Mehr als 10 000 Bundesbürger kamen am Samstag nach Berlin, um gegen die Regierung zu demonstrieren

Energiekrise, Inflation und Angst vor Krieg treiben die Menschen in Berlin auf die Strasse. Es kamen mehr als doppelt so viele als angemeldet – darunter solche, die politisch eigentlich ganz anders ticken. Die Touristen in der Reichstagskuppel haben den besten Blick auf die Szenerie.Mehr als 10 000 Menschen sind am frühen Samstagnachmittag von dort oben zu sehen, wie sie auf der Wiese vor dem Reichstag Deutschlandfahnen und die blauen Transparente der AfD hochhalten. Diese hatte zur Demonstration aufgerufen – aber nur 4000 Teilnehmer angemeldet. Es gibt ein spürbares Wutpotenzial, auch wenn es auf der Wiese recht gesittet zugeht. Die Redner sparen nicht mit Angriffen auf die Bundesregierung.

Und, besonders nicht mit Angriffen auf die grünen Minister Robert Habeck und Annalena Baerbock, die Deutschlands Wirtschaft zerstören würden. Baerbock wird von dem AfD-Abgeordneten Martin Reichardt sogar als «Sprechpuppe der Globalisten» diffamiert – das ist blanker Antisemitismus.

Gegen 15 Uhr soll der Demonstrationszug durch die Innenstadt beginnen. Erst wird noch die Nationalhymne gesungen. Bei «deutsches Vaterland» kommt sage und schreibe die Sonne raus. Dann setzt sich der Zug in Bewegung. Antifa-Gruppen und weitere Initiativen «gegen rechts» versuchen, die AfD möglichst zu behindern. Der Polizei gelingt es jedoch, die Gruppen in Seh- und Hörweite voneinander, aber doch getrennt zu lassen. Am Morgen hatte die Polizei getwittert: «Wir schützen heute 13 Demos in der City mit bis zu 1900 Einsatzkräften.»

Von dem Umzugswagen sind Tonband-Einspieler zu hören, Parteichefin Alice Weidel spricht, kurioserweise ist auch die Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht zu hören. Ob sie das weiss?

Die AfD hatte bundesweit für die Demo mobilisiert, es wurden Busse eingesetzt, die aus ganz Deutschland Teilnehmer nach Berlin brachten. Zum Beispiel Stephan Raasch und seine Frau. Sie sind aus Erfurt gekommen. Sie seien keine AfD-Mitglieder, aber man müsse jetzt einfach mal protestieren, sagen beide. Diese Regierung mache das Land kaputt.

Der 61-Jährige hat eine kleine Firma, die Software für Handwerker anbietet, damit diese es zum Beispiel bei der Angebotserstellung leichter haben. «Ich sehe, wie meine Kunden zu kämpfen haben», sagt Raasch. «Material kommt nicht, und wenn sie dem Kunden schon ein Angebot gemacht haben, können sie es nicht halten.» Die Betriebe gerieten zusehends in Bedrängnis.

Angst und Wut herrschen vor

Drei Männer aus Bayern bestätigen das. Auch sie sind mit dem Bus gekommen, aus Weiden in der Oberpfalz. Alle drei arbeiten im Heizungsbau. «Die Energiekosten müssen runter», berichtet der eine, ein 30-Jähriger. Es könne sonst bald nichts mehr produziert werden. Wenn er ein Angebot schreibe, so werde es von Woche zu Woche teurer. Auf Lieferung von Heizungen warte man ewig. Er hat AfD gewählt, Raasch nicht. Er komme eigentlich von der CDU, sagt Raasch, aber das Mass sei nun voll.

Hauptmotive der Demonstranten: Unzufriedenheit, Wut und Angst

Das Motto der Demo ist «Energiesicherheit und Schutz vor Inflation – unser Land zuerst». Das Thema Migration kommt nur in Anklängen vor. «Die Regierung will die Welt retten, vergisst dabei aber die eigenen Bürger», sagt etwa Andrea Schulze. Sie arbeite seit 40 Jahren Vollzeit und werde 1200 Euro Rente bekommen. «Wenn ich daran denke, dann wird mir schlecht.»

Schaut man sich unter den Demonstranten um, so lässt sich nichts Besonderes feststellen: Überwiegend Durchschnittsbürger sind hier anzutreffen. Manchen steht die Bitternis ins Gesicht geschrieben. Viele sind so sauer auf den Staat, dass sie ihm nichts Gutes zutrauen.

«Ich wurde noch nie so schlecht regiert»

Zum Beispiel an der Absperrung. Wer vom Brandenburger Tor Richtung Reichstag will, zum Anfangs- und Endpunkt der AfD-Demo, der muss kurz warten, bis die Polizei ihn durchlässt. Einige fühlen sich davon behindert und beginnen zu schimpfen. «Die kapieren gar nicht, dass wir ihre Demo schützen», sagt ein Polizist leicht verzweifelt. Man müsse die Leute ein wenig sortieren, denn sonst würden nachher die Gegendemonstranten die Route der Rechten blockieren. So war es vor einem Monat in Leipzig. Auf die Idee, dass die Polizei ihnen zu ihrem Recht verhilft, kommen auf beiden Seiten der Demo viele nicht. Zwei Teilnehmer, die den Hitlergruss gezeigt haben, werden sofort rausgezogen zur Personalienfeststellung.

«Warum holt die Bundesregierung diese Menschen mit ihren Sorgen nicht ab?», fragt ein Demonstrationsteilnehmer. Schwer zu sagen. Nicht auszuschliessen, dass sich hier etwas zusammenbraut, weil die Krise viele Menschen in ihrer Existenz trifft. Sie haben Angst und fühlen sich ohne Lobby. Am Sonntag wählt Niedersachsen einen neuen Landtag. Ob die Wahlergebnisse einen Einbruch bei den Grünen zeigen werden?

Die Themen wiederholen sich, egal, wen man fragt

Energiekrise, Inflation, die Wirtschaft, der Krieg. «Ich wurde noch nie so schlecht regiert!», ruft die 66-jährige Petra I. aus Berlin. 46 Jahre habe sie gearbeitet und zwei Ausbildungen abgeschlossen. «Damit bin ich besser ausgebildet als die meisten Grünen im Bundestag», sagt sie und lacht. Sie ist mit ihrer Schwester zur Demo gekommen, weil sich etwas ändern müsse. Hat sie die AfD gewählt? Die Schwester stöhnt auf: «Ich habe die Grünen gewählt.»

Okt. 2022 | Allgemein, Essay, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude | Kommentieren