Ein Blogger hat fälschlicherweise verbreitet, sie sei schuld an der Pandemie. Menschen in aller Welt glauben ihm, Benassis Leben gerät aus den Fugen – dann beginnt sie zu kämpfen.
E sist ein Freitagnachmittag im März 2020, und der Parkplatz des Krankenhauses in Fort Belvoir, Virginia, füllt sich. Immer mehr Menschen strömen zur Klinik, um ihre Angehörigen zu besuchen. Es sind so viele, dass Maatje Benassi die Parktickets ausgehen.
Benassi arbeitet seit fast einem Jahr in dem Krankenhaus, sie mag ihren Job. Sie weist Gäste in die Parkbuchten und kontrolliert die Flure, eine Pistole im Holster und ihren Ausweis an der Brust, der sie als Sicherheitsbeamtin auszeichnet. Sie ist froh über die vergleichsweise leichte Aufgabe. Benassi hatte vor Kurzem einen Fahrradunfall, ihr Kopf ist oft immer noch neblig und schwer. Benassi eilt ins Büro, um neue Parkscheine zu holen. Als sie den Raum betritt, läutet das Telefon.
Am Apparat ist eine Frau, die Benassi nicht kennt.
»Ich möchte Sie auf etwas aufmerksam machen«, sagt die Unbekannte, so wird sich Benassi später erinnern. »Ihr Name fliegt im Internet herum. Es hat etwas damit zu tun, dass Sie in Wuhan waren.«
In Maatje Benassis Leben gibt es wenig Auffälligkeiten. Die 55-Jährige hat einen Ehemann – Matthew – und zwei erwachsene Kinder. Sie lebt in einem Backsteinhaus in einem hübschen Vorort im Osten der USA. Bevor Benassi Sicherheitsfrau in dem Krankenhaus wurde, war sie Fahrerin für das amerikanische Militär. Sie transportierte Lebensmittel durch den Irak und brachte Generäle in Deutschland zu ihren Terminen, was aufregend klingt, aber in Wahrheit wenig anders ist als der Job eines Lastwagenfahrers. In ihrer Freizeit trainiert Benassi auf ihrem Rennrad, sie hat Talent. Sie nimmt an Landesmeisterschaften teil, und manchmal gewinnt sie.
»Aber ich bin keine Topathletin«, sagt die zweifache Mutter. »Ich bin völlig durchschnittlich. Eine ganz normale Person.«
Wenn Benassi von ihrem Leben erzählt, sticht ein Wort heraus: Wuhan. Benassi hat den Ort einmal besucht. Im Oktober 2019 finden dort die Military World Games statt, eine Art Olympische Spiele für Menschen, die beim Militär angestellt sind. Das Krankenhaus, in dem Maatje Benassi arbeitet, wird von der US-Armee betrieben, deshalb darf sie als Teil der Radrennstaffel antreten. Zwischen den Wettkämpfen schlendert sie über chinesische Märkte und kauft ein Teeservice als Souvenir. Nach rund zwei Wochen fliegt sie zurück in die USA. Bis auf einen Sturz auf den letzten Kilometern ihres Rennens, der sie mit einer gebrochenen Rippe und einer Gehirnerschütterung zurücklässt, geschiehtnichts Ungewöhnliches. Eine Meisterschaft wie viele zuvor.
Covid-Patient in Hongkong im Januar 2020: Dem Sinnlosen einen vermeintlichen Sinn geben
Lam Yik Fei / The New York Times / Redux / laif
Wuhan ist damals noch eine unbekannte chinesische Stadt und Maatje Benassi eine unbekannte amerikanische Mutter. Bis zu jenem Anruf im März 2020.
Als Benassi in ihrem Büro den Hörer abnimmt, denkt sie erst an einen Scherz. Oder an Telemarketing: »Bestimmt will die Frau mir etwas verkaufen.« Aber dann stockt sie. Woher weiß die Unbekannte, dass sie in Wuhan war? Die Military World Games sind ruhmlos, bis auf einen Artikel in einer kleinen Zeitung, die das lokale Militär herausgibt, gibt es keinen Hinweis darauf, dass Benassi dort teilgenommen hat. Wieso interessiert eine fremde Frau sich für ein Radrennen, das Monate zurückliegt?
Mehr als ein Jahr lang hat Maatje Benassi überlegt, ob sie dem SPIEGEL von jenem Albtraum erzählen soll, der mit dem mysteriösen Anruf begann und der bis heute andauert. Doch Schweigen, das hat sie in den vergangenen zwei Jahren gelernt, beendet den Schrecken nicht. »Wenn ich rede, erfahren die Menschen wenigstens, wie es ist, für etwas verantwortlich gemacht zu werden, das du nicht getan hast«, sagt Benassi. Wie es sich anfühlt, plötzlich im Zentrum einer Verschwörungserzählung zu stehen, unverschuldet.
Die Frau, die Benassi im März 2020 in der Klinik anruft, klingt wirr. Sie spricht von Wuhan und von Corona, erwähnt ein YouTube-Video und einen Ex-Freund, der es aufgenommen habe. »Sie müssen sich das ansehen«, beteuert die Frau immer wieder. Maatje Benassi versteht kein Wort.
Mit dem Internet kennt sie sich damals kaum aus. Sie nutzt soziale Medien selten, auf YouTube klickt sie höchstens, um sich Videos von Rennrädern anzuschauen. Was kümmert sie irgendein Quatsch im Netz? Aber als Benassi auflegt, bleiben Fragezeichen. Wer war diese Frau? Was wollte sie?
Maatje Benassi: Ich habe meinen Mann angerufen und gesagt: Da war gerade ein komischer Anruf. Eine Frau erzählte irgendwas von Wuhan und von einem Video, in dem mein Name angeblich auftaucht. Kannst du dir das mal ansehen?
Zu jener Zeit geht das Coronavirus gerade um die Welt: Aus Wuhan in China verbreitet es sich nach Frankreich und Russland, nach Großbritannien und Südamerika. Auch in den USA steigt die Zahl der Erkrankten. Flüge werden gestrichen, Geschäfte geschlossen, um die Ansteckung zu mindern. Maatje Benassi weiß davon, sie hat es im Fernsehen gesehen, aber sie denkt sich nichts dabei. Klar, sie war auch in Wuhan, aber das liegt Monate zurück. Benassi sei danach nicht krank geworden, ebenso wenig ihre Teamkollegen. Die Nachrichten, glaubt sie, betreffen sie nicht.
Cyberopfer Benassi: Mit der Dienstwaffe im Anschlag
Greg Kahn / DER SPIEGEL
Matthew Benassi: Als meine Frau mir davon erzählte, dachte ich: so ein Blödsinn. Aber ich wollte sie beruhigen. Ich gab ihren Namen bei You-Tube ein – und da war dieses Video. Ein Mann stand vor einem Flipchart, darauf hatte er Maatjes Namen geschrieben. Der Typ sagte, Maatje arbeite für den Geheimdienst und sei deshalb in Wuhan gewesen. Er nannte sie »Patient Zero«, also den ersten Menschen, der je an Covid-19 erkrankte. Das Virus, behauptete er, sei nicht auf einem chinesischen Markt entstanden, sondern in einem US-Labor. Und Maatje habe es verbreitet.
Noch heute müssen die beiden grinsen, wenn sie von dem Moment erzählen, als sie das erste Mal von dem Verschwörungsmythos hörten. Maatje Benassi – eine Geheimagentin? »So ein Bullshit«, sagt Benassi kopfschüttelnd. Sie hat Kaffee gekocht, die Hauskatze streicht um ihre Beine. In den Regalen in ihrem Eigenheim stehen Hochzeitsbilder und Fotos der beiden Kinder. Daneben Miniaturwindmühlen, Erinnerungen an die Niederlande, Maatjes Heimat – von dort zog sie als junge Frau in die USA. Die Benassis sind ein
»Was, wenn jemand beschließt, mir etwas anzutun?«
Mittelschichtsehepaar: Sie arbeiten beide für das US-Militär – sie als Sicherheitsfrau, er als Angestellter für die Luftwaffe im Pentagon –, aber nichts an ihren Tätigkeiten sei konspirativ. Eines der Wörter, die sie während des Interviews am häufigsten benutzen, ist »normal«.
Alles Tarnung, unterstellt im März 2020 der Blogger auf YouTube. Die Benassis seien keine gewöhnlichen Bürger, sondern Geheimagenten. Maatje Benassi habe sich in einem US-Labor mit dem Coronavirus angesteckt und es dann nach China gebracht. »Daran gibt es keinen Zweifel«, fabuliert der Mann in dem Video, das er im März 2020 online stellt. Er nennt sich selbst einen »Investigativjournalisten« – der
SPIEGEL hat sich entschieden, seinen Namen nicht zu nennen, um ihm keine Bühne zu bieten.
Jeden Tag werden im Internet unzählige Verschwörungsmythen geboren. Ist der US-Präsident in Wahrheit ein Echsenmensch? Stammen die Kondensstreifen am Himmel von Biowaffen? Einige Theorien sind so absurd, dass sie sofort in den Tiefen des Netzes versickern. Doch manche verfangen und verbreiten sich weiter. Besonders häufig passiert das in den Anfangswochen von Covid-19.
Das Virus greift tief in den Alltag von Milliarden Menschen auf der ganzen Welt ein. Lufträume werden geschlossen, Existenzen zerbrechen, ganze Staaten schotten sich ab. All das geschieht wegen eines Erregers, für dessen Herkunft es keine Erklärung zu geben scheint. Warum jetzt? Warum gerade in China? Menschen sehnen sich danach, dem Sinnlosen einen Sinn zu geben. Als bei YouTube das Video über die angebliche US-Agentin auftaucht, die das Virus nach China geschleust haben soll, bekommt Corona nicht nur einen Ursprung. Plötzlich gibt es auch eine vermeintlich Schuldige: Maatje Benassi.
Matthew Benassi: Als ich das Video sah, dachte ich: Das ist nicht gut. Aber ich hatte keine Ahnung, was ich dagegen tun sollte. Bevor das alles passierte, hatte ich vier Freunde bei Facebook. Twitter habe ich noch nie benutzt. Ich wusste nicht, wie man ein Video bei YouTube löschen lässt. Also starrte ich das ganze Wochenende auf mein Handy und sah zu, wie der Clip immer mehr Klicks bekam. Erst 100 000. Dann 200 000. Dann eine halbe Million.
Matthew Benassi studiert tagelang das Kleingedruckte von You-Tube. Mithilfe seiner damals 20-jäh-rigen Tochter meldet er das Verschwörungsvideo schließlich bei dem Konzern. Eine automatisierte Nachricht verspricht dem heute 56-Jährigen, den Clip zu prüfen. Nach einigen Tagen löscht YouTube das Video.
Doch der Blogger macht einfach weiter. Fast täglich berichtet er seinen rund 100 000 Followern von neuen »Enthüllungen« über Maatje Benassi und ihre Familie. Mal will er Verbindungen zur Nato entdeckt haben, mal zur WHO. In seinen Videos erzählt er von Biolaboren, falschen Identitäten und iranischen Staatsbeamten, die durch das Coronavirus sterben würden. Er wittert eine gigantische Verschwörung. Im Zentrum: Maatje Benassi.
Tausende Sportler nahmen an den Military World Games teil – warum wählte der Mann für seine krude Theorie ausgerechnet sie? Die Benassis vermuten, dass der Artikel in der kleinen Zeitung des Militärs der Auslöser war. Darin steht nicht nur, dass Maatje Benassi an dem Radrennen in Wuhan teilnahm, sondern auch, wie sie in der letzten Runde stürzte. Aus dem anschließenden Arztbesuch wurde im Netz ein vermeintlicher Beleg dafür, dass Benassi schon während des Rennens an Corona erkrankt gewesen sei. Benassi nennt das Unsinn: Ihr Teamarzt habe sie ausschließlich wegen des Sturzes behandelt.
Maatje Benassi: Zuerst dachte ich: Wer soll so einen Quatsch glauben? Aber dann fing ich an, komische Nachrichten zu bekommen.
Benassis Facebook-Account, den sie sonst kaum nutzt, quillt bald über vor Freundschaftsanfragen. Sie bekommt vulgäre Nachrichten: »Schlampe«, »Danke für das Virus, Motherfucker«. Menschen aus allen Teilen der Welt wollen wissen: Stimmt es, dass sie schuld an der Pandemie sei?
Zuerst ignoriert Benassi die Fragen und die Fremden, die sich in ihr Leben drängen. Doch es werden immer mehr. Sie sieht sich noch einmal die Videos an, die der Blogger über sie erstellt hat, und liest die Kommentare unter den Clips. Dort fordern Menschen ihren Tod: Ein Mann findet, Benassi habe »eine Kugel in ihren Schädel verdient«. Ein anderer verlangt, sie solle gehängt werden.
Maatje Benassi: Das war der Moment, in dem ich Angst bekam. Wer weiß, wozu diese Leute fähig sind? Was, wenn irgendein Psychopath sich eine Waffe nimmt und beschließt, mir etwas anzutun, weil er glaubt, ich hätte Corona in die Welt gesetzt?
Flaggenträger beim Abschluss der Military World Games in Wuhan im Oktober 2019: Eine Meisterschaft wie viele zuvor
Photoshot / picture alliance
»Ich hoffe, dass meine Geschichte dazu beiträgt, dass Menschen mehr darüber nachdenken, was sie im Netz teilen.«
Maatje Benassi
Maatje Benassi wirkt, als könnte ihr wenig etwas anhaben: Sie hat die Härte von jemandem, der bei Wind und Wetter Hunderte Kilometer mit dem Rad zurücklegt. Doch wenn sie heute von jenen Tagen erzählt, schluchzt sie, ihre Stimme bebt. Auch zwei Jahre später fällt es ihr schwer, die Todesangst zu beschreiben, die sie damals befällt.
Bevor sie ins Auto steigt, erzählt Benassi, schaue sie nun unter ihren Wagen: Sie will sichergehen, dass dort kein Sprengsatz klebt. Wenn sie die Straße entlanggeht, blickt sie sich nervös um. Einmal führt sie ihren Hund aus, als plötzlich ein Mann im Dunkeln auftaucht: Sie stehen sich direkt gegenüber. Als der Fremde nicht zurückweicht, befällt Benassi Panik. Ohne nachzudenken, macht sie kehrt und sprintet nach Hause, wo sie sich hinter der Tür versteckt, ihre Dienstwaffe im Anschlag. Der Fremde verschwindet in der Dunkelheit. Wer er war, weiß sie bis heute nicht.
Matthew Benassi: Wir haben die Polizei gerufen, aber die sagten, sie könnten nichts tun. Die Drohungen gegen Maatje seien nicht konkret genug und außerdem anonym. Falls etwas passiere, sollten wir den Notruf wählen. Das war’s.
Während Benassi um ihr Leben fürchtet, ruft der YouTuber dazu auf, im Netz Informationen über sie zu suchen und zu teilen. Seine Anhänger starten eine regelrechte Hetzjagd: Jemand stellt die Adresse der Familie ins Netz, dann die von Matthew
Benassis Eltern. Ein Mob habe die Biografie des Paares durchleuchtet, seine Arbeitsorte und jeden Schnipsel, den es im Internet hinterlassen hat, veröffentlicht. Fotos von Benassis Radrennen werden geteilt, jemand erstellt ein Instagram- und Twitter-Profil unter ihrem Namen. Maatje Benassi erschrickt, als sie sieht, was ihr Alter Ego dort schreibt: »Ich bin es, der erste Patient, der Covid-19 hatte und die wunderschöne Stadt Wuhan ruinierte.«
Sobald Benassi ihr Handy in die Hand nimmt, sieht sie Beschimpfungen und Drohungen. Die absurde Theorie, sie habe das Coronavirus entfesselt, dringt schnell bis nach China durch. Eine staatsnahe Zeitung greift auf, was der Verschwörungstheoretiker auf YouTube erzählt, und fordert, Benassis Krankenakte zu veröffentlichen. Einer der größten Fernsehsender produziert einen »Enthüllungsbeitrag« über Benassis angebliche Verstrickung in die Pandemie. Ihr Foto und ihr Name werden eingeblendet, alte Trainingsvideos mit schauriger Musik unterlegt. Der Film wird einem CNN-Bericht zufolge millionenfach angesehen.
Matthew Benassi: Wir haben Anwälte angerufen und gefragt: Wie kriegen wir diesen Quatsch aus der Welt? Man sagte uns: gar nicht.
Dass einzelne Menschen mit einem Klick Millionen erreichen, ist historisch einmalig. Das Internet hat Weltwissen gesammelt und Diktatoren ge-stürzt – aber es hat auch Leuten wie dem Blogger ein Megafon gegeben, das sich schwer abstellen lässt. Eine Klage wegen Verleumdung kann sich über Jahre hinziehen und Hunderttausende Dollar kosten: Anwaltskosten werden in den USA nicht erstattet, selbst wenn man den Prozess gewinnt. Juristen, die die Benassis kontaktieren, raten deshalb: Halten Sie still. Irgendwann werde der Mann schon aufhören und das Gerücht verschwinden.
Maatje Benassi: Wie soll ich stillhalten, wenn ich bedroht werde? Wenn die halbe Welt mein Gesicht und meinen Namen kennt? Sogar Kollegen fragten mich: Stimmt es, dass du der erste Mensch auf der Welt warst, der an Covid-19 erkrankte? Dabei ist das alles eine Erfindung!
Für Menschen, die im Netz diffamiert werden, gibt es oft nur eine Möglichkeit, sich zu wehren: Sie müssen die Lügen bei den Internetplattformen melden. Die meisten Techkonzerne haben dafür Richtlinien. Es ist erlaubt zu behaupten, die Welt sei eine Scheibe – aber wer zum Beispiel Unsinn über das Coronavirus verbreitet, wird verbannt. So kann man Falschbehauptungen zwar nicht ganz aus dem Internet löschen. Aber man kann das Megafon derer, die sie verbreiten, leiser drehen.
Doch das dauert. Und es ist mühsam. Ein Nutzer, der bei YouTube rausfliegt, kann immer noch bei Twitter hetzen. Amazon verkauft weiter Bücher von Menschen, die Facebook geblockt hat. Der Kampf gegen Onlinemobbing ähnelt dem Jahrmarktspiel, bei dem man einen Maulwurf mit dem Hammer treffen muss, wenn er aus einem Hügel hüpft. Kaum glaubt man, ihn erwischt zu haben, taucht er aus einem anderen Loch wieder auf.
Matthew Benassi: Und der Typ, der schuld an alldem war, erzählte seinen Blödsinn immer weiter. Und er verdiente damit auch noch Geld. Anzeigen auf YouTube, Spenden über Patreon (eine amerikanische Crowdfunding-Plattform –Red.), wo er sich dafür bezahlen ließ, dass er Lügen über uns verbreitete. Ich konnte das nicht akzeptieren.
Matthew Benassi hat die zurückhaltende Art eines Buchhalters: Er spricht leise und strukturiert, bemüht sich um Chronologie und Verständlichkeit. Seine Frau Maatje erwägt in verzweifelten Momenten, ihren Peiniger mit einem Baseballschläger zu besuchen. Matthew Benassi entscheidet sich für eine andere Art des Nahkampfs.
Bald setzt er sich jeden Abend nach der Arbeit an den Computer. Während vor seinem Fenster die Nachbarn ihre Hunde Gassi führen und sich Dunkelheit über die Wohnsiedlung legt, durchsucht Matthew Benassi das Internet nach Falschbehauptungen über seine Frau. Immer wieder gibt er bei Google Maatjes Namen ein und folgt ihm wie einer Fährte. Wo behauptet jemand fälschlicherweise, seine Frau sei eine US-Agentin? Wo gibt ihr jemand die Schuld an der Pandemie?
Matthew Benassi konzentriert sich zunächst auf Websites, die viele Nutzer haben, aber auch strenge Richtlinien. Auf YouTube sichtet er Hunderte Videos, in denen Maatje erwähnt wird. Er erstellt Screenshots, notiert Zeitstempel – und meldet dem Konzern jeden einzelnen Clip. Ähnlich geht er bei Twitter vor, dort durchforstet Matthew Benassi nach eigenen Angaben Tausende Tweets. Wie ein Detektiv vermerkt er jeden Verstoß und jede Meldung. Er speichert sie in einem Ordner auf seinem Desktop, er nennt ihn »Conspiracy«, Verschwörung. Am Ende fasst die Mappe rund 1000 Dateien.
Matthew Benassi: Anfangs reagierten die Plattformen nur langsam: Es dauerte oft Tage oder sogar Wochen, bis die Lügen verschwanden. Manchmal bekam ich auch gar keine Antwort, und es passierte nichts. Also beschlossen wir, noch mehr in die Offensive zu gehen.
Im April 2020 spricht ein CNN-Reporter die Benassis an und fragt, ob sie bereit wären, vor der Kamera ihre Geschichte zu erzählen. Der Journalist kennt den Verschwörungsideologen, der das Paar belästigt, seit Jahren. 2017 behauptete der YouTuber in einem Video, eine Bombe sei auf dem Weg zu einem Hafen in den USA. Teile des Betriebs wurden daraufhin evakuiert, der Hafen wurde lahmgelegt. Der Sprengstoff war erfunden. Der finanzielle Schaden durch die Schließung dagegen real.
Maatje Benassi: Ich war nicht sicher, ob das Interview eine gute Idee war: noch mehr Menschen, die mich kennen, noch mehr Aufmerksamkeit. Aber ich hoffte, dass mich die Öffentlichkeit auch schützt. Also habe ich zugesagt.
Ehepaar Benassi in Virginia . Hass- und Unterstützerbriefe an die Familie
Das Gespräch mit den Benassis wird im April 2020 bei CNN ausgestrahlt. Danach meldet sich ein US-Senator bei der Familie und bietet Unterstützung an. Sein Team habe Druck auf die Techkonzerne ausgeübt, erzählen die Benassis: Plötzlich seien Falschbehauptungen über sie schneller gelöscht worden. Sicherheitsbeamte begehen das Haus der Familie. »Wir bekamen zwar keinen Personenschutz«, sagt Matthew Benassi. »Aber zumindest wusste die Polizei jetzt, dass wir keine Spinner waren, sondern schnell Hilfe brauchten, falls wir sie riefen.«
Durch das Interview kommen die Benassis auch in Kontakt mit HONR, einem Netzwerk, das Verschwörungsopfern in den USA hilft. Gegründet hat es Lenny Pozner, ein Familienvater, dessen Sohn Noah 2012 bei einem Amoklauf an der Sandy-Hook-Grundschule in Connecticut starb. Mitten in die Trauer der Eltern hinein behauptete der rechtsradikale Moderator Alex Jones, es habe den Anschlag nie gegeben: Er sei eine Erfindung der US-Regierung, die einen Vorwand gebraucht habe, um das Waffenrecht zu verschärfen. Lenny Pozner wurde von Anhängern des Hasspredigers bedroht. Erst im Herbst 2021, fast zehn Jahre nach dem Amoklauf, gewann Pozner einen Prozess gegen Jones. Ein Gericht verurteilte den Verschwörungsideologen kürzlich zu fast einer Milliarde Dollar Schadensersatz. Die Lüge, der Amoklauf von Sandy Hook sei eine Erfindung, hält sich trotzdem bis heute.
HONR hat Kontakt zu vielen Internetfirmen, Lenny Pozner ist gut vernetzt. Mit seiner Hilfe seien viele der Videos über Maatje aus dem Internet verschwunden. Und wenn neue nachkamen, habe YouTube sie nun schneller gelöscht.
Matthew Benassi: Ich hätte sagen können, das war’s, meine Arbeit ist getan. Den Rest wird die Zeit richten. Aber ich wollte nicht nur, dass der Verschwörungstheoretiker, der das alles angerichtet hatte, Maatje in Ruhe ließ. Er sollte auch niemand anders mehr Schaden zufügen können.
Matthew Benassi verbringt fast die komplette Pandemie vor seinem Computer. Während andere Menschen ihre Garage renovieren oder lernen, Sauerteigbrot zu backen, wird er zum Experten für Internetrecht. Er bestellt die Verschwörungsbücher, die der Belästiger seiner Frau geschrieben hat. Schaut seine Videos an und scannt jeden seiner Tweets. Sobald der Mann etwas Falsches behauptet, drückt Matthew Benassi einen Button: Nutzer melden. Seine Erfolge hat er säuberlich notiert:
Juni 2020: YouTube sperrt den Verschwörungstheoretiker; August 2020: Der Kurz-nachrichtendienst Parler blockt den Mann; Februar 2021: Die Spendenplattform Patreon löscht seinen Account; Juni 2021: Amazon bietet die Bücher des Bloggers nicht mehr an.
Immer wieder erstellt der Blogger neue Profile – und immer wieder lässt Matthew Benassi sie löschen. Mit jedem Klick, jeder Meldung wird das Megafon des Mannes leiser, bis es schließlich fast nicht mehr zu hören ist.
Matthew Benassi: Wir haben ihn überall abgeschaltet. Er konnte keine Videos mehr hochladen, keine Bücher mehr verkaufen, keine Spenden sammeln. Irgendwann war klar: Er kann keinen Schaden mehr anrichten, weil er keine Plattform mehr dafür hat.
Doch es gibt Schäden, die lassen sich nicht melden, und Verletzungen, die niemand löschen kann. Die Falschbehauptung, Maatje Benassi habe die Pandemie ausgelöst, schwirrt noch immer im Netz herum: In den Winkeln des Internets mutmaßen Menschen weiter über ihre vermeintlichen Verbindungen zur WHO und zum US-Geheimdienst. Wenn in China die Fallzahlen steigen oder irgendwo auf der Welt eine neue Virusvariante auftaucht, leuchtet Benassis Handy auf. Auf ihrem Bildschirm erscheinen dann wieder Nachrichten, in denen Fremde drohen, sie, die angebliche Spionin, werde »schon noch bekommen, was sie verdient«.
Wenn Maatje Benassi heute, fast drei Jahre nach Ausbruch der Pandemie, die Straße entlanggeht, schaut sie noch immer ängstlich über ihre Schulter. Trifft sie Fremde, erfasst sie Panik: »Was denken die Leute von mir?« Benassi hat ihren Job im Krankenhaus inzwischen gekündigt: Zu groß ist die Sorge, dass ein Spinner ihr oder ihren Kollegen auflauern könnte. »Solange das Virus existiert, wird es auch Menschen geben, die glauben, ich hätte es verursacht«, sagt sie.
Dass sie dem SPIEGEL ein Interview gibt, hat einen Grund: Sie will warnen. Ein Gerücht im Netz kann zu einem Sturm der Lügen anschwellen, der das ganze Leben eines Menschen durcheinanderwirbelt. Aus digitalem Hass wird manchmal analoge Gewalt.
Maatje Benassi: Ich hoffe, dass meine Geschichte dazu beiträgt, dass Menschen mehr darüber nachdenken, was sie im Netz teilen. Und was sie anrichten, wenn sie solche Lügen glauben. Ich bin keine US-Agentin oder sonst irgendwas. Ich bin eine ganz normale Person.
Ihr Mann Matthew kämpft inzwischen dafür, das US-Recht zu reformieren, damit You-Tube und andere große Plattformen verleumderische Inhalte schneller löschen müssen. Auf seinem Schreibtisch liegen heute, mehr als zweieinhalb Jahre nachdem die Lüge über seine Frau in die Welt kam, noch immer Bücher darüber, wie man Stalker bekämpft und Hassverbrechen im Netz verhindert.
Maatje Benassi dagegen will den Albtraum einfach vergessen. »Ich möchte nur noch Fahrrad fahren«, sagt sie. »Das ist alles, was ich im Leben brauche.«