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Und auch wenn kein anderer deutscher Intellektueller zeitlebens so viel öffentliche Kritik einstecken musste wie Habermas, konnte es so scheinen, als ob da etwas ins Wanken geraten wäre, was sich über Jahrzehnte als Erfolgsmodell eingespielt und bewährt hatte und keineswegs nicht nur ihn betraf.
Jetzt, wenige Monate später, hat Habermas einen im vergangenen Jahr erschienenen langen Aufsatz zusammen mit einem Interview und einem weiteren Essay noch einmal als schmales Buch veröffentlicht. Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik heißt der Band, der damit auf Habermas’ 1962 erschienene, bis heute berühmte Untersuchung zum Strukturwandel der Öffentlichkeit anspielt; in dieser Habilitationsschrift hatte der junge Philosoph damals die Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert aus dem publizistischen Geist der Aufklärung rekonstruiert. Nach genau 60 Jahren nun also ein neues Buch, das diesen Titel abermals aufgreift, ein neuer Strukturwandel. Was hat sich seither getan?
Der neue Strukturwandel ist für Habermas die Folge einer diskursiven Entgrenzung. Während sich der alte Strukturwandel in Theatern, Museen, Konzerten und Bildungsvereinigungen, in einem kulturellen Leben vollzog, das sich vom adligen Hof emanzipierte, findet der neue Strukturwandel gegenwärtig auf digitalen Plattformen wie Instagram, Twitter und Facebook statt, die einen ungehinderten, daher auch ungefilterten Zugang zur öffentlichen Meinungsbildung ermöglichen. Alle potenziellen Nutzer können also jetzt auch selbstständige Autoren sein, ohne Türsteher kann jeder jederzeit dem Diskurs beitreten, ohne jede „redaktionelle Vormundschaft“.
Diese Öffnung hat einerseits ein emanzipatorisches Potenzial, bringt auf der anderen Seite jedoch laut Habermas auch eine große Gefahr mit sich: Sie befeuert die zentrifugalen Kräfte einer Gesellschaft und führt im schlimmsten Fall zu einer Zersplitterung, zur Erodierung ihrer demokratischen Öffentlichkeit. Konnte sich diese bisher in Leitmedien, in den Redaktionen, Verlagen und Lektoraten auf eine rational überprüfbare Weise ihrer selbst und ihrer eigenen qualitativen Standards vergewissern, haben sich die kommunikativen Spielregeln inzwischen geändert. Heute, so Habermas, bestimmten immer häufiger Filterblasen und Netzwerk-Communitys das diskursive Geschäft, in denen sich der Unterschied zwischen dem, was privat und öffentlich ist, auflöse – und damit eben auch der gemeinschaftliche „inklusive Sinn von Öffentlichkeit“.
Man muss diesen medialen Blickrichtungswechsel bei Habermas als theoriepolitisches Ereignis betrachten: Ebenjene Institutionen, die Massenmedien, die einst von den Granden der sogenannten Frankfurter Schule als Instrumente der Kulturindustrie einer schonungslosen Ideologiekritik unterzogen wurden, sollen nun plötzlich die letzten Bastionen sein, die eine demokratische Öffentlichkeit vor dem endgültigen Zerfall retten können. Fast scheint es, als hätte die von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer beschriebene Dialektik der Aufklärung dabei selbst ihr Vorzeichen gewechselt: Nicht die von den beiden immer befürchtete Herrschaft des Allgemeinen, des Austauschbaren, das alles Einzelne unterschiedslos unter sich zu begraben droht, lauert heute noch am Horizont der Gesellschaftstheorie. Im Gegenteil: Inzwischen ist es die Herrschaft des Besonderen und Singulären, die die Aufklärung in ein falsches Freiheitsversprechen zurückfallen lässt. Je fein ziselierter und individueller sich eine Gesellschaft gibt, desto schwerer wird es, über dem mehr oder minder berechtigten Selbstinteresse das Gemeinwohl nicht aus den Augen zu verlieren. An dieser Volte im Spätwerk des 93-Jährigen dürften künftige Nachfolger der Kritischen Theorie noch lange zu knabbern haben.
Wie fundamental die aufmerksamkeitsgetriebene Plattformisierung des demokratischen Streits eine Öffentlichkeit verändert, musste Habermas dann im Frühjahr am eigenen Leib erfahren, als er sich zum Krieg in der Ukraine äußerte. Und auch wenn das neue Buch ohne Bezug auf die russische Invasion auskommt, so erscheinen doch Habermas’ Einlassungen nach der Lektüre noch einmal in einem schärferen Licht. Denn der neue Strukturwandel hatte offensichtlich auch die Debatte um die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine, um die auch dieser Tage wieder heftig gestritten wird, längst ergriffen: Der öffentliche Meinungs- und Willensbildungsprozess vollzog sich zu einem erheblichen Teil über die sozialen Medien und rief dabei eben auch jene „wüsten Geräusche“ hervor, die Habermas in ihren zerstörerischen Auswirkungen auf die demokratische Öffentlichkeit zu beschreiben versucht.
Einmal mehr schlüpft Habermas also auch in diesem Band in eine seiner liebsten Rollen als Intellektueller: die des Mahners und Warners. Aber bei allem Kulturpessimismus, der im neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit immer wieder zutage tritt, setzt der Aufklärer Jürgen Habermas auch – wie vor 60 Jahren – jetzt wieder auf die Lernfähigkeit seiner Zeitgenossen. Denn so wie der Buchdruck einst alle zu potenziellen Lesern gemacht habe, habe die Digitalisierung heute alle zu potenziellen Autoren gemacht. Nur: Wie lange habe es damals gedauert, bis alle lesen gelernt hatten? Eben sehr lange. Man kann nur hoffen, dass jetzt das Schreibenlernen schneller gehen wird.
Jürgen Habermas: „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“.
Suhrkamp, Berlin 2022;
108 Seiten, 18,– €, als E-Book 15,99 €