich, die Individualität der Regionen wurde aufgelöst im uniformen „Neuen Menschen“. Nicht mehr der historisch entwickelte Wesenskern war ihr Inhalt, sondern die Absicht der Allerwelts- ideologie. Aber um nichts anderes in der Auswirkung sieht sich heute der Wille zur Behauptung regionaler Eigenstämmigkeit einem geschichtlich an- gelegten und ebenfalls gegen ihn gerichteten Prozess ausgesetzt: der von ökonomischen Interessen und Ansprüchen ausgehenden Vereinheitlichung der Gesellschaft – der Globalisierung.
Es entspricht der Logik dieser Situation, dass sich der 1949 geschaffene Euopa-Rat – Conseil de l’Europe– vor rund zwei Monaten in einem Papier mit dem Schutz der Regionen in den Staaten der Europäischen Union befasste; die Institution in Straßburg erkannte die kulturelle Verödungsgefahr nicht allein in den Ländern ihrer Verantwortung, sondern in ganz Europa – und damit die der Schädigung der kontinentalen Kulturpotenz. Die Erkenntnis hat mit der immer heftigeren Reaktion von immer mehr Regionen in Län- dern wie Deutschland, Frankreich, Niederlande, Österreich auf die weltweite Vereinheitlichungstendenz, d. h. auf die Niederwalzung ihrer Eigenart zu tun,sie ist die zwangsläufige Antwort auf die Bedrohung ihrer Individualität. Unter dem Druck mächtiger transnationaler Vorgänge in der Finanz-, Inves- titions- und Industriepolitik macht sich, wie Soziologen feststellen, der Wi- derstand vor allem besonders profilierter und kulturell eigenwüchsiger Re- gionen bemerkbar; sie haben das als „reaktives Bedürfnis nach Selbstbesin- nung“ bezeichnet. Ihre Sprecher weisen dabei auf die seit jeher europabe- stimmenden Kulturstrukturen der Regionen hin, auf die, wie sie sagen, im Tausch gegen falsch interpretierte Fortschrittlichkeit ohne kollektiven Scha- den auf Dauer nicht verzichtet werden könne, und ohne die – wie der Bundespräsident Deutschlands, Joachim Gauck anmerkte „Europa nicht Europa sein kann“.