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Ein Technikerverlegt ein Unterwasserkabel
Alles an uns ist Wasser. Es mag sich nicht sofort erschließen, aber selbst der Text, den Sie gerade lesen, hat einen Großteil seiner Reise in den dunkelsten Tiefen des Ozeans zurückgelegt. Entstanden ist er natürlich in meinem recht chaotischen Hirn, das selbst eine Menge Wasser braucht, um gut zu funktionieren.
(Das menschliche Gehirn besteht zu achtzig Prozent aus Wasser.) Der Text saust durch meine Rückenmarkflüssigkeit und wird durch meine Finger, über die Tastatur, über die Leiterplatten in eine Reihe elektrischer Impulse verwandelt –
und geht weiter in einer Abfolge von Einsen und Nullen, durch einen schwarzen Kasten an der Rückseite meines Wohnhauses, geht weiter azf bunten, regennassen Straßen, in Lichtbündeln, die Milliarden Mal pro Sekunde pulsieren, bis er irgendwo am Strand im Meer verschwindet, in einer Glasfaserröhre auf dem dunklen, geheimnisvollen Meeresboden bis zu einer Station in Deutschland reist und schließlich – über andere wasserhaltige Gehirne – in die hoffentlich aufnahmebereiten Tiefen Ihres Kopfes gelangt. Für den Weg von New York nach Deutschland braucht er nur den Bruchteil eines Sekundenbruchteils. Wir stellen uns gern vor, dass die Datenclouds, die unsere Welt regieren, irgendwo am Himmel schweben. Aber die Welt ist nicht so unverkabelt, wie wir denken, und nur sehr wenige Daten werden per Satellit übermittelt, weil das zu langsam und zu teuer ist. Die Clouds wohnen im Meer.
Der betriebsamste Ort der Welt
Der Meeresboden ist der Ort, wo Liebe inspiriert und Hass pulsiert. Dort treffen Sehnsucht, Verzweiflung, Eifersucht, Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit aufeinander. Dort wird gelacht. Dort stürzen Vermögen ab. Dort stoßen Fragen auf Fragen, laufen endlos Pornos, florieren Betrügereien, beginnen Revolutionen, werden Dummheiten ausgeheckt.
Tatsächlich könnte der dunkle Meeresboden der betriebsamste Ort der Welt sein. Praktisch alle unsere interkontinentalen Informationen, mehr als neunundneunzig Prozent, werden auf dem Boden unserer vermeintlich stillen Ozeane übertragen. Forscher des Massachusetts Institute of Technology haben errechnet, dass ein einziges Faserpaar in einem Seekabel mehr Signale übermitteln kann als viertausend Satelliten in Elon Musks Starlink-System.
Diese Daten reisen in Kabeln, nicht dicker als ein Gartenschlauch, in pechschwarzer Tiefe, durch die Kälte und Finsternis jener unermesslichen Weite, von der wir, trotz allen technischen Fortschritts, nicht viel wissen – unsere Ozeane.
E-Mails sind – eigentlich – SeaMails.
Wir leben in erregten Zeiten. Die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein. Das hat nicht nur mit den Nachwirkungen der Pandemie zu tun, sondern auch damit, dass die Welt an zunehmender Selbstgewissheit erkrankt ist. Wir sind alle von unserer eigenen Wahrheit überzeugt. Komm rein, wenn du so sprichst wie ich. Komm rein, wenn du so aussiehst wie ich. Komm rein, wenn du politisch so denkst wie ich. Ansonsten bleib draußen. Lass mich in Ruhe.
Zersplitterte Verhältnisse.
Aktuell sind weltweit 426 Unterwasserkabel in Betrieb, insgesamt 1,3 Millionen Kilometer. Ein funktionierendes Kabel ist einfach ein Kabel. Aber was, wenn ein Unterwasserkabel nicht mehr funktioniert? Wenn es reißt oder durch Brand oder sonst wie beschädigt wird? Das kann eine elektrische Störung oder eine Abnutzungserscheinung sein. Oder eine Strömungsverlagerung. Oder ein Unterwasservulkan. Oder ein Erdbeben. Oder ein Suspensionsstrom, verursacht durch einen Taifun.
Das Internet repariert sich selbst
Meist ist es ein normaler Fischtrawler, der unbeabsichtigt einen unerwartet großen Fisch fängt. Das Kabel ist ruiniert – und Ihr Tag vielleicht auch, wenn nicht Ihr Leben. (Vergessen wir nicht, dass die gesamte Weltwirtschaft von unseren digitalen Kontakten abhängt. Nanosekunden sind das neue Maß im Aktienhandel: Wenn die Übertragungsgeschwindigkeit eines Kabels nachlässt, betrifft das auch viele andere Dinge, nicht zuletzt Ihr Handy oder den Computer Ihres Krankenhauses.)
Das Internet repariert sich selbst – wenn ein Kabel beschädigt ist, wird der Datenverkehr auf andere Kabel umgeleitet, aber eine Serie von Kabelschäden, ob versehentlich oder nicht, kann enorme Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben.
Jedes System, sogar das resilienteste und selbstheilungsfähigste, hat eine Schwachstelle. Regierungen und Unternehmen wissen, dass ein massiver Angriff auf das Internet – eine brutale, organisierte Form von asymmetrischem Krieg – das Herz eines jeden Landes treffen kann. Erschreckend ist, dass dies für entsprechend vernebelte Köpfe ganz einfach wäre.
Unterwasserkabel treffen an unmarkierten Stellen auf Festland. Diese Orte sind nicht geheim. Oft sehen sie wie Wohnhäuser oder Lagerhallen aus. Die Schächte am Strand, über die man zu den Kabeln gelangt, sind leicht zu finden. Sicherheitsvorkehrungen gibt es an diesen Orten praktisch nicht.
Wasser verbindet uns
Das Horrorszenario sieht so aus, dass mehrere Angriffe auf Unterwasserkabel zur gleichen Zeit alles lahmlegen könnten, vor allem in Staaten, die auf funktionierende Verbindungen angewiesen sind. Ein weltweiter Angriff würde eine umfangreiche Koordination erfordern, und diese Gefahr ist keineswegs theoretischer Natur. Der gesamte afrikanische Kontinent etwa könnte in Internetfinsternis versinken, sollten gleichzeitig an der Ost- und Westküste mehrere Gangsterschiffe mit Enterhaken eingesetzt werden.
Und hier kommt – in diesen erregten Zeiten – der Begriff „Reparatur“ ins Spiel. Wenn Brüchigkeit das Kennzeichen unserer Zeit ist, dann steht Reparatur für Hoffnung.
Überall auf der Welt – in Singapur, New York, Kapstadt, Rotterdam – stehen Dutzende Kabelreparaturschiffe und Hunderte Männer und Frauen (überwiegend jedoch Männer) geduldig bereit, in Erwartung des Ernstfalls – ein Telefonanruf, der ein beschädigtes Kabel meldet. Wenn die Beschädigung unweit des Festlands passiert, ist es einfacher. Taucher können eingesetzt und das Kabel kann manchmal binnen Tagen repariert werden. Weiter draußen, in größerer Tiefe, kommen ferngesteuerte Unterwasserfahrzeuge zum Einsatz, die das Kabel an die Oberfläche holen, wo es dann repariert wird.
Die besungenen Feuerwehrleute der Meere
Hin und wieder geht ein Kabel aber so weit draußen und in so großer Tiefe kaputt, dass die Techniker das primitivste und älteste Werkzeug verwenden müssen – einen Greifhaken, der über den Meeresboden gezogen wird, um das Kabel zu finden und zur Reparatur hochzuholen.
Mitunter kann eine Reparatur Wochen, gar Monate dauern, wie es dem französischen Kabelleger-Schiff „Léon Thévenin“ im Jahr 2020 erging, als vor der kongolesisch-angolanischen Küste ein Kabel repariert werden musste.
Die Besatzungen dieser Schiffe sind die unbesungenen Feuerwehrleute der Meere.
Reparaturen sind nicht billig. Ein einsatzbereites Schiff kann zwischen fünfzig- und siebzigtausend Dollar pro Tag kosten. Für Unternehmen kann ein Kabelschaden aber noch viel teurer sein – selbst eine Verlangsamung der Übertragungsgeschwindigkeit kann den Ruin bedeuten.
Aber die Welt dreht sich weiter. Schlimme Dinge passieren – Kriege, Wirtschaftskatastrophen, Militärputsche, Pandemien. Und es braucht gute Dinge, ihnen entgegenzuwirken – Resilienz, Geduld, Weitsicht, Mitgefühl, Reparatur. All das wird von Wasser getragen. Wir sollten uns dessen bewusst sein, wir sollten es fürchten, wir sollten es schützen.
Apeirogon
- Übersetzt von: Volker Oldenburg
Der Spiegel-Bestseller «Apeirogon» ist der große Roman über Palästina – und Colum McCanns Meisterwerk.
Rami ist Israeli, Bassam Palästinenser. Sie stehen auf unterschiedlichen Seiten der Mauer. Und doch eint sie die Trauer: Denn beide Männer haben eine Tochter im Nahost-Konflikt verloren, Töchter, die Zeichen von erfüllter Liebe waren, bevor sie starben.
Jetzt kämpfen Rami und Bassam gemeinsam, für den Frieden … Colum McCann hat einen flammenden Aufruf zur Aussöhnung im Nahen Osten geschrieben, in Form eines großen, ebenso politischen wie poetischen Epos über den Palästina-Konflikt.
Ein kaleidoskopischer Text, der die zeitlose Frage stellt: Wie leben wir weiter, wenn das Liebste verloren ist? Und: Wie kann der Mensch Frieden finden? Mit sich selbst, mit anderen.
Der irische Schriftsteller Colum McCann („Transatlantik“) lebt in New York.
Zuletzt erschien der Roman „Apeirogon“ (Rowohlt Taschenbuch, 608 Seiten, 14 Euro).