Nach dem Tod von Michail Gorbatschow ist eine heftige Debatte über dessen historisches Vermächtnis entbrannt. Staatliche russische Medien werfen dem Verstorbenen vor, für den Niedergang der Sowjetunion verantwortlich gewesen zu sein. Andere Kommentatoren bedauern, dass die vom Friedensnobelpreisträger initiierten Chancen ungenutzt blieben.

LIBERTATEA (RO)

Kaum jemand wird zum Begräbnis anreisen

Der Schriftsteller Vasile Ernu trauert in Libertatea einer glanzvollen Zeit hinterher:

„Mit Sicherheit ist die ‚Perestroika-Ära‘ die letzte globale Epoche ‚alter politischer Titanen‘ – die Politik war von historischem Kaliber, sie war von Hoffnung und Sinn getragen, von Humanismus und menschlicher Solidarität. Aber sie wurde besiegt – und jetzt kommt die Revanche. Jetzt befinden wir uns in der Ära ‚politischer Zwerge‘, voller Ressentiments, revanchistisch, dumm, unfähig, zynisch, egoistisch und kleinlich. … Herrschte nicht Krieg, wären alle Anführer der Welt zu Gorbatschows Begräbnis angereist. Jetzt wissen wir nicht einmal, ob der aktuelle Kreml-Chef kommen wird. Wahrlich, eine Ära ist endgültig vorbei.“

Vasile Ernu
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RIA NOWOSTI (RU)

Er hat nur dem Westen genutzt

Russlands staatliche Agentur Ria Nowosti lässt (was Wunder – tno) kein gutes Haar an Gorbatschow:

„Er wollte den Zerfall unseres Landes nicht, aber niemand hat dem Land so viel Leid zugefügt wie dieser ungeschickte und unkluge Reformator. Die Folgen seiner katastrophalen Herrschaft löffeln wir bis heute aus und wir werden sie noch lange korrigieren müssen, zumindest die, die überhaupt korrigierbar sind. Doch der Westen hat von Gorbatschows Wirken profitiert, wenn auch nur für eine kurze historische Periode. Und jetzt nutzt der Westen noch Gorbatschows Tod als Anlass für einen Kampf um Russlands Zukunft. … Der Westen setzt auf eine neue Perestroika – dass Russland wieder Teil der ‚zivilisierten Welt‘ werden möchte und sich und seine Außenpolitik ändert.“

Pjotr Akopov
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FRANCE INTER (FR)

Aus der Wohngemeinschaft wurde nichts

Warum der Blick auf den letzten Staatschef der UdSSR im heutigen Russland und in den westlichen Ländern so gegensätzlich ist, erklärt Kolumnist Pierre Haski auf France Inter:

„Michail Gorbatschow hat sehr früh beschlossen, den früheren Sowjetblock sich emanzipieren zu lassen. Er hatte ein Vorhaben: das des ‚gemeinsamen europäischen Hauses‘, welches das Blockdenken überwinden sollte. Der Westen wollte davon nichts wissen, denn er war zu glücklich über das Ende des Kalten Kriegs und anschließend der UdSSR. Dieses Missverständnis oder den schlechten Tausch von 1991 werfen seine russischen Gegner Gorbatschow heute noch vor. Daher wird der Name Gorbatschow im Westen verehrt und in Russland verhöhnt. Sein Tod mitten im Ukraine-Krieg ist das letzte Symbol dafür.“

Pierre Haski
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Rolle von Einzelpersonen wird überbewertet

Politologe Karmo Tüür fragt sich in Eesti Päevaleht, wie sehr Gorbatschow eigentlich die Zügel in der Hand hatte:

„Michail Gorbatschow wurde während und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für die einen zum Symbol der Freiheit, für die anderen zum Symbol des Untergangs. Viele historische Prozesse werden reif, lange bevor ein Mensch die Führung übernimmt, der dann nachher zur Ikone wird. Die Sowjetunion in ihrer schreienden Ineffizienz befand sich schon lange in einer Spirale der Stagnation und des Untergangs. Die Freiheitsventile von Gorbatschow sollten die Maschine ölen, aber haben stattdessen Blut rausgelassen. Ist die Sowjetunion wirklich wegen Gorbatschow zusammengebrochen oder lediglich während dessen Amtszeit?“

Karmo Tüür
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THE IRISH TIMES (IE)

Das giftige Erbe seiner Vorgänger wirkt weiter

Die Wurzeln vieler Übel im heutigen Russland stammen aus der Zeit vor Gorbatschows Amtsführung, analysiert The Irish Times:

„Gorbatschow wird für alles verantwortlich gemacht, das nach ihm kam: Mangel, wirtschaftliches Chaos, der Aufstieg der Kleptokratie, die jetzt Russland regiert, die Remilitarisierung und das Wiederaufleben eines schikanösen großrussischen Nationalismus. … Doch all das war in Wahrheit das giftige Erbe von Gorbatschows Vorgängern. Dieses war so tief in der russischen Gesellschaft verankert, dass selbst seine Revolution es nicht abschütteln konnte. … Die großen Projekte Perestroika und Glasnost, Wiederaufbau und Öffnung, sollten dem Land Chancen zur Veränderung bieten, die es bitter nötig hatte. Chancen, die letztlich nicht genutzt wurden.“

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Sep. 2022 | In Arbeit | Kommentieren